Immer wieder tauchte seit dem 26. August 2018 im Umfeld der Demonstrationen in Chemnitz der einheimische Vorwurf auf, es gรคbe so etwas wie โSachsenbashingโ in den Medien und Kommentarspalten des gesamtdeutsch vereinten Landes. Angesichts von Prognosen mit รผber 24 Prozent Zuspruch fรผr die AfD in Sachsen und der Bilder aus der Erzgebirgsstadt hagelte es Artikel. In so mancher hilflosen Debatte tauchte als Erklรคrung aus der Ferne auch der โKryptofaschismusโ einer vorgeblich nie รผberwundenen DDR ebenso auf, wie der Vorwurf, mit den Segnungen des Marktes und der demokratischen Freiheit im Freistaat eben noch immer nicht umgehen zu kรถnnen. Angesichts des bekannten Fleiรes der Sachsen und der massenhaften Demonstrationen irritierend.
In einem einzigen Satz lieร sich der geborene Wรผrzburger Spiegel-Kolumnist Christian Stรถcker am 16. September zu einem Eingestรคndnis auf Spiegel Online (SPON) hinreiรen, welches ein gewisses Verstehen hรคtte werden kรถnnen. Bezogen auf die richtige Feststellung, dass angesichts von 22.000 Menschen tatsรคchlich nicht die Flรผchtlinge das Problem in Sachsen sind, rรคumte er ein: โIn der Vergangenheit sind auch einfach ein paar sehr prosaische politisch-praktische Fehler gemacht worden, von ausgebliebenen Rentenanpassungen รผber vielleicht zu seltene Politikerbesuche bis hin zu Investitionsentscheidungen.โ
Ein erster Ansatz nach 28 Jahren gemeinsamen Lebens und Wirtschaftens, der zu praktischen Lรถsungsideen statt grassierender Hilflosigkeiten fรผhren mรผsste. Lรถsungen, die zu einer nachhaltigen Ausdรผnnung der (westdeutsch dominierten) AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thรผringen 2019 fรผhren kรถnnte.
Es ist bezeichnend, dass der meist geรคuรerte Vorwurf, welchen man der sรคchsischen Integrationsministerin Petra Kรถpping (SPD) seit Jahren macht, der der โJammereiโ ist, wenn sie von Schicksalen berichtet und schreibt, die ihr Menschen in sรคchsischen Bรผrgerdialogen erzรคhlen. Ein Frame des โJammer-Ossisโ, der รผbrigens sehr frรผh im Jahre 1991 von der Springerpostille โBildโ im Westen gesetzt wurde, wรคhrend die Ostausgaben gegen den โBesser-Wessiโ hetzten, wirkt bis heute. Auf beiden Seiten der niedergerissenen Mauer verantworteten in absolut รผberwiegender Zahl westdeutsche Chefredakteure die Spaltungsspiralen, die Verkaufszahlen waren im Vor-Internet-Zeitalter gigantisch.
Wenn seither, wie nun wieder in Kรถppings Streitschrift โIntegriert doch erstmal uns!โ von Abwertungserfahrungen im Nachwende-Osten, realem Unrecht und einem westdeutsch nicht nachempfundenen Kulturschock nach 1990 die Rede ist, folgt noch immer die gleiche รberlegenheits-Retourkutsche, wie seit 28 Jahren.
Auf die Verbalisierung von Massenentlassungen ab 1990 im 100.000er Bereich รผber Nacht allein in Leipzig, Treuhandabwicklungen auch von marktfรคhigen Unternehmen, explodierten Suizidraten und Kriminalitรคtsraten bei jungen Ostmรคnnern, bei gleichzeitigem Einbruch der Geburtenzahlen im vormals Zweikinder-Osten und der Abwanderung von weit รผber 700.000 vor allem jungen, gut ausgebildeten Menschen in den westlichen Teil Deutschlands oder in die im Jahr 2000 fast ausschlieรlich ostdeutsche Marine hinein, gab es bis heute allzu oft nur die eine brutale Antwort.
