KommentarAm vergangenen Mittwoch hat er seinen Rücktritt angekündigt: Stanislaw Tillich, Ministerpräsident des Freistaates Sachsen. Er war nach dem schlechten Abschneiden der sächsischen CDU bei den Bundestagswahlen am 24. September 2017 stark unter Druck geraten. Dass sich die als unschlagbar gerierende sächsische CDU, deren rechte Flanke immer weit geöffnet war, der völkisch-nationalistisch ausgerichteten AfD geschlagen geben musste, hat die Partei geschockt.
Denn nun wurde offenbar: Alle Versuche, den über Jahrzehnte gewachsenen, alltäglichen Rechtsradikalismus zu beschönigen und zu vereinnahmen, sind gescheitert. Er hat sich zunächst mit der NPD und nun mit der AfD fest etabliert – und gleichzeitig die CDU in Sachsen immer weiter nach rechts gezogen.
10 Tage nach der Bundestagswahl veröffentlichte die Wochenzeitung DIE ZEIT in ihrer Regionalausgabe „ZEIT im Osten“ ein Interview mit dem ersten Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen nach der Friedlichen Revolution 1989 Kurt Biedenkopf und seiner Frau Ingrid (http://www.zeit.de/2017/41/cdu-sachsen-kurt-biedenkopf-wahlergebnis). In diesem an sich oberpeinlichen, weil vor alterseitler Selbstgerechtigkeit nur so triefenden Gespräch äußert sich Biedenkopf genauso abfällig zu Tillich, wie er es zu Zeiten schon über dessen Vorgänger Georg Milbradt getan hatte – so, als ob es für einen wie Biedenkopf keinen angemessenen Nachfolger geben kann.
Nicht wenige sehen in diesem Interview den Todesstoß für Tillich als Ministerpräsidenten.
Biedenkopf der Retter der sächsischen CDU?
Damit würde man dem „König von Sachsen“ zu viel Ehre antun. Denn eines wird durch das Interview schonungslos offengelegt (ohne dass dies beabsichtigt war): das System Biedenkopf, nämlich die CDU in Sachsen als Staatspartei aufzustellen, den Ministerpräsidenten als Patriarchen zu zelebrieren und das Volk zu bemuttern (dafür war dann „Queen“ Ingrid zuständig), hat Leute wie Milbradt, Tillich, Rößler, Kupfer hochgespült. Im Windschatten der wirtschaftlich durchaus erfolgreichen, aber demokratisch wenig nachhaltigen Politik Biedenkopfs und seiner Nachfolger konnte beides wachsen: der rechtsnationale Flügel der CDU und die rechtsradikale Szene in Sachsen mit dem Kulminationspunkt AfD.
Darum ist es wenig glaubwürdig, wenn sich Biedenkopf jetzt als Problemlöser inszeniert, der nebenbei auch noch sein „Lebenswerk“ retten will. Nein, Biedenkopf trägt ein hohes Maß an Verantwortung für den desolaten Zustand des politischen Sachsens, ist also Teil des Problems. Seine wiederholte absurde Einschätzung, dass die Sachsen „immun gegenüber Rechtsradikalismus“ seien, unterstreicht dies.
In den vergangenen fast 30 Jahren ist das auf der Strecke geblieben, was heute nicht nur der CDU schwer auf die Füße fällt: die Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie als die Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, in dem allein die Grundanliegen der Friedlichen Revolution verwirklicht werden können. Stattdessen wurde mit zunehmender Rasanz der Freistaat kaputtgespart mit fatalen Folgen vor allem im kommunalen Bereich und in der Bildung – bestens dargestellt von Frank Seibel (Sächsische Zeitung): Die Wutsuppe in Sachsen kochte schon vor Pegida und AfD.
Kaschiert wurde diese Politik mit dem Ziel eines ausgeglichenen Haushalts und den Erfolgen sächsischer Schüler bei den PISA-Studien. Die fatale Schattenseite dieser Politik: Ausdünnung der öffentlichen Aufgaben, insbesondere der Personalabbau bei Polizei und örtlichen Ordnungsämtern. Damit verbunden war der Verlust des Sicherheitsgefühls. Nebenbei: Dieses Problem setzte schon unmittelbar nach 1989/90 ein (und nicht erst mit dem EU-Beitritt Polens, Tschechiens und Bulgariens oder mit der Zuwanderung ab 2011).
Denn mit dem Wegfall von Mauer und Stacheldraht und den neuen Freiheitsmöglichkeiten verspürten viele Menschen eine tiefe Verunsicherung. Dieses Gefühl wucherte nicht zuletzt bei denen, die nun für die Durchsetzung der neuen Bestimmungen, aber auch für Bildung und Ausbildung zuständig waren. Darüber aber wurde keine wirkliche Debatte vor Ort geführt. Denn dem Bürger wurde vermittelt: In Sachsen ist alles in Ordnung. Viele Bürgerinnen und Bürger aber spüren sehr deutlich, dass da vieles nicht in Ordnung ist – und schieben das fatalerweise auf das demokratische System und ihre Repräsentanten.
