Als der MDR am Dienstag, 20. Juni, die Ergebnisse seiner jüngsten Wahlumfrage vorstellte, waren einige Parteien ganz flott mit der Bewertung ihrer – mal besseren, mal schlechteren – Prognoseergebnisse. Nur ein Ergebnis haben sie alle geflissentlich übersehen: 46 Prozent der befragten Sachsen äußerten, sie würden sich wohl der Stimme enthalten, noch einmal 3,5 Prozent mehr als zur Bundestagswahl 2013. Was ein immer spürbarer werdendes Phänomen bestätigt.

Eines, das möglicherweise mit der „Performance“ einiger Parteien auf Bundesebene zu tun hat. Die Enttäuschung bei den Grünen formulierte ja deren Landesvorsitzender Jürgen Kasek sehr deutlich: „Das Auftreten meiner Partei auf Bundesebene war in den letzten Monaten nicht vertrauenswürdig und hat bei vielen Wählerinnen und Wählern offenbar die Frage hinterlassen, wofür wir Grüne stehen.“

Bei der Bundestagswahl kämen die Grünen in Sachsen nur noch auf 3 Prozent, 1,9 Prozent weniger als 2013. Und es sieht ganz so aus, als wäre das Phänomen bei SPD und Linkspartei genau dasselbe. Statt mit ihrem kühn gefeierten Kanzlerkandidaten Martin Schulz nun richtig zuzulegen, sackte die SPD in der Umfrage noch einmal um 3,6 Prozent ab auf 11 Prozent. Ähnlich ging es der Linkspartei, die 6 Prozent weniger bekäme als 2013.

Dafür legte die AfD noch einmal um 1,2 Prozent zu und käme – auch gegen den derzeitigen Bundestrend – auf 18 Prozent.

Und gleichzeitig würde die CDU um 3,4 Prozent auf mögliche 46 Prozent zulegen.

Was eigentlich drei Schlüsse zulässt:

  1. Die Bundestagswahl aus sächsischer Sicht spitzt sich auf die Frage zu: Merkel bleibt versus Merkel muss weg. Was auf eine ganz inhaltsfreie Polarisierung zielt: CDU wählen versus AfD wählen.

Was nach sich zieht:

  1. Den meisten Sachsen fehlt ein echter, charismatischer Herausforderer für die amtierende Kanzlerin. Was mit dem nächsten Punkt zusammenhängt:
  2. Sie sehen sich von den Spitzenkandidaten und Programmen der konkurrierenden Parteien nicht vertreten. Sie kommen dort nicht vor. Die Lösungsansätze und Visionen, die angeboten werden, haben mit ihnen und ihren Sorgen nichts zu tun.

Es ist ja nicht so, dass die Sachsen keine Sorgen haben. Sie haben zwar Teil am Wirtschaftsaufschwung. Aber die meisten kommen über eine magere Entlohnung trotzdem nicht hinaus. Weite Landstriche entvölkern sich zusehends, verlieren vor allem die Jugend. Staatliche Angebote wurden ausgedünnt. Und ein Blick auf den Rentenbescheid zeigt, dass viele Sachsen künftig mit Armut dafür zahlen werden, dass sie den Transformationsprozess im Osten getragen haben.

Die meisten gehören nicht zu jener vielbeschworenen Mittelschicht, für die sich jetzt CDU, FDP und SPD wieder allerlei Steuerwohltaten ausdenken. Sie gehören auch nicht zu jener gut versorgten Rentnergeneration, die heute zunehmend Wahlen bestimmt.

Viele von ihnen haben schon vor Jahren aufgehört, an Wahlen teilzunehmen, wenigstens jenen Hoffnungskeim zu nähren, dass sie vielleicht doch ein paar Kandidaten ins Parlament bringen, die ihre Fragen ernst nehmen und vertreten. Die ganzen verworreneren ostdeutschen Fragen.

