„Nichts verstanden. Setzen“, so knallhart kommentierte der „Tagesspiegel“ am 5. September die Regierungserklärung von Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) zu den Ereignissen in Chemnitz. Das war die Rede mit der völlig verfehlten Aussage: „Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd und es gab keine Pogrome in dieser Stadt“. Aber das war nicht der einzige Aussetzer.

Richtig stellte der „Tagesspiegel“ auch noch fest, dass Kretschmer augenscheinlich vom Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl 2017 in Sachsen getrieben ist. Und dass er sich sichtlich scheut, klar Position zu beziehen zu all den rechtsradikalen Grenzüberschreitungen in Sachsen.

„Da wäre doch mal ein klares Wort fällig gegen jene sächsischen Wutbürger, die mit Leuten mitlaufen, die auf Kundgebungen den Hitlergruß zeigen, ohne dass die Polizei sofort eingreift. Die AfD dabei mittenmang. Und #Hutbürger, in einem Fall sogar tarifbeschäftigt im Landesdienst und in der Freizeit für Pegida unterwegs“, spitzte der „Tagespiegel“ zu.

Aber dessen Redaktion sitzt nun einmal in Berlin. Allzu viel von dem, was in Sachsen passiert, bekommt man auch dort nicht mit. Und wenn Kretschmer nun seit bald einem Jahr regelrecht zu irrlichtern scheint zwischen mutigen Gesprächen mit den Bürgern und scheinbaren Anbiederungen an rechtsradikale Sprüche, dann hat das sehr viel mit der Partei zu tun, der er vorsteht. Einer zutiefst zerrissenen Partei.

Denn dass die AfD in Sachsen so besonders rechtsradikal ist, hat mit der lange Jahre herrschenden CDU zu tun, die ihrerseits unter allen CDU-Landesverbänden in der Republik eine besonders extrem rechte Position einnimmt. Und das nicht erst seit 2017 oder 2015. Auch vorher schon, als man öffentlich den Rechtsextremismus im Land regelrecht negierte und das Aufkommen rechtsradikaler Netzwerke in der sächsischen Provinz sehenden Auges duldete.

Stattdessen suchte man den Feind immer links, befeuert von den wilden Extremismus-Theorien eines Eckhard Jesse, der bis 2015 an der TU Chemnitz lehrte. Den Tonfall findet man noch heute, wenn sich sächsische Unionspolitiker zum Rechtsextremismus äußern – automatisch gibt es dann sofort den Hinweis, die Linksradikalen seien ja genauso schlimm. Eine Botschaft, die sich bei Sachsens Wählern tief eingefressen hat.

Und dazu kam die fast manische Verfolgungswut gegenüber allem, was man als linksradikal gestempelt ansah – ganz breit angelegt während der Februardemonstrationen 2011 in Dresden, wo man die umfassende Funkzellenabfrage erstmal nutzte, hunderte (linke) Demonstrationsteilnehmer mit oft genug konstruierten Straftaten in Zusammenhang zu bringen.

Darunter auch Landtagsabgeordnete, Pfarrer, Gewerkschafter … Zuletzt systematisch durchexerziert bei der Suche nach einer kriminellen Organisation im Umfeld des Leipziger Fußballvereins Chemie – während Sachsens Ermittler sich immer schwertaten, die wirklich gewalttätigen Umtriebe rechter Terrorgruppen überhaupt zu erkennen – vom NSU bis zur „Revolution Chemnitz“.

Und dieses Denken ist nicht verschwunden. Im Gegenteil: Innerhalb der eh schon sehr konservativen sächsischen CDU gibt es noch die erzkonservativen Verbände aus Ostsachsen, die innerhalb der Landesgruppe und auch innerhalb der Landtagsfraktion die Mehrheit stellen. Was dann bei der Wahl des neuen Fraktionsvorsitzenden nach dem Rücktritt von Frank Kupfer regelrecht zur Niederlage für Michael Kretschmer wurde, denn seinen Kandidaten (Geert Mackenroth) bekam er nicht durch.

Der unterlag der konservativen Mehrheit, deren Vertreter der ehemalige Polizist Christian Hartmann ist. Dass der dann in der Pressekonferenz auf die Frage nach einer möglichen Koalition mit der AfD so herumdruckste, hat genau damit zu tun. Dieser rechte Flügel der sächsischen CDU hat mehr Schnittstellen mit der AfD als mit anderen Parteien des bürgerlichen Lagers.

(Mittlerweile hat Hartmann laut LVZ die Aussage zur AfD zurückgenommen und  die AfD zum Hauptgegner erklärt. Es sei nicht sein Ziel, mit der AfD zusammenzuarbeiten. Aber ist das wirklich eine Koalitionsabsage?)

Kretschmers öffentliche Reden sind also auch immer Versuche, diesen Riss innerhalb der CDU selbst zu kitten. Und dabei greift er oft daneben – eben weil die zahlenmäßige Übermacht bei den erzkonservativen Kreisverbänden im Osten liegt.

