Allmählich ist offenbar ein Art Sonderrecht entstanden, wenn es um die Arbeit der Ausländerbehörde Leipzig geht. Wie sonst ist es wohl zu erklären, dass trotz anders lautender Gesetzgebung über den Verbleib von Flüchtlingen im Falle einer Ausbildung oder Arbeitsaufnahme am Dienstag, dem 5. September 2017, zwei Polizeibeamte das Autohaus Saxe betraten, um einen Lehrling des Unternehmens zur Abschiebung abzuholen. Ein weiterer Fall in Sachsen, deren Hintergründe mehr als fraglich sind, ein ganzes Unternehmen mit 93 Mitarbeitern perplex zurücklässt und ohne rechtsstaatliche Wege wie zum Beispiel eine ordentliche Gerichtsverhandlung auskommt.
Für ein Interview zum Vorgang erklärte sich Herr Michel Franz, Prokurist bei Auto Saxe, bereit. Herr Michael Franz, Ihnen ist bei Auto Saxe ein Lehrling abhandengekommen. Wann war das und wie sind die näheren Umstände?
Am Dienstagvormittag, 5. September, waren auf einmal zwei Polizeibeamte mit Pistolen am Gürtel in unserer Werkstatt. Ich beobachtete das und begrüßte die beiden Herrn und fragte sie, was ihr Begehr sei. Daraufhin wurde mir geantwortet, dass man unseren Auszubildenden Dhruv Patel suchen würde, da gegen ihn jetzt Abschiebehaft verhängt worden wäre und sie die Aufgabe hätten, ihn abzuholen.
Daraufhin habe ich die beiden Beamten zu unserem Lehrling gebracht und sie haben ihm in einem sehr energischen Tonfall mitgeteilt, dass er nun sofort abgeschoben würde. Auf meine Frage hin, ob man das noch verhindern könne, teilten mir die beiden mit, dass man das nicht mehr verhindern könne und sie würden letztlich hier nur im Auftrag der Ausländerbehörde und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge handeln.
Um das einfach auszuschließen – es gibt auch keine Informationen darüber, ob seitens der Polizei etwas gegen Herrn Patel vorliegt?
Nein, dafür gibt es keinerlei Indizien. Die Beamten haben explizit geäußert, dass sie ihn mitnehmen, um ihn abzuschieben, da der Asylantrag negativ bescheinigt wurde (dennoch kann, wie hier vorliegend, eine Duldung ausgesprochen werden, d. Red.). Das ist der einzige Grund, was man uns auch auf mehrmalige Nachfragen hin mitgeteilt hat.
Was nahelegt, dass Ihr Lehrling nicht aus Deutschland stammt und dies der einzige Grund ist. Wer ist Dhruv Patel?
Dhruv Patel kommt aus Indien und ist 24 Jahre jung. Er hat bereits eine Ausbildung zum Ingenieur für Verfahrenstechnik in Indien abgeschlossen, nach Europa kam er über Paris. In Deutschland beantragte er Asyl und erhielt eine Duldung bis zum Jahr 2020. Nach einem verlängerten Praktikum bei Auto Saxe seit dem späten Frühjahr 2016, einem umfassenden Deutschkurs und einem Einstiegs-Qualifizierungsjahr ist er seit dem 1. August bei uns in einer Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker.
Wie haben Sie Herrn Patel kennengelernt?
Wir sind mit unserem Kollegen durch die Bundesagentur für Arbeit in Kontakt gekommen. Zu Beginn der stärkeren Flüchtlingszuwanderung haben wir dort als mittelständisches Unternehmen nachgefragt, welche KfZ-affinen Kandidaten es geben könnte. Die Bundesagentur hat dann eine Auswahl zusammengestellt, wir haben Praktika und Ausbildungsplätze angeboten. 15 Menschen waren dann in der engeren Auswahl, einige sprachen Englisch, andere ein paar Worte Deutsch oder es wurden Dolmetscher dazugeholt – und so haben wir dann letztlich Herrn Patel kennengelernt.