Ähnliches spielt sich in dem zweiten Bereich ab, der kaputtgespart wurde: die Bildung. Jahrelang hat sich die sächsische CDU im Erfolg bei den PISA-Studien gesonnt. Doch die Kehrseite, dass Sachsen den höchsten Anteil an Schulabbrechern zu verzeichnen hat, wird verschwiegen und gar nicht als Problem gesehen. Statt die Lehrerausbildung zu profilieren, statt die Bildungspläne zu entmüllen, statt die Persönlichkeitsbildung zu fördern und der kulturellen und musischen Bildung in allen Schulformen neues Gewicht zu verleihen, hat man den Schulbereich personell und sachlich ausgedünnt und die sozialen Differenzen verstärkt.
Völlig auf der Strecke geblieben ist die politische und die Demokratiebildung in allen Bildungseinrichtungen von der Kita bis zu den Universitäten (diese sind in Sachsen nach wie vor demokratiefreie Zonen, sollen aber die Führungskräfte der demokratischen Gesellschaft ausbilden!), also die Förderung junger Menschen, sich an öffentlichen Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Das aber setzt voraus, dass von Erzieher/innen und Lehrkräften das demokratische System, die Vielfalt einer offenen Gesellschaft und ein multikulturelles und multireligiöses Zusammenleben bejaht und mitgestaltet werden.
Wenn aber eine völkische Partei wie die AfD in Sachsen von 30 Prozent der Wähler/innen Zustimmung erfährt, dann sollte sich niemand Illusionen hingeben, wie die politische Stimmungslage unter den aktuellen Lehrkräften aussieht: Da ist die Demokratieverachtung bei allzu vielen Führungskräften unserer Gesellschaft virulent.
Das alles geht vor allem aufs Konto der sächsischen CDU. Diese schickt sich nun an, Michael Kretschmer zum neuen Ministerpräsidenten zu wählen. Verspricht er den Neuanfang? Da sind viele Zweifel angebracht. Kurz nach seiner Nominierung trat er für „deutsche Werte“ ein, für die er verstärkt eintreten will – allerdings ohne auszuführen, was wir uns unter „deutschen Werten“ vorstellen sollen (im Vergleich zu „englischen“ oder „tschechischen“ Werten).
Das klingt nach dem Kretschmer, der zusammen mit dem selbsternannten Patriotismusbeauftragten der sächsischen CDU, Matthias Rößler, 2016 eine „Leit- und Rahmenkultur“ forderte. Auch sind von Kretschmer wenige Äußerungen bekannt, die darauf schließen lassen, dass er tatsächlich „verstanden“ hat. Denn solange die CDU nicht alles dafür tut, dass die rechtsstaatliche Demokratie und die Grundwerte der Verfassung in der Bevölkerung höhere Akzeptanz erlangen und gleichzeitig allen völkischen und nationalistischen Umtrieben entschieden entgegentritt, wird Sachsen bald zum „Stammland“ der völkischen AfD.
Hier nun kommt dem Koalitionspartner SPD eine entscheidende Rolle zu. Sie muss in den nächsten Wochen auf vier Feldern klare Positionen einnehmen, Forderungen stellen und diese offensiv vertreten:
- Bejahung der Europäischen Union und einer europäisch ausgerichteten Politik im Dreiländereck Polen-Tschechien-Deutschland. Das setzt eine entschlossene Förderung kultureller und religiöser Vielfalt voraus.
- Ein neuer Aufbruch zur Demokratie in allen Bereichen der Gesellschaft, insbesondere im Bildungsbereich.
- Eine sozial gerechte Bildungspolitik, die die Persönlichkeitsentwicklung des Schülers/der Schülerin unabhängig von Herkunft in den Mittelpunkt stellt.
- Ausbau der öffentlichen Verwaltung unter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger und Ausbau der Bereiche, die für die Sicherheit der in Sachsen lebenden Menschen sorgen.
Nur wenn die sächsische Sozialdemokratie diese Grundforderungen in einen demokratischen Erneuerungsprozess einbettet und selbstbewusst-entschlossen verfolgt und kommuniziert, besteht die Aussicht auf einen gesellschaftspolitischen Wandel in Sachsen. Für Zurückhaltung ist keine Zeit. Klarheit ist gefragt.
Die neue LZ Nr. 48 ist da: Zwischen Weiterso, Mut zum Wolf und der Frage nach der Zukunft der Demokratie
Zwischen Weiterso, Mut zum Wolf und der Frage nach der Zukunft der Demokratie
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