Als Innenminister Prof. Dr. Roland Wöller am 3. April die polizeiliche Kriminalitätsstatistik für Sachsen im Jahr 2018 vorstellte, wagte er zwei völlig unterschiedliche Aussagen. Einerseits sagte er: „Der Blick in die Kriminalstatistik zeigt, dass die Menschen in Sachsen sicher leben.“ Aber ganz sächsischer Innenminister unterließ er es auch nicht, die Bevölkerung wieder ein bisschen zu erschrecken: „Die gefühlte Unsicherheit ist leicht gestiegen.“

Eine Aussage, die so überhaupt nicht durch die Kriminalitätszahlen von 2018 gedeckt war: „Die Zahl der Straftaten im Freistaat Sachsen hat im Jahr 2018 den niedrigsten Stand der letzten zehn Jahre erreicht. Insgesamt wurden 278.796 Fälle registriert, 2017 waren es noch 323.136. Das ist ein Rückgang von 13,7 Prozent“, hatte das Innenministerium gemeldet.

Logisch, dass Valentin Lippmann, innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, die zweite Äußerung von Wöller ziemlich seltsam fand. Also fragte er nach, um herauszukriegen, woher der Minister diese Behauptung nahm.

Der hat jetzt auch geantwortet: „Die Aussage in der PKS-Pressekonferenz zur Vorstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) stützt sich auf den Deutschen Viktimisierungssurvey 2017 des Bundeskriminalamtes. Dieser ist unter folgender Internetadresse abrufbar: www.bka.de.“

Wirklich konkrete Zahlen zur „gefühlten Unsicherheit“ aber hatte Wöller nicht genannt. Also fragte Lippmann auch danach. Wöller: „Der Deutsche Viktimisierungssurvey wurde für die Jahre 2012 sowie 2017 erstellt. Grundlage des Survey waren jeweils repräsentative Bevölkerungsumfragen mittels computergestützter Telefoninterviews von im Jahr 2017 insgesamt 31.192 Personen zur ‚Lebenssituation und Sicherheit in Deutschland‘. Im Weiteren wird auf die unter oben genannter Adresse genannte Veröffentlichung verwiesen.“

Denn was Wöller suggeriert hatte, war ja eine gestiegene Unsicherheit in Sachsen. Aber dafür liefert auch der Viktimisierungssurvey des Bundeskriminalamts (BKA) keine Angaben.

Betroffenheit von Diebstahl 2017. Grafik: BKA, Deutscher Viktimisierungssurvey 2017
Betroffenheit von Diebstahl 2017. Grafik: BKA, Deutscher Viktimisierungssurvey 2017

Das muss nun auch Wöller zugeben: „Die Aussage in der PKS-Pressekonferenz zu Erkenntnissen aus dem Deutschen Viktimisierungssurvey 2017 bezog sich nicht speziell auf Sachsen, sondern auf Deutschland insgesamt. Gleichwohl gelten die Feststellungen aus dem Survey grundsätzlich auch für Sachsen. Dies zeigen nicht zuletzt auch Rückmeldungen aus den zahlreichen Gesprächen, die Mitglieder der Staatsregierung in den letzten Monaten mit Bürgerinnen und Bürgern vor Ort zur Sicherheitslage geführt haben.“

Auch das wieder ein seltsamer Zirkelsprung, den Wöller da vollbringt. Belastbare statistische Daten zu Sachsen hat er nicht. Und auch der Survey des BKA kann nicht wirklich feststellen, dass die Verunsicherung gestiegen ist. Das liegt schon daran, dass der Survey zur Betroffenheit von Straftaten aller Art 2012 erstmals erstellt wurde (und auch nur für 2012) und 2017 als Wiederholung stattfand. Dazwischen liegen bekanntlich die Jahre 2015 und 2016, die in Deutschland auch mit einer erhöhten Zahl von Straftaten (insbesondere bei Einbruch und Diebstahl) einhergingen. Veröffentlicht hat das BKA die Auswertung aber erst im April 2019, als praktisch alle Bundesländer für 2018 schon wieder deutlich zurückgehende Straftatenzahlen melden konnten, auch Sachsen – siehe oben.

Das heißt: Die gestiegenen Werte für Unsicherheit beziehen sich vor allem auf das Jahr 2017, also genau jenen Zeitraum, als auch die Straftatenzahl höher war und deutlich mehr Menschen von Einbruch, Diebstahl und Betrug betroffen waren. Wobei Sachsen bei fast allen Straftaten deutlich unterm deutschen Durchschnitt lag, auch was die Opfererfahrung der Bürger betrifft.

Betroffenheit von Wohnungseinbruch 2017. Grafik: BKA, Deutscher Viktimisierungssurvey 2017
Betroffenheit von Wohnungseinbruch 2017. Grafik: BKA, Deutscher Viktimisierungssurvey 2017

In den Grafiken wird noch zwischen Prävalenz- und Inzidenzerfahrung unterschieden.

Kurz erklärt: „Die Prävalenzrate erfasst den prozentualen Anteil der in Deutschland lebenden Bevölkerung ab 16 Jahren, der innerhalb eines bestimmten Zeitraums mindestens einmal Opfer einer bestimmten Straftat geworden ist. Bei Haushaltsdelikten, also Straftaten, bei denen der gesamte Haushalt von der Opfererfahrung betroffen ist, bezieht sich die Prävalenzrate auf den prozentualen Anteil aller Privathaushalte in Deutschland.