Man muss auch einfach dazusagen, in den ersten neun Monaten des Qualifizierungsjahres hat sich Dhruv Patel fachlich so weit entwickelt, dass er sogar gleich mit dem zweiten Ausbildungsjahr im Unternehmen und in der Berufsschule starten konnte. Auch natürlich, weil er daneben die Volkshochschule besuchte und jetzt ein sehr, sehr gutes Deutsch spricht.
Für Sie und „Auto Saxe“ als Arbeitgeber also seitens der Arbeitsagentur ein offizieller Vorgang und im Unternehmen eher schon ein mehr als idealer Verlauf. Die sogenannte „Bleibeperspektive“ ist demnach doch mehr als gegeben. Sie müssen doch davon ausgegangen sein, dass es gar nicht zu einer Abschiebung kommen kann?
Ja, wir sind fest davon ausgegangen, dass so eine Abschiebung überhaupt nicht passieren kann, vor allem nach dem Integrationsgesetz. Was die Regelung vorsieht, dass für mindestens die drei Jahre Ausbildung und nochmals zwei Jahre danach Bleibe- und Duldungsrecht gilt.
Man muss sich das alles auch mal aus Mitarbeiterperspektive hier vorstellen. Natürlich gab es anfangs auch Skepsis, weshalb ich zum Beginn auf die Werkstattmitarbeiter zugegangen bin und folgendes vereinbart habe: Wir schauen uns das jetzt drei Wochen an und danach möchte ich von Euch, also den Alt-Gesellen hören, ob das was wird.
Schon nach knapp zwei Wochen waren zwei Altgesellen bei mir und haben mir damals ganz klar gesagt „Das wird funktionieren, wir sind auf einem guten Weg, dass er einer von uns wird.“
Also tatsächlich ein Idealzustand?
Ja, das kann man wirklich sagen. Auch was das ganze Drumherum betrifft, absolut engagiert, zuverlässig, freundlich; an Wochenenden und an Kundenabenden war Dhruv Patel immer freiwillig dabei und hat mitgeholfen, wenn es um Kundenwünsche ging. Er hat sich einfach hohe Sympathiewerte im Team erarbeitet.
Ich sag das jetzt einfach mal gerade heraus: So eine Einstellung erhoffen wir uns immer von den Azubis, die wir hier sonst einstellen. Und es ist auch einfach richtig: Wir haben Fachkräftemangel und wollen ausbilden. Im Fall von Herrn Patel sage ich Ihnen ganz klar: wir wollen ihn auch nach seiner Lehrzeit einstellen!
Was wissen Sie bislang über die Abläufe bei der Abschiebung – Ihnen sagte man doch noch, er käme in Abschiebehaft. Herr Patel ist aber bereits außer Landes?
Die beiden Beamten teilten mir nur mit, dass er jetzt in die Polizeidirektion Leipzig, in die Dimitroffstraße käme, mehr konnten die beiden Beamten mir auch nicht berichten. Er muss dann mittags dort angekommen sein und schon am Nachmittag haben wir gehört, dass er schon auf dem Weg nach Berlin sei. Am folgenden Morgen haben wir über Facebook erfahren, dass er in Katar zwischengelandet war und nun bereits auf dem Weg nach Neu-Dehli war.
Das ging alles rasend schnell. Dabei hat er auch darauf vertraut, dass er eine Duldung bis Januar 2020, also dem regulären Ende seiner Ausbildung in Deutschland hat. Weshalb er wohl auch darauf gebaut hat, was in seinem Pass stand, auch als sein Asylverfahren abschlägig beschieden wurde, hatte er ja noch seine Duldung.
Er hat bei seiner Verhaftung hier in der Werkstatt noch geäußert, dass es ein Missverständnis sein muss und dass er schnell wieder zurück wäre.
Eigentlich ein klassischer Fall für die Härtefallkommission, keinesfalls für eine Abschiebung, doch nun ist er einfach nicht mehr da.
Definitiv.
Wie ist der aktuelle Stand (Freitag, 8. September 2017)?
