In Berlin sitzt eine kleine Firma, die mit neuen Methoden versucht, möglichst genaue und verlässliche Wahlprognosen zu erstellen. Sie befragt dazu nicht einfach mal 1.001 Personen im Wahlgebiet und rechnet das dann hoch, sondern stopft die Computer mit lauter schon existierenden Daten voll. Das hat Wahlkreisprognose.de jetzt auch schon mal für Sachsen gemacht. Hier sind ja 2019 Landtagswahlen. Und die Direktmandate werden dann mit Sicherheit neu verteilt.
Was ja schon zur Bundestagswahl 2017 zum großen Schock für die sächsische CDU wurde, als sie nach Zweitstimmen auf einmal nur noch hinter der AfD landete. Und das nach 27 Jahren Dauerregierung und all dem Jubel über die eigene Arbeit. Das hätte eigentlich so eine Art Reinigungsprozess bei Sachsens CDU auslösen müssen, bei dem man darüber hätte diskutieren müssen, ob das so ein besonders guter Einfall war, ab 2015 der Stimmungsmache der AfD hinterherzulaufen.
Das ist nicht passiert. Selbst beim Sachsen-Besuch von Angela Merkel benahm sich die CDU-Führung so, als wäre der CDU-Kurs in der Bundesrepublik immer noch nicht rechts genug.
So ein Denken hat fatale Folgen. Denn das stärkt genau den Gegner, den die sächsische CDU mittlerweile am stärksten fürchtet.
Wahlprognose.de hat zwar noch nicht das wahrscheinliche Zweitstimmen-Ergebnis berechnet. Aber die Berechnungen zu den Erststimmen bestätigen auch den Trend, den die Sonntagsfragen der diversen Meinungsforschungsinstitute ergeben.
Die CDU käme demnach bei der Landtagswahl nur noch auf 29,5 Prozent der Erststimmen, die AfD auf 26,5 Prozent. Das heißt: Die meisten Direktmandate (denn die wählt man ja mit seiner Erststimme) werden erstens im Bereich von 30 Prozent Stimmenanteil vergeben. Und die Entscheidungen werden in vielen Wahlkreisen denkbar knapp ausfallen. Und in der Hälfte der Wahlkreise haben nach diesen Berechnungen die AfD-Kandidaten die Nase vorn – und zwar vor allem in Ostsachsen, dort, wo die mitgliederstärksten, aber auch die konservativsten Kreisverbände der CDU zu Hause sind.
„Derzeit müsste die CDU mit stärkeren Verlusten bei der Anzahl gewinnbarer Direktmandate rechnen“, formuliert es Wahlkreisprognose.de. „Die Sachsen-CDU würde sich nahezu halbieren und nur noch in 30 Landtagswahlkreisen als stärkste Erststimmenkraft hervorgehen. Die AfD käme aus dem Stand auf 26 Direktmandate. Auch die Linke würde sich verbessern. Sie geht in vier Landtagswahlkreisen als Erststimmensiegerin hervor.“
Wir haben es immer noch mit den Erststimmen zu tun. Aber das sind ja nicht alle Abgeordneten.
In den Sächsischen Landtag ziehen immer genau 60 direkt gewählte Abgeordnete ein. Und in den letzten Jahren hat die CDU alles dafür getan, möglichst alle Direktmandate zu gewinnen, auch weil in Dresden das Vorurteil herrscht, dass nur direkt gewählte Abgeordnete „richtige“ Abgeordnete sind. Es gibt reihenweise hochkarätige Veranstaltungen in der Landeshauptstadt, zu denen ausschließlich direkt gewählte Abgeordnete eingeladen werden. Da stand dann der einstige Leipziger linke Landtagsabgeordnete Dietmar Pellmann oft genug genauso einsam unter lauter CDU-Abgeordneten wie es jetzt die Abgeordnete Juliane Nagel tut.
Aber die Zeiten, dass nur die „Gewinner“ der Wahlkreise in den Landtag kommen, sind – kurz mal nachgerechnet: ja – seit 100 Jahren vorbei. Denn wenn noch immer das wilhelminische Wahlrecht gelten würde, wäre der Landtag bald nur noch mit konservativen Abgeordneten besetzt. Grüne, FDP und SPD hätten keine Chancen.
Deswegen gibt es das Verhältniswahlrecht, das durch die Zweitstimmen bestimmt wird. Alle Parteien, die die 5-Prozent-Hürde schaffen, sind nach Verhältnis ihrer Zweitstimmen im Landtag vertreten.
Aber Sachsens CDU betrachtete den Gewinn möglichst aller Direktmandate immer auch als Machtfaktor und hat bei Wahlkämpfen immer alles dafür getan, möglichst alle Direktmandate zu gewinnen.