Die Inzidenzrate gibt die Anzahl an Opfererlebnissen pro 1000 Einwohner innerhalb eines bestimmten Zeitraums an. Bei Haushaltsdelikten bezieht sich die Inzidenzrate auf die Anzahl der Opferwerdungen pro 1000 Haushalte.“

In der Einschätzung kommen die Autoren des Surveys dann zu einer sehr spezifischen Einschätzung für Ostdeutschland: „Nach wie vor besteht eine Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland: Ostdeutsche fühlen sich nicht nur unsicherer in ihrer Wohnumgebung und fürchten sich mehr vor Raubüberfällen und terroristischen Anschlägen als Westdeutsche, sondern sie schätzen auch das Risiko, Opfer eines Raubs oder von Terrorismus zu werden, größer ein. Dem steht eine ähnliche oder sogar geringere Belastung mit tatsächlichen Opfererfahrungen gegenüber.“

Das heißt: Die Kriminalitätsbelastung ist im Osten zwar meistens geringer, die Befürchtung, Opfer einer Straftat zu werden, aber deutlich größer.

Freche Zwischenfrage: Kann das auch an der Sicherheitspolitik der ostdeutschen Landesregierungen liegen? An solchen völlig sinnfreien Äußerungen, wie sie Roland Wöller nun wieder getätigt hat? Panikmache im Sinn einer Sicherheitspolitik, die man mit der Behauptung zunehmender Gefahr immer mehr verschärft, so wie das in Sachsen mit dem neuen Polizeigesetz geschehen ist?

Das könnte man auch ein „Spiel mit der Angst der Bürger“ nennen.

In der Survey-Auswertung gehen die Autoren auch auf diese Kriminalitätsfurcht ein: „Hinsichtlich der Furcht vor Kriminalität zeugen die empirischen Befunde von einer Zunahme von Unsicherheitsgefühlen in der Bevölkerung seit 2012. Der Anteil der Bevölkerung, der sich nachts in der Wohngegend unsicher fühlt, ist von 17 % im Jahr 2012 um fünf Prozentpunkte auf 22 % angestiegen. Zwar betrifft diese Zunahme tendenziell alle Bevölkerungsgruppen und Regionen, jedoch verstärkt Frauen, mittlere Altersgruppen und Bewohner mittelgroßer Städte. Hinsichtlich konkreter Delikte hat insbesondere die Furcht vor einem Wohnungseinbruch zugenommen. Auch die Furcht, überfallen und beraubt zu werden, hat leicht, aber statistisch bedeutsam zugenommen. Bei beiden Delikten korrespondiert diese Wahrnehmung mit einer tatsächlichen Zunahme des Einbruchs- und Raubrisikos in den betrachteten Jahren und ebenso mit einem Anstieg der Fallzahlen des Wohnungseinbruchdiebstahls in der Polizeilichen Kriminalstatistik (dem jüngst ein Rückgang folgte) und seiner Thematisierung in Öffentlichkeit und Kriminalpolitik. Hinsichtlich des Raubs hat sich zudem auch das Strafbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger erhöht (…). Insgesamt hat allerdings das wahrgenommene Opferrisiko in der Bevölkerung zwischen 2012 und 2017 deutlich weniger zugenommen als die gefühlte Unsicherheit.“

Das heißt eben auch, dass die Angstmache in einigen Medien den Bürgern eine viel gefährlichere Kriminalitätslage suggerierte, als sie tatsächlich bestand. Und deutsche Innenminister waren die ganze Zeit emsig mit dabei, diese Gefahren zu überzeichnen. Von den Angstmachern am ganz rechten Rand ganz zu schweigen, die mit Panikmache regelrecht Politik machen.

Die Autoren im Survey weiter: „Eine Zunahme der Unsicherheitswahrnehmungen lässt sich insbesondere seit 2015 auch in anderen repräsentativen Umfragen feststellen (z. B. European Social Survey oder R+V-Studie ‚Die Ängste der Deutschen‘) und könnte mit den gesellschaftlichen Entwicklungen im Zuge der Migrations- und Flüchtlingsbewegung und den damit verbundenen öffentlichen Diskursen in Medien und Politik in Verbindung gebracht werden, da Kriminalitätsfurcht eng mit anderen gesellschaftlichen Problemwahrnehmungen verbunden ist. Insofern ist der Anstieg der Kriminalitätsfurcht wenig überraschend, und es stellt sich die Frage, wie nachhaltig diese Entwicklung ist.“

Das Bauchmurmeln, das „Mitglieder der Staatsregierung in den letzten Monaten“ bei Bürgerinnen und Bürgern gehört haben, kann also genau aus dieser medial befeuerten „gesellschaftlichen Problemwahrnehmung“ resultieren. Aus Bauchwahrnehmung wird dann Bauchpolitik und zunehmende Unsicherheit wird gerade in einem Moment beschworen, wo die Kriminalitätsstatistik genau das Gegenteil belegt.

Verbesserte Polizeiarbeit ließ auch gegenüber 2017 die Fallzahlen noch einmal deutlich sinken

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