โHabt euch nicht so, das Leben ist eben hart, wir hier im Westen mรผssen doch auch arbeiten!โ
Neoliberale Grundkรคlte und fehlende Emanzipationserfahrungen
Ein Satz voller Unverstรคndnis und Ablehnung, von einer Kรคlte, die man offenkundig vor allem in Sachsen im mรคnnlich geprรคgten AfD-Pegida-Umfeld mittlerweile verinnerlicht hat. โWer nichts schafft, soll auch nicht essenโ (und bekommt auch keine Frau), gilt nun eben vor allem unter Mรคnnern fรผr die nรคchste โuntere Gruppeโ โ die Flรผchtlinge. Denen man hier und da sogar die unter dem Hartz IV-Satz liegenden Minimalzahlungen vom Staat neidet. Die selbstempfundene Nichtintegration wird nun von Teilen der Menschen weitergereicht, Solidaritรคt gibt es oft nur noch fรผr die eigene โGruppeโ: die Deutschen.
Gleichzeitig schwingt die gleiche Forderung zur Unterordnung in dem fanatischen Ruf, โdie haben sich anzupassenโ (oder zu gehen) mit, welche man ihnen ebenso entgegenbrachte. Die eigene (solidarischere) Kultur war bedeutungslos, nun โlernte man den Kapitalismusโ. Binnen weniger Monate wurden nach 1990 Polykliniken zerschlagen, ein ostdeutsches Schulsystem mit Gymnasialentscheidung nach Klasse 10 abgeschafft, welches seine Stรคrken anschlieรend in skandinavischen Lรคndern zeigte und das SERO-System eingestampft. Um Jahre spรคter als โรrztehรคuserโ, dem weithin unterstรผtzten Ruf nach โlรคngerem gemeinsamen Lernen an den Schulenโ sowie dem heutigen Erstarken der Recyclingwirtschaft frohe Wiederauferstehung zu feiern.
Wรคhrend man heute wieder versucht, Teams in Unternehmen zu bilden und die sogenannte โBildungsrepublikโ gerade mal wieder am Abgrund steht, schaut mancher รคlterer Sachse noch immer fassungslos auf die Selektionsrampe nach Klasse 4 zwischen Gymnasium und dem abgewerteten Schulrest.
Die mรถgliche Kulturergรคnzung wurde bis heute nicht geprรผft und wahrgenommen, der Vereinigungsprozess geriet fรผr viele zur โรbernahmeโ, die Krรคnkungen allein in diesem Bereich sitzen tief und wurden in die Familien getragen. Zugleich wurden viele Menschen โhรคrterโ, wie man es von ihnen verlangt hatte. Arbeitslosigkeit und Billiglohn folgten allzu oft, um nun nach jahrelangem Monatsbrutto von 2.000 Euro einer Armutsrente entgegenzugehen. Die Arbeitszeiten Ost liegen รผbrigens bis heute รผber denen in Westdeutschland, man war mit sich beschรคftigt. Kein Wunder also, dass es der CDU in Sachsen so leicht fiel, Politik als (Scheck)Lieferdienst darzustellen.
Doch selbst die hohe Produktivitรคt im neu errichteten BMW-Werk rettete viele ostdeutsche Leiharbeiter am Fertigungsband fast neun Jahre lang nicht vor dem Schicksal der schlechten Bezahlung unterhalb jedweden Vergleichslohns im Westen.
Vor allem im Bereich der Rentenpolitik zeigt sich, wie egal der Osten dem Westen bis heute ist
Durch die Absenkungen der Rentenberechnungsschlรผssel verging sich die Mehrheitsgesellschaft West an der Minderheit Ost. Dass sich allein die Linke dagegen wehrte und die Anhebung der Ostrenten gegen CDU, SPD, FDP und Teile der Grรผnen forderte, ist heute fast vergessen. Dass es gerade in Gesellschaften ohne hohe Erbschaften und Hauseigentum existenziell ist, was am Lebensabend bleibt, ist noch immer nicht handelnde Politik.
Zeitgleich war auch das Aufeinandertreffen vor Ort selten eines auf โAugenhรถheโ. So kamen die Westdeutschen hรคufig in den Osten als Vermieter, Richter, hรถhere Beamte und Arbeitgeber. Oder Chefredakteure einschlรคgiger Zeitungen und โLandesvรคterโ. Sie besetzten also bis heute viele Chefpositionen, Richterstรผhle, besitzen Hรคuser, wรคhrend BMW und Porsche Werkshallen aufstellten. Die Gewinne flossen in die Zentralen im Westteil Deutschlands, wo auch die Steuern anfallen.
