Nicht nur aus der Landtagsopposition bekommt die am 11. Oktober von Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) und Innenminister Markus Ulbig (CDU) verkündete „Landkreisbezogene Wohnsitzauflage“ heftige Kritik. Als „zahnlosen Papiertiger, der völlig die Realitäten verkennt“, hat Nordsachsens Landrat Kai Emanuel (parteilos) die Wohnsitzauflage für Flüchtlinge in Sachsen bezeichnet.
Die Flüchtlinge sollen demnach mindestens ein Jahr in dem Ort wohnen bleiben, der ihnen im Asylverfahren zugewiesen wurde, um den starken Zuzug in Großstädte wie Leipzig und Dresden einzudämmen.
Selbst Petra Köpping hat diese seltsame Lenkungsfunktion betont: „Die Wohnsitzauflage ist ein wichtiges integrationspolitisches Instrument, wenn es darum geht, die einigermaßen gleichmäßige Verteilung der Geflüchteten in Sachsen beizubehalten. Wenn wir nicht gegensteuern, gibt es einen enormen Zuzug in die großen Städte, allen voran Dresden und Leipzig. Damit steigt die Gefahr, dass die Sprachkursangebote in den Städten aus allen Nähten platzen, während es im ländlichen Raum nur eine zu geringe Anzahl von Teilnehmenden gibt. Wir wollen weiterhin auch verhindern, dass die städtische Infrastruktur, zum Beispiel bei Kindertageseinrichtungen oder Schulen, an ihre Belastungsgrenze gerät. Integration bedeutet fördern und fordern, insoweit ist diese Wohnsitzauflage eine wichtiger Baustein zur gelingenden Integration in Sachsen. Andere Bundesländer haben uns das vorgemacht.“
Aber so wird das niemals irgendetwas Sinnvolles, kritisiert Kai Emanuel.
„Bei allem Verständnis für die Probleme der großen Städte. So werden diese bestimmt nicht gelöst“, kritisiert Emanuel und fühlt sich brüskiert: „Der Sächsische Landkreistag hat der Ministerin gerade erst seine Bedenken zur Einführung der Wohnsitzauflage schriftlich dargelegt, doch diese geht darüber hinweg und lässt via Medien mitteilen, dass es dazu einen Erlass aus dem Innenministerium geben wird. So geht man nicht mit Landräten um!“
Viele Fragen seien ungeklärt, merkt der Landrat an: „Wer soll denn kontrollieren, wo sich jemand tatsächlich aufhält? Wenn ein anerkannter Flüchtling beispielsweise in Taucha gemeldet ist, kann er ja trotzdem jederzeit in Leipzig zu Besuch sein. Und wie sollen denn Sanktionen durchgesetzt werden? Durch Leistungskürzungen? Das Geld kommt doch vom Job-Center und nicht vom Landratsamt. Ein Gesetz beziehungsweise Erlass muss plausibel und praktisch umsetzbar sein. Die Wohnsitzauflage für Sachsen ist es nicht. Somit dient sie nicht der Glaubwürdigkeit und lässt sich der Bevölkerung im ländlichen Raum auch nicht vermitteln. Ich hatte gehofft, dass gerade nach den Ergebnissen der Bundestagswahl andere Schlussfolgerungen gezogen werden.“
Und auch aus der Linken kommt deutliche Kritik an der Entscheidung des Lenkungsausschusses Asyl.
„Wie Einheimische auch ziehen Geflüchtete an Orte, an denen sie auf Arbeit und soziale Kontakte hoffen können. Die Wohnsitzauflage für anerkannte Geflüchtete im SGB-II-Bezug steht der Integration im Weg. Wir wollen, dass die Staatsregierung stattdessen die Lebensqualität im ländlichen Raum erhöht – davon profitieren Einheimische und Geflüchtete gleichermaßen“, kommentiert Juliane Nagel, Sprecherin für Migrations- und Flüchtlingspolitik der Linksfraktion im Landtag, diesen hilflosen Versuch, die Integrationsprobleme im ländlichen Raum durch Wohnsitzfestlegungen irgendwie lösen zu wollen.
Dass Asylsuchende doch lieber in die großen Städte ziehen, hat mit den fehlenden Infrastrukturen im ländlichen Raum zu tun, ein Thema, das die sächsische Regierung seit zehn Jahren ignoriert hat. Jetzt versucht sie ordnungspolitisch zu lösen, was sie mit einer falschen Strukturpolitik erst erzeugt hat.