Nur zur Erinnerung: Die meisten Entscheidungen auf Bundesebene in letzter Zeit waren Entscheidungen gegen den Osten – ob das die Milliardenpakete bei den Regionalisierungsmitteln waren oder die Aufkündigung des Solidarpakts der Länder, in dem gerade die reichen Südländer es nach einigen Jahren des heftigen Gemosers geschafft haben, sich im Bundesländerfinanzausgleich deutlich aus der Verantwortung zu nehmen.

Und keine einzige ostdeutsche Landesregierung hat reagiert, man hat es hingenommen. Die „starke Stimme aus dem Osten“, die die Probleme benennt und dafür sorgt, dass sie auch in der Bundespolitik Gehör finden, fehlt. Stattdessen hat eine lang gepflegte Haltung, die „blühenden Landschaften“ würden schon kommen, wenn man nur lang genug darauf wartet, zu einer flächendeckenden Entpolitisierung und Enttäuschung geführt. Eine Stimmungslage, von der die AfD profitiert, obwohl sie von allen Parteien die wenigsten Angebote für den Osten hat. Außer ein völlig sinnfreies „Merkel muss weg“.

Was übrigens auch auf einen Aspekt in der Wahrnehmung von Politik hindeutet, der meist vergessen wird: Wie die mediale Darstellung von Politik sich reduziert hat auf Gesichter, Persönlichkeiten und ganz wenige markante Zuschreibungen, mit denen der politische Inhalt der Kandidaten begriffen wird.

Dafür haben unsere netten Kollegen von Fernsehen und Radio gesorgt. Sie haben sich ein Publikum erzogen, das sich an Häppchenkost gewöhnt hat. Sekundenkurze Schnipsel und Statements, Nachrichten ohne Tiefgang und Zusammenhänge. Alles ist gleich, rauscht vorbei.

Eine Art Berichterstattung, an die sich einige Parteien schon bestens angepasst haben. Sie beschweren ihre möglichen Wähler nicht mehr mit Argumenten, Fakten, Zahlen, sondern reduzieren ihre Kommunikation auf Frames und simple Entweder-oder-Entscheidungen.

Schwarz und weiß, gut und böse, Merkel oder Nicht-Merkel.

Dass Martin Schulz gar kein ernsthafter Gegenkandidat mit einer deutlich kontroversen Agenda sein will, hat er ja nun gezeigt, nachdem er sich ein Wahlprogramm zusammengebastelt hat, das eher ein Verhandlungspapier des Juniorpartners SPD mit der alten und neuen Wahlsiegerin ist, wenn man den nächsten Koalitionsvertrag angeht. Da sind viele kleinmütige Vorschläge drin, aber kein mutiger. Kein einziger, der die Konfrontation sucht und die amtierende Kanzlerin zwingt, Position zu beziehen.

Das Wahlkampflied der SPD könnte glattweg lauten: „Ein bisschen mehr Gerechtigkeit.“

Das aber funktioniert in einem Medienzeitalter nicht mehr, in dem man für abwägende Positionen kaum noch Aufmerksamkeit bekommt.

Natürlich kann es nicht der Weg sein, nun mit inhaltsfreien Clips Wahlkampf machen zu wollen, die nur noch den „starken Kandidaten“ beim Machen und Tun zeigen und ansonsten mehr als Emotionen nichts zu bieten haben. Aber dass Politik heute anders funktioniert, haben ja gerade Emmanuel Macron in Frankreich und Jeremy Corbyn in England gezeigt.

Was die sächsische Sonntagsfrage zeigt, ist eben auch, dass gerade die eher linken Parteien mit ihren Botschaften und Personen im Osten nicht durchdringen. Da fehlt etwas. Und die Zeit, an dieser Fehlstelle etwas zu ändern, die ist ziemlich knapp geworden.

Die neue LZ Ausgabe Juni 2017 ist seit Freitag, 16. Juni 2017, im Handel

Die Leipziger Zeitung Nr. 44: Über die Grenzen hinaus

 

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