Der Ostdeutsche war oft nur der Mieter und Mitarbeiter, wennโs schieflief, eben der Angeklagte. Strukturen der Unterordnung, das Selbstbewusstsein einer selbst geschaffenen Gesellschaft wie im Nachkriegsdeutschland West fehlt bis heute.
Wirtschaftsstrukturen nach 1991 am Beispiel der Medien oder: Wer keine eigene Stimme hat
Wenn man davon ausgeht, dass eine gewachsene, emanzipierte Mittelschichtsgesellschaft auch aus erfolgreichen einheimischen Unternehmen besteht, die soziale und kulturelle Verantwortung wahrnehmen, sollte man sich diese Strukturen in Sachsen und gern im Kern in Leipzig mal genauer anschauen. Und sich fragen, woher eben jene so gern beschworene โselbsttragende Privatwirtschaftโ auรerhalb staatlicher und kommunaler Strukturen oder anderer fรถrdermittelabhรคngiger Unternehmungen bislang kommen sollte.
Bis heute ist die beherrschende Wirtschaftsstruktur in Sachsen letztlich einfach gestrickt. Neben den kommunalen Stadtkonzernen, wie in Leipzig der โL-Gruppeโ, bestehend aus Stadtwerken, LVB, Wasserwerken und weiteren Unterfirmen sowie der westtariflich bezahlenden Stadtverwaltung oder einer teilstaatlichen Messegesellschaft als Arbeitgeber, kennt die Pleiรemetropole bislang nur drei โostdeutscheโ, also lokal zu verortende Arten von Unternehmungen. Ein Start-Up mit ungewissen Aussichten. Den Handwerks-, Dienstleistungs- und Zuliefererbetrieb eher kleiner Grรถรe. Und einen kleinen Rest weniger, wenn auch รผberaus positiver Einzelbeispiele.
Im Nachrichtengeschรคft kann man das Filialsystem exemplarisch nachvollziehen. So ging die โLeipziger Volkszeitungโ einst preiswert an den Madsack Verlag aus Hannover (bis 2009 gemeinsam mit dem Springer Verlag), der Dresdner Platzhirsch โSรคchsische Zeitungโ an Gruner + Jahr/Bertelsmann aus Hamburg und das Medienbeteiligungsunternehmen der SPD, DDVG, Berlin/Hamburg. Die โFreie Presseโ in Chemnitz fand einen neuen Eigentรผmer in der mit Helmut Kohl befreundeten Verlegerfamilie Schaub und damit der Ludwigshafener Medien Union GmbH.
Bis zum heutigen Tage ist so die โLeipziger Internet Zeitungโ (L-IZ.de) in Sachsen und ganz Deutschland das einzige ostdeutsche Tageszeitungsmedium, welches nach 1990 von Ostdeutschen neu gegrรผndet wurde und bis heute besteht. Woher manche (im Ruf โLรผgenpresseโ) weit รผberzogene Medienskepsis im Osten auch dem โSpiegelโ gegenรผber kommt, ist so teilweise erklรคrbar.
Die AfD als โostdeutscher Aufbruchโ?
Es ist kaum ein Wunder, wenn nun die westdeutsch gefรผhrte AfD widersinnigerweise auch als eine Art โostdeutscher Aufbruchโ verstanden wird. Dumpf und ohne detaillierte Ideen, aber jeder kann mitmachen und das unfertige Partei-Bewegungs-Gebilde mitgestalten โ eine Art Emanzipation von rechts, nachdem Linkswรคhlen dank SPD-Ablehnung auf Bundesebene realpolitisch nichts brachte.
Dass die Forderung nach der Unterordnung oder den Hinauswurf einer anderen Menschengruppe dabei zentral ist, wirkt auf vielen Ebenen offensichtlich eher vertraut, als abschreckend. Auch der tiefverankerte Sozialdarwinismus der westdeutschen Fรผhrerpersรถnlichkeiten von Hรถcke, รผber Gauland bis Weidel stรถren so nur am Rande: so kennt man den harten Kapitalismus ja seit vielen Jahren; der Sieger bekommt alles. Nun soll er in ihrem Sinne wirken, so die Illusion.
