Seit Wochen liegt der Fokus nun bereits auf der Frage, geht die CDU nun mit der AfD in eine Koalition oder nicht? Oben, wie nun erst wieder seitens Ministerprรคsidenten Michael Kretschmer (CDU), ruft es nein, nie und nimmermehr. Und unten in der CDU munkelts hier und da: nun ja, wenns dem Machterhalt dient, รผber kurz oder lang? Eine weitere Variante lautet stets, dass sich die Grรผnen wohl mit SPD und CDU in einer sicher knirschenden, aber irgendwie nรถtigen Koalition einfinden kรถnnten. Beiden Ideen sagen die Glaskugeln aktuell prozentuale Chancen voraus. Doch der Politikwechsel am 1. September in Sachsen kรถnnte durchaus Linke, Grรผne und die SPD lauten.
Die Stimmung ist frรถhlich und geradeheraus, die Musik im Hintergrund etwas zu laut und der Ort passend gewรคhlt. Denn zu ihrem Rot-Rot-Grรผnen (R2G) โUmkrempelnโ-Projekt zur anstehenden Landtagswahl sitzen mit Paula Piechotta (Grรผne), Anne Kรคmmerer (Grรผne), Renรฉ Jalaร (Linke), Luise Neuhaus-Wartenberg (Linke), Irena Rudolph-Kokot (SPD) und Sophie Koch (SPD) sechs Nachwuchshoffnungen ihrer Parteien in der Kulturapotheke direkt an der Eisenbahnstraรe.
Mitten in dem neuen Leipziger Szene-Kiez, der รคngstlichen Menschen mit zuviel TV- und Facebook-Konsum ein Graus und jungen Menschen entlang der Meile lรคngst eine neue Heimat und lebendiges Viertel geworden ist. Soeben ist ihre Internetseite umkrempeln.org online gegangen und in zwei Stunden werden sich die sehnsรผchtig erwarteten Retweets und Herzchen auf die ersten Lebenszeichen auf Twitter eingefunden haben. Und an Zahl immer weiter steigen und steigen, die 200 ist rasch รผberschritten und mancher machts vรถgelchengerecht kurz: โWird ja auch Zeit! #r2g #Sachsenโ.
Bis zum spรคten Abend sind so aus den sechs Erstunterzeichnern trotz kurzzeitig zusammengebrochener Webseite und Startfehlern bereits die ersten 380 Unterstรผtzer-Unterschriften fรผr ihr Werben fรผr eine Koalitionsvariante namen R2G geworden. Welche รถffentlich noch so fern scheint, dass sie das Umfrageportal โDawumโ bei den mรถgliche Standardkoalitionen fรผr Sachsen nach dem 1. September 2019 gar nicht erst auffรผhrt.
Dafรผr muss man schon die FDP aus dem Landtag kicken, damit sie รผberhaupt mit 42,5 Prozent bei den zusammengefassten Umfragen der letzten Tage auftaucht. Ein scheinbar weiter Weg also bis zu den mindestens 45 Prozent plus X am Ende. Doch es geht den Initiatoren neben dem Kampf um ihre Lieblingskoalition auch um das Aufzeigen einer neuen Perspektive.

Die Psychologie bei Wahlen
Was im Lichte der jetzigen Debatten rings um AfD, CDU und einer stetig weiter schwรคchelnden SPD betrachtet sicher falsch ist, ist der gedankliche Ausschluss einer Koalition der drei Parteien im links-liberalen Spektrum Sachsen nach der Wahl. Knapp wird es dieses Mal so oder so. Was sollte also jemand wรคhlen, der davon ausgehen muss, dass sich die drei Parteien links der CDU nicht auf eine Regierung in Sachsen verstรคndigen kรถnnten?
Zumal ja bekanntlich AfD-Fans falsch liegen, wenn sie vermuten, dass frei nach โthe winner takes it allโ der Sieger alles bekommt, also ab 25 Prozent womรถglich automatisch die Regierung stellt oder in diese hineingehรถrt. Sollte die CDU-Wand Richtung AfD halten, sind die Blauen im Gegenteil bei den derzeitigen Werten in jeder sonst denkbaren Regierungsbeteiligung raus. Womรถglich sogar fรผr immer, denn der Versuch, sich als neue โOstparteiโ zu definieren, wรคre damit vorerst mitgescheitert.