„Anstelle staatlicher Zwangsmaßnahmen, die das Versagen der CDU-geführten Regierung überdecken sollen, wollen wir eine Wirtschaftsförderung, die Arbeitsplatzangebote schafft, zudem Bildungsangebote auf dem Land, genug Ärzte und akzeptable Mobilitätsstrukturen“, beschreibt Juliane Nagel, was eigentlich passieren müsste, von Landesseite aber schlicht unterlassen wird. „Dann klappt es auch wieder mit dem Zuzug in die Flächenkreise. Für die Abwanderung in die Großstädte sind weder Einheimische noch Geflüchtete verantwortlich, sondern die CDU-Politik, die Menschen vom Lande vertreibt. Auch unter den spiegelbildlichen Kapazitätsproblemen in den Großstädten leiden Einheimische wie Geflüchtete gleichermaßen. Die Situation wird sich nur entspannen lassen, wenn in ganz Sachsen zielgenau dort investiert wird, wo es brennt – in die Wohnraumförderung, in mehr Bildungsmöglichkeiten auch für Menschen ohne Schulabschluss, in eine flächendeckende öffentliche Infrastruktur.“
Die Wohnsitzauflage dürfte, so sieht sie es, auch gegen europäisches Recht verstoßen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im März 2016 geurteilt, dass eine solche Regelung gegen die EU-Qualifikationsrichtlinie verstößt, wenn ihr Zweck die gleichmäßige Verteilung der Kosten für Sozialleistungen ist. Das Integrations- und das Innenministerium begründen die Auflage indes vor allem per Verweis auf die Kosten- bzw. Lastenverteilung.
Die Linksfraktion arbeite derzeit an einem Integrationsgesetz für Sachsen, betont Nagel: „Wir wollen, dass alle Gebietskörperschaften – auch die Landkreise – zur Umsetzung von Integrationsmaßnahmen verpflichtet und durch Landesmittel in die Lage versetzt werden, diese Aufgaben zu erfüllen.“
Und auch bei den Grünen sieht man in dem Gesetz nur eine sinnlose Verteilmaßnahme, die mit wirklicher Integration nichts zu tun hat.
„Eine landesweite Wohnsitzregelung, die geflüchtete Menschen dazu zwingt, in ländlichen Regionen zu bleiben, lehne ich ab. Geflüchtete müssen wie alle anderen Menschen dorthin ziehen können, wo sie für sich Perspektiven sehen. Der Zwang, in einem bestimmten Ort wohnen zu müssen oder sich in einem bestimmten Ort gerade nicht niederlassen zu dürfen, ist ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht auf Freizügigkeit und freie Wahl des Wohnsitzes“, erklärt Petra Zais, asylpolitische Sprecherin der Grünenfraktion. „Anstatt in die Freiheitsrechte der geflüchteten Menschen einzugreifen, müssen die ländlichen Gebiete, die von Abwanderung betroffen sind, mit konkreten Angeboten – wie bezahlbaren Wohnraum, Jobs, Kita- und Schulplätze – um den Verbleib in der Region werben.“
Oder um es einmal so zu sagen: Die übers Land verteilten Asylsuchenden leiden unter denselben fehlenden Angeboten wie die Einheimischen. Die ländlichen Räume sind infrastrukturell und auch wirtschaftlich ausgedünnt. Und Sachsens Regierung hat nie gegengesteuert, sich aber völlig ratlos gestellt, als die Proteste gegen die Asylsuchenden ausgerechnet in diesen ausgedünnten Räumen begannen.
Begriffen, dass man ein deftiges Infrastrukturproblem hat in Sachsen, hat diese Regierung noch immer nicht.
Nach dem Urteil des EUGH vom März 2016 ist die Wohnsitzauflage nur dann möglich, solange sie der Integration dient und nicht einer gleichmäßigen Verteilung von Soziallasten.
„In den bisherigen Pro-Argumenten von Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) nimmt aber genau der Punkt der Verteilung von sogenannten Soziallasten die zentrale Stelle ein. Ein Perspektivwechsel auf die Motivation, die der Wanderung in die Ballungszentren zugrunde liegt, wäre deshalb dringend geboten“, erklärt Petra Zais. „Wenn die Integrationsministerin die mögliche Entwicklung sozialer Brennpunkte in den sächsischen Großstädten durch einen Wohnsitzzwang verhindern will, verkennt sie ganz klar Ursache und Wirkung. Ein sozialer Brennpunkt entsteht nicht zwingend dort, wo viele Menschen auf engem Raum zusammenleben, denn das ist in jeder Großstadt der Fall. Ein Viertel bekommt erst dann ein Problem, wenn soziale Ausgrenzung den Alltag der Menschen bestimmt.“
Die Großstädte werden also zwangsläufig auch die Hauptlast der Integration schultern müssen. Wäre die Staatsregierung klug, würde sie hier gezielt investieren.
Oder mit den Worten von Petra Zais: „Deshalb muss genau dort mehr investiert werden in Kita, Schule, Erwachsenenbildung und kulturelle Angebote. Die sächsischen Ballungszentren Dresden, Leipzig und Chemnitz brauchen die solidarische Unterstützung des Freistaates und der Landkreise. Die von der Bundesregierung zur Verfügung gestellten Integrationsgelder müssen deshalb zunächst dahin verteilt werden, wo die Geflüchteten tatsächlich leben. Darüber hinaus muss der Freistaat zügig für eine Aufstockung der den Großstädten zur Verfügung gestellten Mittel für den Kita- und Schulhausbau sowie den Wohnungsbau sorgen.“
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