Und dazu gehört nicht nur das Abstreiten der Chemnitzer Treibjagd.

Dazu gehörte auch noch ein anderer Satz in seiner Rede, der dem „Tagesspiegel“ besonders sauer aufstieß: „Noch etwas hat Kretschmer in seiner weitgehend frei gehaltenen Regierungserklärung gesagt, und es lässt schockiert zurück. Nämlich dass die Politik auf Entwicklungen reagieren und Gesetze anpassen müsse, und dafür sorgen solle, dass das – so wörtlich – was Volkes Meinung ist, sich am Ende auch bei Rechtsentscheidungen durchsetzt. Volkes Meinung. Rechtsentscheidungen. Die CDU in Sachsen hat deutlich zu wenig getan, damit Pegida und die Rechten nicht die Hoheit auf der Straße übernehmen. Das Recht darf ihnen nun auf gar keinen Fall überlassen werden.“

Genau nach diesem Satz hat jetzt der Landtagsabgeordnete der Linken René Jalaß gefragt: „In seiner Regierungserklärung vom 5. September 2018 erklärte Ministerpräsident Kretschmer u. a.: ,Es ist notwendig, dass die Politik auf Entwicklungen reagiert, Gesetze anpasst und dafür sorgt, dass das, was Volkes Meinung ist, sich am Ende bei Rechtsentscheidungen durchsetzt, nicht nur in der Theorie sondern auch in der Praxis.‘

Eine Aussage, die am Fundament der Judikative rüttelt. Eine Regierungserklärung kann unter Umständen auf anlassbedingte programmatische Korrekturen oder spezifische Agenden hindeuten. Vor diesem Hintergrund ist es angezeigt, zu hinterfragen, auf welche Ausrichtung zukünftigen Regierungshandelns die o. g. Aussage hinweisen soll.“

Seine Fragen klangen dann schon ein bisschen zynisch. Man merkt schon, dass er von einem sächsischen Ministerpräsidenten so eine Forderung nach „Rechtsentscheidungen nach Volkes Meinung“ nicht erwartet hätte. Das ist nicht mehr nur populistisch. Das ist brandgefährlich. Logisch, dass er auch gleich fragte: „Plant die Staatsregierung einen Sondergerichtshof, um Volkes Meinung künftig wieder mehr in Rechtsentscheidungen zu führen?“

Geantwortet hat nicht Michael Kretschmer, sondern Justizminister Sebastian Gemkow (CDU). Der sich denkbar kurz hielt. Denn wie korrigiert man die Aussagen seines Ministerpräsidenten, ohne ihn endgültig zu beschädigen? Er geht auch gar nicht erst auf den geäußerten Satz ein.

„Die Einrichtung eines Sondergerichtshofs ist nicht geplant. Im Übrigen wird darauf hingewiesen, dass das ,allgemeine Rechtsempfinden’ bereits nach der Rechtsprechung der Bundesgerichte an geeigneter Stelle bei der Entscheidungsfindung Berücksichtigung findet …“

Was schon seltsam genug wirkt. Erst am 21. August hatte Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) sich gänzlich anders geäußert: „Das Rechtsempfinden der Bevölkerung darf im Rechtsstaat nicht entscheidend sein, das ist genau der Punkt.“

Da ging es um den abgeschobenen Gefährder Sami A.. Besser macht es also Sebastian Gemkow nicht, wenn er so Kretschmers Aussagen versucht zu relativieren. In beiden Fällen unterläuft es genau die Unparteilichkeit, die Rechtssprechung in einem Rechtsstaat haben muss. Das „Rechtsempfinden“ einzelner Bevölkerungsgruppen hat da überhaupt nichts zu suchen. Auch wenn es „nur“ unzufriedene CDU-Abgeordnete aus Ostsachsen sind. Wer anfängt, so zu denken, hat den Rechtsstaat schon infrage gestellt und möchte gern wieder Willkürentscheidungen, wie sie in Diktaturen das Übliche sind.

Nach den Ausschreitungen in Chemnitz: Kontroverse um Regierungserklärung von Kretschmer + Video

Nach den Ausschreitungen in Chemnitz: Kontroverse um Regierungserklärung von Kretschmer + Video

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Es gibt 5 Kommentare

Auch die CDU kann Wahlprognosen lesen und weiß ganz genau, daß es beim nächsten Mal nur noch für eine Koalition mit der AfD reicht. Und warum auch nicht? Inhaltlich gibt es kaum Unterschiede, die einzige Frage ist nur noch, wer stärkste Fraktion wird und den Ministerpräsidenten stellt.
Und wenn man genau hinhört, sagen sie das auch, schon jetzt.

Für den Tagesspiegel schreibt über Sachsen meist Martin Meißner. Er ist in Sachsen tief verwurzelt und auch sehr umtriebig.

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