Wer da in Sachen AfD ganz sichergehen mรถchte, hat also eher ein Problem mit den Fragen, die sich die CDU immer wieder stellen lassen muss. Zumal sich beide Parteien nachweislich aus vorrangig รคlteren Wรคhlergruppen speisen.
Der erste Gedanke der sechs Versammelten lautete demnach in der (nomen est omen) โKulturapothekeโ: โWir zeigen einfach, dass es machbar ist, dass wir alle an einem Tisch sitzen kรถnnenโ, so Renรฉ Jalaร (Linke) im Gesprรคch zum neuen Ansatz, um โSondierungenโ gehe es nicht. Das entscheide sich nach der Wahl.
Doch auf dem Weg dahin wรผrde sich fรผr die Wรคhler der Linkspartei in R2G die รผberhaupt einzige Machtoption in Sachsen รถffnen, weshalb sie so auch wieder mehr Stimmen als die zuletzt vorhergesagten 16 Prozent einfahren kรถnnte. Nicht grundlos wissen also Luise Neuhaus-Wartenberg (Linke) und Renรฉ Jalaร (Linke) ihre Parteivorstรคnde und Spitzenleute hinter sich. Auch, weil 30 Jahre nach 1989 die roten Socken frรผherer CDU-Wahlkรคmpfe nun verschlissen sind. Die Spitzenleute in der sรคchsischen Linken sind lรคngst zu jung, um noch einmal als bรถse Geister aus der Vergangenheit zu taugen. Da gibt es eher neue Anzeichen bei der AfD.
Das Gesprรคch am 24. Juni 2019 (Ausschnitte)
Video: L-IZ.de
Die SPD muss sich von der CDU absetzen
Glaubt man aufseiten der SPD dem amtierenden Wirtschaftsminister und Spitzenkandidaten Martin Dulig, dann sitzen auch Irena Rudolph-Kokot und Sophie Koch in seinem Namen in der Runde. Beim Landesparteitag am vergangenen Wochenende hat es auch Dulig รถffentlich gedรคmmert, dass wirklich neue Mehrheiten und anderes Regierungshandeln perspektivisch nur bei R2G fรผr die SPD zu finden sind. Und helfen kรถnnte eine deutlichere Absetzungsbewegung den derzeit mitregierenden Sozialdemokraten auรerdem: wie sonst kรถnnten sie in den letzten 69 Tagen bis zur Wahl noch klarer sagen, wie anstrengend und teils hoffnungslos es in den vergangenen fรผnf Jahren fรผr sie war, zum Beispiel eine echte Bildungsreform fรผr lรคngeres gemeinsames Lernen auf die Beine zu stellen.
Nicht grundlos suchen sie dafรผr lรคngst mit einem Volksantrag die Stimmen der linken und grรผnen Wรคhler, wo ein Einlenken der CDU nicht mรถglich war. Auch ein intelligenter und rascher Strukturumbau in der Lausitz scheint mit der CDU kaum machbar, da diese sich gerade gegen die neue, noch hรคrtere โBraunkohle-Heimat-Parteiโ AfD mit dem Versuch zur Wehr setzt, den Kohleausstieg mรถglichst in Trippelschrittchen zu absolvieren.
Weit profaner, doch in Zeiten fehlender Fachkrรคfte in Sachsen dennoch schlagend sind die Grรผnde bei Sophie Koch, fรผr das neue Bรผndnis zu werben. โIch erlebe bei vielen jungen Menschen in Sachsen, dass sie einfach permanent vor der Frage stehen โ gehen oder bleiben. Und das ist natรผrlich noch schlimmer geworden, seit die AfD so einen Zulauf bekommen hat.โ
Sie glaube, dass dieses neue Bรผndnis gerade fรผr junge Menschen in Sachsen ein echtes Angebot auch fรผr radikale Verรคnderungen mit der SPD wรคre. Die mรถgliche Folge fรผr junge Menschen, die ihre Wahlheimat nicht bei der Linken sehen, hier fรผr ein Bรผndnis eins von zwei Kreuzen zu setzen, welches fรผr Arbeitnehmerrechte kรคmpft und zudem ahnt, dass junge Menschen ihre brauner werdenden Dรถrfer nicht grundlos verlassen.

