Beim Aufbau belastbarer Personalstrukturen hängt Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) heillos hinterher. Und nun entpuppt sich auch noch ein Lieblingsprojekt seines Amtsvorgängers Markus Ulbig (CDU) als völlig willkürlich: die Einrichtung sogenannter „gefährlicher Orte“. Eigentlich gibt es ja gar keine, teilt nun stellvertretend Wissenschaftsministerin Eva-Maria Stange mit. Sie sind eher so etwas wie täglich veränderliche Einsatzschwerpunkte. Eine echte Definition gibt es gar nicht.
„Die Benennung eines genauen Zeitpunktes der Klassifizierung als gefährlicher Ort ist nicht möglich. Die polizeilichen Erkenntnisse als Grundlage einer Klassifizierung unterliegen einer permanent sich verändernden polizeilichen Lage. Die Klassifizierung eines Ortes ist somit von einer stetigen Beurteilung und Überprüfung von fortschreitenden Entwicklungen durch die örtlich zuständigen Dienststellen abhängig“, heißt es in der Regierungsantwort.
Das ganze Brimborium zur Einrichtung solcher Sonderzonen im Jahr 2017 war also reine Show. Tatsächlich entscheiden die Polizeidirektionen ganz allein, wo sie den Schwerpunkt ihrer Kontrolleinsätze setzen. Samt dem Einsatz von Bodycams, deren rechtlicher Einsatz damit noch unsicherer wird.
Was die Polizei mit diesen „gefährlichen“ oder „verrufenen Orten“ anstellt, hat der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Valentin Lippmann, bei der Staatsregierung abgefragt.
Das Ergebnis: Die Einteilung von Orten durch die sächsische Polizei als „gefährlich“ hat sich im Vergleich zu Ende 2017 verschoben. In der Antwort des Innenministeriums auf eine Kleine Anfrage von Valentin Lippmann vom 13. Juli 2018 wurden nun auch in den Städten Aue, Stollberg, Annaberg, Rochlitz und Görlitz vermehrt Gebiete als sogenannte „gefährliche Orte“ klassifiziert.
Währenddessen wurden in Chemnitz und Freiberg nun erheblich weniger Orte angegeben als bei der Beantwortung einer Anfrage des Abgeordneten am 21. Dezember 2017 (Drucksache 6/11345). Wurden im Dezember 2017 insgesamt 67 Straßen und Plätze in Chemnitz, Freiberg, Dresden und Leipzig als ‚gefährlich‘ angegeben, sind jetzt insgesamt 61 Orte als gefährlich oder verrufen klassifiziert (Drucksache 6/13749).
„Die stark variierende Einstufung von Orten als ‚gefährlich‘ zeigt, wie willkürlich dieses Instrument gegenwärtig genutzt wird“, kritisiert Valentin Lippmann, innenpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Sächsischen Landtag. „Ob der Platz vor dem ‚Eine Welt Laden‘ in Freiberg oder der Vorplatz des Einkaufsmarktes in Burgstädt (Landkreis Mittelsachsen) tatsächlich so gefährlich sind, dass anlasslose Identitätsfeststellungen verhältnismäßig sind, bezweifle ich stark.
Es scheint vielmehr, als handele es sich bei der Einstufung von Straßen und Plätzen als ‚gefährlich‘ um ein bequemes Mittel, um in Sachsen massiv verdeckte Kontrollbereiche zu errichten, um dort nach Belieben Personenkontrollen durchführen zu können. Dies ist ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Bürgerrechte.“
Aber es würde zur Big-Brother-Mentalität der sächsischen Staatsregierung passen, die eine desolate Personalpolitik mit einer medienwirksamen Hardliner-Politik nunmehr fast flächendeckend im Land kaschiert. Den Bürgern wird Schlagkraft demonstriert, ohne dass sich an den personellen Grundproblemen irgendetwas geändert hat. Und es sieht ganz so aus, als fokussierten sich die Polizeipräsidenten auf Orte, an denen sich besonders viele Flüchtlinge aufhalten.
Etwas, was der Görlitzer Landtagsabgeordnete, Stadtrat und Kreisrat Mirko Schultze (Die Linke) für Görlitz thematisiert.
„Wenn man lange genug etwas behauptet, wird es schon wahr werden, so oder so ähnlich scheint die Denkweise in der sächsischen Polizei und im Speziellen in der Polizeidirektion Görlitz zu sein. Wer die Görlitzer Altstadt kennt, kann nur zum Schluss kommen: Es gibt noch eine zweite Görlitzer Altstadt, von der die Polizei hier spricht“, kommentiert er den „gefährlichen Ort“ Görlitzer Altstadt. „Ich glaube, dass mit dem Konstrukt der ,gefährlichen Orte‘ vor allem neue polizeiliche Maßnahmen, weitere Einschränkungen der Freiheitsrechte und erweiterte Polizeibefugnisse gerechtfertigt werden sollen.
Das neue Polizeigesetz mit seinen besonderen Kontroll- und Erfassungsmöglichkeiten im grenznahen Raum, auch in Görlitz, wird ja nur akzeptiert werden, wenn genug Angst vor Kriminalität herrscht und das subjektive Sicherheitsempfinden schlecht ist. Ich rufe den Oberbürgermeister von Görlitz auf, sich mit dem Polizeipräsidenten in Verbindung zu setzen und klare Worte zu finden. Die Anziehungskraft der sich entwickelnden, attraktiven Görlitzer Altstadt darf nicht durch Panikmache zerstört werden.“
Gegen wen sich dieses „dynamische“ Einsatzmodell richtet, wie es in der Regierungsantwort benannt wird, ist für Valentin Lippmann ziemlich klar: „Bei der Einschätzung der Orte fällt außerdem ins Auge, dass Geflüchtetenunterkünfte sehr häufig als ‚gefährliche Orte‘ eingestuft werden. Dass Geflüchtete generell verdächtigt werden mit Straftaten in Verbindung zu stehen, ist nicht hinnehmbar und zeigt die mangelnde Objektivität der Gefahrenprognose.
Ich fordere die Staatsregierung auf, zukünftig auf das Instrument der ‚gefährlichen Orte‘ als Grundlage für verdachtsunabhängige Personenkontrollen zu verzichten“, so der Abgeordnete. „Sie sind aus meiner Sicht vollkommen unnötig, da Personenkontrollen aufgrund eines konkreten Verdachtes jederzeit auch ohne dieses Konstrukt möglich sind.“
Bereits im Dezember 2017 gab die Sächsische Staatsregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Valentin Lippmann an, welche Orte in Sachsen gemäß Paragraf 19 Abs.1 Nr. 2 des Sächsischen Polizeigesetzes (SächsPolG) als gefährlich eingestuft werden. Zu den gefährlichen Orten in Dresden und Leipzig, an denen auch Bodycams eingesetzt werden, kommen nach Angabe der Staatsregierung seit dem 3. April 2018 das Umfeld der Centrum Galerie in Dresden sowie das Umfeld um den westlichen Bereich der Zweinaundorfer Straße in Leipzig hinzu. Bis heute ist die Rechtsgrundlage für den Einsatz der Bodycams nicht wirklich geklärt in Sachsen.
„Den Einsatz von Bodycams an den in Dresden und Leipzig klassifizierten ‚gefährlichen Orten‘ ohne gesetzliche Regelung und auf Basis dieses rechtlich fragwürdigen Konstrukts halte ich nach wie vor für rechtswidrig“, erklärt Lippmann.
Keine Rechtsgrundlage: Grüne fordern sofortigen Stopp des Bodycam-Einsatzes in Sachsen
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