KommentarEs geht nicht um Schuld. Es geht auch nicht um regionalen Weltuntergang. Nicht um Mauerbau und den schmerzhaften Stacheldraht der Stigmatisierung von Landesteilen. Dorfchemnitz ist überall – der Ort mit anderthalbtausend Einwohnern, in dem fast jeder zweite von ihnen AfD wählte. Auf einmal rückt die mittelsächsische Gemeinde in den medialen Fokus, in dem sie vorher nicht stand, trabt ein gewaltiger Journalistentross heran, weil dort wie im Dorf Güllen der Tragikomödie des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt zwar keine „Alte Dame“ mit einer Milliarde in der Tasche die verlotterte Kleinstadt besucht, sondern weil dort das ideal-kapitalistische „Schneller-Höher-Weiter“-Prinzip den regionalpolitischen „Rechtsrumms“- Höhepunkt („BILD“ am Nachwahlmontag) erfuhr.
Mag die Parallele eventuell eigenartig sein, liegt man in historischen Vergleichen zwangsläufig schief: In dem gesellschaftskritischen Drama Dürrenmatts bringen die Dorfbewohner ihren Bürgermeisterkandidaten um, weil ihnen die private und Gemeindesanierung versprochen wird – für viel Geld werden die Güllener zum Mörder. Schieben fadenscheinige Gründe vor und werfen moralische Beruhigungspillen ein.
In sächsischen Dorfgemeinden zwingt man die herrschenden Parteien, die Politiker „Oben“ zur Achtsamkeit gegenüber „Unten“ – indem man Kryptofaschisten wählt und ihrer nationalen Demagogie glaubt. Geflüchtete gegebenenfalls jagt. Und immer geht es um die Kohle. Oder nicht? Oder doch?
Capitalism – not at it´s best.
Er lässt so vieles zu. Nur verzeiht er das Danebenliegen im Leben nicht, das Nicht-Zurechtkommen, das Lautwerden dabei, eine Kollektivneurose. Unterstellt alles einem Selbstoptimierungszwang, der Selbst-Reflektion, der Selbst-Korrektur. „Unterm Strich zähl ich!“ lautet sein Prinzip. Wer nicht mithalten kann, ist selbst schuld, wer das richtige Bewusstsein verfehlt, muss trotzdem klarkommen, wozu gibt es Anlaufstellen, die Dorfkirche, den Sportverein? Alles richtig.
Nur Möglichkeiten, falls vorhanden, sind nicht Fähigkeiten, und es wurde schon vor Jahren versäumt, dass Fähigkeiten nur potenzieller Natur sein können, sie sich nicht automatisch in „political“ und vor allem „democratical correctness“ zeigen, um dann dauerhaft unverrückbar dazustehen. Was man den Ostdeutschen abverlangte, hatten sie schon vorher satt. Sie sollten sich abfinden, mit Worthülsen wie „Wohlstand“, „Freiheit statt Sozialismus“ und „Sozial ist was Arbeit schafft“ ihre Welt zurechtschmücken, die ihnen kaum Begegnungsstätten, dafür aber schöne Flatscreenmonitore für heimische Wohnzimmer verschaffte.
Darin eine Auswahl schrägster Unterhaltungsformate, die ihnen vom Dauerschleifentatort über Volksmusikgedöns und Gorillarülpsen im Zoo am Abend die zurechtgeschneiderte „Bei-uns-ist-soweit-alles-ok-die-anderen-brauchen-unsere Hilfe“ Tagesschau die unüberschaubaren Probleme der Welt erklärte.
Und so zeigte sich ein gespaltenes Bild der ostdeutschen Nation
Frau Dr. Müller-Ebenfeld, seit 1992 Wahl-Leipzigerin mit Maisonette-Wohnung im Waldstraßenviertel, ist „stolz auf ihr Leipzig, findet es ganz toll, jetzt auch W-LAN im Café Dingsbums zu haben“, kannte Gerhard Schröder noch persönlich und kann „gar nicht verstehen, wie der Osten …“ Sie schätzt die Errungenschaften der Demokratie, erlaubt ihrem Auszubildenden den Blick in die weite Welt, fördert ihn und hat auch schon einmal „Platz genommen“ gegen Legida.
Dort sieht sie Manfred, 53, aus Krostitz, der irgendwie den Eindruck hat, dass die „Wessis immer alles besser wissen, eigentlich keine Ahnung von unserer Mentalität hier haben“. Manfred hat einen sicheren Job bei einem Zulieferbetrieb für Automobilteile, verdient „gutes Geld“, aber irgendwie wird alles teurer und das „Sky“-Abo ist auch nicht mehr das, was es mal war. Er freut sich, dass Leipzig wieder im internationalen Fußballgeschäft ist, versteht aber nicht, warum in der letzten Zeit so viele Ausländer aus komischen „Rumbel-Zumbel“-Ländern nach Deutschland kommen.
Manfred ist „kein Nazi“, aber ihn kotzt es an, „was die hier mit uns machen.“ Natürlich wählt er rechts, denn die „Linken sind doch die Bösen, oder?“
Kann man so etwas ernst nehmen?
Ja, muss man, wenn man zulässt, dass Verschiedenheit und Toleranz als demokratische Werte beigebracht werden müssen. Ge-lernt werden müssen. Man lernt aber nichts, wenn immer über einen bestimmt wurde. Man niemals selbst Verantwortung für politisches Handeln übernehmen musste. „Mehr als anbieten kann ich nicht.“ Höre ich oft von Kollegen. Nein, das reicht nicht, Frau Dr. Müller-Ebenfeld.
Sie besitzen den Vorzug der Erkenntnis, haben die westdeutsche Sozialisation mit all ihren Widersprüchen erleben dürfen, hatten bei Enttäuschungen auch das nötige Kleingeld in der Tasche, 3 Wochen Urlaub in der Toskana unter Goethe-Akazien und am Pool machen zu können, und, was noch wichtiger ist: Sie haben begriffen, dass Körper und Seele das eigentliche „Wohnzimmer“ sind, das gepflegt und beschaulich gestaltet werden muss.
Ein Vorzug, der nicht selbstverständlich ist, eine Verstehensleistung, die erst einmal erbracht werden muss.
Manfred hat immer funktioniert, er geht pünktlich zur Schicht, weiß nicht genau, was „soziale Segregation“ bedeutet. Er weiß aber, dass er als Mensch einen Wert hat, mehr als nur ein Zulieferteil zu sein. Er befindet sich in unguter Gesellschaft. Einer Gesellschaft des Empathieverlustes, des zugenommenen, kollektiven Egoismus außerhalb der öffentlichen Räume von städtischen Bürgergesellschaften, des Stärke-Zeigens und einem ständigen Parallelgefühl der Ich-Schwäche. Er zeigt ein böses hartes Gesicht, das zur Hälfte einem Gesellschaftsmodell entspricht. Hart, unversöhnlich, funktionstrotzig und potenziell auch menschenfeindlich.
Es geht nicht immer nur um Kohle. Auch. Es geht darum „Mehr Humanität zu wagen“. In einem manchmal sehr kalten Land. Und das nicht erst seit gestern.
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