Das grรผne Zรผnglein โฆ
Blieben die derzeit stark trendenden Grรผnen, denen die Enttรคuschung ihrer Wรคhler noch bevorstehen kรถnnte, wenn sie im Zusammengehen mit der sรคchsischen CDU eine รคhnliche Erfahrung wie die SPD machen kรถnnten. Was vereinbart wurde, wird vertagt und was der CDU nรผtzt, wird finanziert. Schon jetzt fragen sich einige, wie die Hoffnungen von โFridays for Futureโ auf Klimarettung und die bisherige Kohlekumpelei der CDU am Verhandlungstisch zu einer mรถglichen Koalitionsbildung nach der Landtagswahl aussehen sollten?
Setzen sich die Grรผnen in den Fragen erneuerbare Energien, Kohlestopp und politischen Mentalitรคtswandel Richtung Transparenz durch, riskiert die CDU einen weiteren Abbruch an der Abbaukante gen AfD. Macht die CDU so weiter wie bisher, kรถnnten es die ersten und letzten fรผnf grรผnen Jahre in der sรคchsischen Landesregierung gewesen sein. Ein Schicksal der schmelzenden Zustimmung, nach welchem sie sich derzeit bei der SPD-Fรผhrung in Sachsen und im Bund erkundigen kรถnnen.
Ohne Grรผne, die nach 30 Jahren das erste Mal bei der Landtagswahl 2019 an der Macht riechen dรผrfen, bricht das Bรผndnis hingegen zusammen. Paula Piechotta (Grรผne) und Anne Kรคmmerer (Grรผne) betonen bewusst das Positive in der Initiative, zur Not auch รผber den Wahltag hinaus. Bei allen durchaus vorhandenen Unterschieden sehen alle beide die Schnittmengen mit Linken und SPD als die grรถรten von allen Mรถglichkeiten. Auch hier sรคhen die Parteivorstรคnde die Initiative positiv, wie Kรคmmerer betonte.
โIch habe diese CDU in Sachsen einfach sattโ
Blieben die Schlussworte fรผr heute, welche auch die bleierne Debatte um AfD und CDU โ ja oder jain oder nie โ auflรถsen kรถnnten. Nicht wenige progressive Wรคhler und Politiker sehen im Handeln der Sachsen-CDU in den vergangenen Jahren den eigentlichen Grund fรผr das Erstarken einer Partei rechts von ihr. Wรคhrend von rechter Seite ein (kaum noch machbarer) noch restriktiverer Umgang mit Zuwanderung gefordert wird, ist hier ein Eindruck gewachsen, dass die fehlende Flexibilitรคt und Machtstarre der 30 Jahre Regierungshandeln das weit grรถรere Problem ist.
โNicht das Ob, sondern das Wieโ, stehe bei R2G im Vordergrund, so Rudolph-Kokot. โIch habe diese CDU in Sachsen einfach sattโ, so Renรฉ Jalaร mit Hinblick auf seine Erlebnisse im Landtag und auch auf eine Thรผringer CDU, welche allein durch den Machtverlust bei der letzten Landtagswahl heute progressivere Ideen als die Sachsen-CDU hervorbringt.
Und โWenn man sich anguckt, wie die letzten Umfrageergebnisse waren, dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass es fรผr alle Konstellationen, die bis jetzt so gehandelt wurden, nicht reicht.โ, so Luise Neuhaus-Wartenberg (Linke).
Im Wissen, dass natรผrlich die CDU mit dem Tabubruch Richtung AfD in Sachsen sehr wohl eine prozentuale Option hat. Auch wenn dieser Schritt fรผr ihre durchaus vorhandenen demokratischen Mitglieder der letzte Wegweiser Richtung Austritt wรคre. Denn auch die CDU selbst steht in Sachsen diesbezรผglich am Rande der Selbstentleibung, von einer โPartei der Mitteโ kรถnnte selbst bei einer AfD-Tolerierung kaum noch die Rede sein.
Womit man auch mit Neuhaus-Wartenberg vorerst zum Thema โUmkrempelnโ zum Kampagnenauftakt am 24. Juni 2019 schlieรen kann. โDas heiรt, nach dem 1. September wird in Sachsen, egal was passiert, nichts mehr so sein, wie es war.โ
Zur Seite der R2G-Kampagne in Sachsen
Klimakonferenz in Leipzig: Michael Kretschmer und der Tatendrang der Jugend + Video der Debatte & Interview Fridays Sachsen
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