Eine gefรผhlte Konkurrenz um Ressourcen, Geschlechtspartner(innen) und die prรคgende Wirklichkeit um die Lรคnge des mรผhseligen Neu-Aufbaus des eigenen Weges lassen auch so manchen Nicht-Rassisten zu einem Feind jedes neuen Mitbรผrgers werden. Und immer schwingt die รผble Erfahrung mit, dass man mit โehrlicher Arbeit eben nicht reich wirdโ.
Man muss Christian Stรถckers Fazit auf SPON also zustimmen. โLiebe Ostdeutsche: Die Flรผchtlinge sind nicht schuld daran, wie ihr euch fรผhlt.โ Die klugen Ostdeutschen wissen das. Nun wird es also Zeit, im Sinne der gesamtdeutschen Selbstvergewisserung รผber die Fehler bis hier und die Zukunft gleichermaรen zu sprechen.
Dann wird es ein anderes Land.
Zwischen รberalterung und verschรคrftem Polizeigesetz: Der Ostdeutsche, das vรถllig unbegreifliche Wesen
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Dankeschรถn, lieber Michael Freitag, fรผr deine klugen, umfassenden Gedanken und deine zu weiteren Gedanken anregende Analyse des Themas.
Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang scheint mir auch der Riss, der durch die ostdeutschen Generationen ging. Ich denke, die, die bei der letzten Volkskammerwahl 1990 zu รผberraschenden 53% die Allianz fรผr Deutschland (AfD) gewรคhlt haben, waren vor allem die รคlteren, die sich mit DM sofort und Kohl als Garant fรผr die รbernahme auch der ostdeutschen CDU und die sofortige Wiedervereinigung nach BRD-Regeln, sowohl persรถnlich als auch finanziell abgesichert einrichten konnten.
Diese erhielten wegen langjรคhriger Betriebszugehรถrigkeit hohe Abfindungen, konnten in irgendwelchen Auffanggesellschaften weiterarbeiten oder gingen gleich in den vorzeitigen Ruhestand. (Von denen, die bereits weit vor der โoffensichtlichen Wendeโ Grundstรผcke erwarben, hier mal abgesehen.)
Die jรผngeren verloren durch die Treuhand-Betriebsschlieรungen ihre (anspruchsvollen) Lehrstellen bzw. wanderten รผber teilweise sinnfreie Kurzarbeit in die Arbeitslosigkeit (oder machten sich ohne Eigenkapital spรคter selbstรคndig.). (Neue Lehrstellen gab es wohl hauptsรคchlich fรผr Maurer (da reicht der Hauptschulabschluss, also Klasse 8. Auch heute noch findet sich auch dort der gewaltbereite Kern der (Neo-)Nazis.)
Gleichzeitig waren die jรผngeren nicht nur die โunberateneโ Generation, also ohne bzw. mit teilweise fragwรผrdigen politischen Vorbildern in der Familie, sondern leben bis heute mit dem Vorwurf ihrer Eltern, nichts zu Stande bekommen zu haben. Untergrรผndig mitschwingend immer die Ansage: โIch habe es unter schwierigeren Bedingungen zu etwas gebracht. Und wer das nicht kann, ist halt selbst dran Schuld.โ.
Nicht vergessen werden dรผrfen auch die, die sich von Anfang an gegen das Erstarken der Rechten, auch im konservativem Gewand, wandten. Von linken Punks รผber Autonome, Friedenskรคmpfer und Umweltaktivisten (und nicht die, die zu DDR-Zeiten durch ihre Privilegien geschรผtzt, mit ihrer โWichtigtuereiโ andere gefรคhrdeten und heute wieder ihr eigenes Ego gegen die Gesellschaft ausleben.), bis zu den jรผngeren, die in der einzigen linken Ost-Partei PDS mit einem frรถhlichen Gregor Gysi partei-politisch etwas bewegen wollten.
Ich denke, wenn man durch die Aufarbeitung der Treuhand ein neues Verstรคndnis zwischen Ost und West schaffen will, gehรถrt auch das โSchicksalโ der damals jรผngeren dazu. Also, ein Ost-Ost-Generationen-Problem, das in den โwestlichen Landesteilenโ auf weiteres Unverstรคndnis stoรen dรผrfte..