Wir haben natürlich noch am Dienstag versucht, mit anwaltlicher Unterstützung die Abschiebung zu verhindern, was ja dann letztlich aufgrund des extremen Tempos nicht mehr möglich war. Wir haben mit Herrn Patel per Whats-App und nun auch per E-Mail Kontakt und er hat unseren Anwälten eine Vollmacht erteilt, dass sie ihn in Deutschland vertreten können.
Er möchte demnach auch unbedingt zurück?
Ich habe gestern mit ihm per Whats-App telefoniert und er hat mir nochmals 1:1 gesagt, sein innigster Wunsch ist, nach Deutschland zurückzukehren und seine Ausbildung erfolgreich zu beenden. Ich solle alle Kollegen grüßen und er hofft weiterhin, dass er bald wieder in Leipzig ist.
Sie sind also aktuell mit weit mehr beschäftigt, als Autos zu verkaufen. Wie sehen derzeit die 93 Mitarbeiter im Autohaus diese ganze Sache?
Zuerst ist es so, dass die Kolleginnen und Kollegen genauso wie die Kunden, die zum Zeitpunkt der Verhaftung im Autohaus waren, sich wie in Schockstarre befanden. Ich habe am Mittwoch die komplette Mannschaft des Betriebes zusammengeholt und über den Vorgang und meine Versuche bei der BAMF, der Polizei, der Ausländerbehörde und den Sachstand berichtet.
Daraufhin hat einer unserer Mechaniker das Wort für die Belegschaft ergriffen und hat – was ich in den über zwei Jahrzehnten hier noch nicht erlebt habe – mir im Namen aller Kollegen den Auftrag erteilt, alles Irgendmögliche zu tun, um diese Abschiebung rückgängig zu machen.
Welche Chancen sehen Sie derzeit für die Rückkehr Ihres Lehrlings?
Also wir haben hier seine gesamte Akte vorliegen. Seine Krankenversicherungsunterlagen, seinen Ausbildungsvertrag, die „Passeinzugsquittung“, eine Kopie von seinem Reisepass, aus dem der Duldungsstatus hervorgeht.
Man hat ja folgendes mit Dhruv Patel gemacht. Man hat ihm zum gleichen Zeitpunkt, als man ihm die Duldung bis 2020 ausgesprochen hat, im Gegenzug seinen indischen Pass abgenommen. Man hat also mit ihm so eine Art Deal gemacht, dass er mit dieser Passabgabe die Duldung bekommt und seine Ausbildung machen kann. Zu vermuten ist, dass man bereits ab diesem Zeitpunkt seine Abschiebung vorbereitet hat.
Herr Patel muss dabei das Gefühl gehabt haben, dies wäre ein weiterer Schritt einer Legalisierung für ihn und wenigstens erst einmal seine Ausbildungszeit in Ihrem Unternehmen?
Absolut. Dazu passt ja auch, dass wir einen ganz normalen Ausbildungsvertrag mit ihm machen konnten, unterschrieben und gestempelt von der Handwerkskammer, nachdem diese auch nochmals alle Unterlagen geprüft hat.
Sie waren bereits beim Anwalt. Wie sehen die nächsten Schritte aus?
Die Chance, die man jetzt hat, ist, mit einer Klage gegen die Ausländerbehörde binnen von 14 Tagen und in der Folge eine gegen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vorzugehen. Jetzt beantragen wir erst einmal Akteneinsicht.
Herr Patel hat darüber hinaus ja auch einen Ausbildungs- und damit einen gültigen Arbeitsvertrag. Gibt es einen Weg über normale Einwanderung?
Das ist sicher ein denkbarer Weg. Herr Patel ist bereits in Indien dabei, mit einem Anwalt bei der deutschen Botschaft vorsprechen zu wollen.
Haben wir etwas vergessen zu fragen, wozu Sie gern noch etwas sagen wollen?
Es bleibt ein absurder Fall und wir sind nach wie vor eigentlich noch immer in tiefer Schockstarre, wie so etwas überhaupt möglich sein kann. Das merke ich auch an der Reaktion unserer Mitarbeiter, die da wirklich so eine Solidargemeinschaft bilden. Es dürfen private Bilder für die Presse genutzt werden und es wird gemeinsam alles versucht, damit er seine Ausbildung hier fortsetzen kann.
