Die Versäumnisse der Vergangenheit werden zur Belastung der Gegenwart. Jahrelang hat Sachsens Regierung das Problem rechtsradikaler Strukturen im Land ignoriert. Viel zu lange. Und so richtig ernst nimmt man die Aktivitäten der organisierten Rechten noch immer nicht, seien es nun die zunehmende Zahl von Konzerten oder das, was die Rechten so gern Zeitzeugenvorträge nennen.
Im Jahr 2018 fanden in Sachsen insgesamt zwölf sogenannte Zeitzeugenvorträge von Neonazis statt. Zwei Vorträge mehr als im Jahr 2017. Das geht aus der Antwort von Innenminister Prof. Roland Wöller (CDU) auf eine Kleine Anfrage des Abgeordneten Valentin Lippmann von den Grünen hervor. Bereits im Jahr 2017 organisierten Neonazis in Sachsen zehn sogenannte Zeitzeugenvorträge.
Die Veranstaltungsorte lagen damals insbesondere im Landkreis Mittelsachsen (fünf Vorträge in Mittweida, hier hatten Neonazis seinerzeit Zugriff auf ein Objekt) sowie die in den Großstädten (je ein Vortrag in Dresden, Leipzig, Chemnitz). Je ein weiterer Vortrag fand in Weißwasser (Landkreis Görlitz) und in Jesewitz (Landkreis Nordsachsen) statt. An den Vorträgen nahmen zwischen 120 und 300 Zuhörer teil.
Die Veranstaltungsorte 2018 lagen insbesondere im Landkreis Erzgebirge sowie in Chemnitz (jeweils vier Vorträge). Je ein Vortrag fand in Zwickau, in Leubsdorf OT Hohenfichte (Landkreis Mittelsachsen), in Mücka (Landkreis Görlitz) und in Regis-Breitingen OT Ramsdorf (Landkreis Leipzig) statt. An den Vorträgen nahmen zwischen 50 und 450 Zuhörerinnen und Zuhörer teil.
Bei diesen Vorträgen berichteten die Zeitzeugen u. a. über ihr Leben während der NS-Zeit und verherrlichten diese oder sprachen über selbsternannte ‚Märtyrer‘ wie Rudolf Heß. Mit Ursula Haverbeck trat, wie bereits 2017, auch mindestens einmal die verurteilte Holocaust-Leugnerin und zugleich Kultfigur der Neonazi-Szene auf.
An der Organisation bzw. Durchführung der Veranstaltungen beteiligten sich auch Personen, die mittlerweile verbotenen Gruppierungen angehörten. Eine dieser Personen ist Robert Andres aus Chemnitz, der früher den ‚Nationalen Sozialisten Chemnitz‘ zugerechnet wurde. Wie ‚Wachsam in Chemnitz‘, ein Internetportal des DGB Region Südwestsachsen, berichtet, war dieser später Mitglied bei der AfD und engagiert sich heute bei PRO Chemnitz, kann Lippmann aufzählen.
Bei drei Vorträgen wurden Immobilien genutzt, die sich im Besitz von Neonazis befinden, bei den anderen neun Vorträgen wurden hingegen Immobilien angemietet.
„Die Zeitzeugenvorträge sind ein entscheidendes Mittel zur weiteren Radikalisierung sowie der ideologischen Festigung von Szenemitgliedern“, erklärt Valentin Lippmann, der innenpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Sächsischen Landtag ist. „Darüber hinaus dienen diese der Vernetzung der Szene, letztlich bis hin zur Verabredung von Straftaten. Bei diesen Vorträgen handelt es sich noch immer um das bedeutendste Veranstaltungsformat der neonazistischen Szene in Sachsen. Nur ein paar wenige Konzerte erreichen dieselbe hohe Anzahl an Teilnehmern. Im Jahr 2018 wurden noch mehr solcher Vorträge organisiert als 2017.“
Und um an Räume zu kommen, spielen die Veranstalter auch gern mal Chamäleon.
„Mir ist es unbegreiflich, wie der Sächsische Verfassungsschutz hier tatenlos zuschauen kann. Dass neun Vorträge, oft unter Vortäuschung falscher Tatsachen, in angemieteten Räumen stattfinden konnten, zeigt, dass der Verfassungsschutz seine Arbeit nicht macht. Entweder er weiß im Vorfeld nichts von diesen Veranstaltungen. Oder er lässt Nazis gewähren und informiert Vermieter nicht zu den eigentlichen Mietern und deren Absichten“, sagt Lippmann.
„Ich erwarte, dass Landkreise und Kommunen, aber auch Vermieter und Gastronomen endlich vom Innenministerium die notwendige Unterstützung erfahren, um Bestrebungen von Neonazis frühzeitig zu erkennen und entschieden handeln zu können.“
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