Deswegen war es eine echte Herausforderung, als Juliane Nagel 2014 für die Linke das Direktmandat im Leipziger Süden holte.
Und so wie die Daten aussehen, wird sie das auch 2019 schaffen.
„Juliane Nagel, die 2014 das einzige Direktmandat für die Linken gewann, könnte ihr Mandat im Wahlkreis 28 deutlich verteidigen“, so Wahlkreisprognose.de. „Der Wahlkreis umfasst unter anderem die Leipziger Stadtteile Connewitz und Südvorstadt. Chancen auf Direktmandate haben die Linken unter anderem auch in den Leipziger Wahlkreisen 30 und 31, den beiden Wahlkreisen von Justizminister Sebastian Gemkow und Christine Clauß, die zuletzt erklärte, dass sie nicht wieder antreten würde. Ebenfalls Chancen hätten die Linken im Dresdner Altstadt-Wahlkreis 45, der seit 2009 von Patrick Schreiber (CDU) gewonnen wurde.“
Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) würde im Görlitzer Landtagswahlkreis 3 nur die Nr. 2 werden: „Sollte Michael Kretschmer im Landtagswahlkreis Görlitz 3 als Direktkandidat antreten, läge er aktuell hinter der AfD-Frau Silke Grimm. Grimm hat derzeit gute Chancen auf das Direktmandat im Wahlkreis 59. Sie erreicht 38 Prozent (Erststimmenergebnis AfD 2014: 15,2 %). Kretschmer erreicht 32 Prozent (Erststimmenergebnis CDU 2014: 40,7 %).”
Wobei das für Sachsens CDU einen völlig neuen Effekt hätte: Bislang haben fast immer die Direktmandatsgewinner allein alle Sitze in der CDU-Fraktion besetzt. Ab 2019 erlebt die CDU das, was bei anderen Parteien längst normal ist: Die Hälfte ihrer Abgeordneten wird über die Landesliste (also die Zweitstimmen) ins Parlament einziehen. Wenn Michael Kretschmer da auf Listenplatz 1 steht, zieht er unter Garantie in den Landtag ein.
Wobei die Berechnungen eben auch zeigen, dass man die Zahlen noch nicht für das Endergebnis nehmen kann, auch wenn Wahlkreisprognose.de besonders stolz darauf ist, dass man zurückliegende Wahlen sehr genau vorausberechnet hat. Aber all diese Zahlen – egal, ob abgefragt und/oder hochgerechnet – suggerieren auch etwas, was man beim Medienmachen durchaus beachten sollte: Denn viele Leser nehmen solche Ergebnisse schon für bare Münze. Die Prognosen suggerieren, dass die Wahl eigentlich schon gelaufen sei, und beeinflussen damit selbst wieder das Wahlverhalten.
Dabei attestiert auch Wahlkreisprognose.de ein vielfaches Kopf-an-Kopf-Rennen in Sachsen. „36 der 60 Wahlkreise weisen nur einen Maximalvorsprung von 6 Prozent aus. In zehn Wahlkreisen übersteigt er nicht mal 3 Prozent und liegt damit im klassischen statistischen Standardfehler, der bei allen repräsentativen Prognosen auftaucht.“
SPD, FDP und Grüne sieht man chancenlos bei Direktmandaten. Aber man darf auch nicht vergessen: Der Wahlkampf hat noch nicht richtig begonnen. Oft hängt das Ergebnis vom Kandidaten vor Ort ab, ob der nun ambitioniert kämpft und seine Wähler auch anzusprechen versteht. Und noch sind die Kandidatenlisten ja nicht einmal aufgestellt – man kann also nur vermuten, wer in welchem Wahlkreis (wieder) antritt.
Aber auf jeden Fall vorbei sind die Zeiten, da die CDU die Wahlkreise wie Kleinkönigreiche behandeln konnte, in denen man das Direktmandat ganz selbstverständlich gewonnen hat.
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Die Hochrechnung beruhrt auf der Wahlkreis (WK) Einteilung von 2014. Die war damals schon an der Grenze des zumutbaren zwischen städtischen und ländlichen Wahlkreisen. Zwar darf nach sächs. WahlGesetz die Größe der WKs unterschiedlich sein (§3(2) regelt: “Die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises soll von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise nicht um mehr als 15 Prozent abweichen; beträgt die Abweichung mehr als 25 Prozent, ist eine Neuabgrenzung vorzunehmen.”), aber das Demokratiedefizit gegenüber der städtischen Bevölkerung ist seitens der CDU Sachsen bisher durchaus bewußt in Kauf genommen worden.
Sobald die neue Wahlkreiseinteilung vorliegt – Leipzig sollte mindestens 10 Wahlkreise erhalten, statt deren 8 – können wir uns die Spielerei ja nochmal anschauen.