Hinzu kommt einfach auch bei diesem „grauen Thema“ Flüchtlinge, dass hier natürlich auch allen klar geworden ist, dass es ganz anders, als so gern erzählt und positiv laufen kann. Seine ganze Einstellung und sein Umgang mit den Kolleginnen und Kollegen, auch mit solchen – sagen wir mal urdeutschen – Werten wie Pünktlichkeit, Pausenzeiten (lacht) …
Wir haben einfach alle das sichere Gefühl, dass es hier um eine gelungene Integration geht. Er kam allein und hat nun sogar nach zwei Flüchtlingsunterkünften eine eigene Wohnung. Und mal unabhängig von uns als Unternehmen entsteht doch hier auch der Gesellschaft ein wirtschaftlicher Schaden! Er ist seit vier Wochen zur Fahrschule angemeldet, was wird denn jetzt mit der Wohnung?
Und noch mal: Für uns war ganz klar der Fahrplan, Dhruv Patel nach Abschluss seiner Lehre einen Arbeitsvertrag anzubieten und ihn auch dann weiterzubilden. Wir brauchen ihn hier, wir suchen händeringend Mechaniker.
Gut, dann haben wir doch noch eine Frage an Sie, als Prokurist eines Unternehmens mit 93 Angestellten. Wenn also so etwas möglich ist wie in diesem Fall, dann passt doch etwas beim Thema Fachkräftemangel nicht zusammen?
Natürlich nicht. Jetzt sind wir noch alle hier ziemlich konsterniert – aber in der Folge müssen wir uns natürlich auch fragen, wie gehen wir denn in der Folge mit dem Erlebten um? So gibt es jetzt schon viele Unternehmen, die gar nicht mehr ausbilden, weil die Qualität und Quantität der Bewerber leider unzureichend ist. Also lassen es viele gleich ganz.
Und nun müssen wir hier gegebenenfalls auch noch darüber nachdenken, ob es unter den jetzigen gesetzlichen Voraussetzungen eigentlich Sinn macht, in Ausbildung von Flüchtlingen zu investieren und weitere solche Projekte zu starten? Weil die Frage doch steht: Was hat es für einen Sinn, dass wir wieder Menschen finden, die ein Praktikum machen, die eine Ausbildung beginnen und die werden wieder abgeschoben?
Wir werden sicher auch da noch darüber nachdenken und versuchen, alle nochmals an einen Tisch zu bringen, um hier mal zu klären, wie uns Behörden und der Gesetzgeber einfach mehr Sicherheit geben können. Noch weniger nachvollziehbar ist doch, dass es scheinbar einfacher ist, hier einfach jemanden aus dem Ausbildungsbetrieb zu holen, während manche, die hier sogar kriminell werden, nicht abgeschoben werden?
In diesem Fall möchten wir Ihnen für das Gespräch danken und vor allem viel Kraft für die kommenden Schritte wünschen, um Ihren Kollegen wieder nach Leipzig zurückzuholen.
Update 11. September 2017: Nach bisherigen Informationen des Innenministeriums vom heutigen Tage ist der Grund für die urplötzliche Abschiebung, dass Herr Patel bei seinen persönlichen Daten falsche Angaben gemacht haben soll.
Auf Rückfrage an das Autohaus Saxe erklärte Michael Franz gegenüber L-IZ.de, dass man sich weiterhin bemüht, nun erst einmal die Herausgabe der Akte zu erwirken, um den Fall weiter zu prüfen. Am Wunsch, den Lehrling wieder ins Unternehmen zurückzuholen, haben die neuen Informationen derzeit nichts geändert, so Franz. Warum und was sein Lehrling falsch angegeben haben soll, weiß derzeit noch niemand.
In eigener Sache: Die Abo-Auktion geht allmählich zu Ende
Abo-Sommerauktion & Spendenaktion „Zahl doch, was Du willst“
Keine Kommentare bisher