Wir leben in seltsamen Zeiten. Die jungen Kerle tragen Bärte so buschig wie ihre Urgroßväter, der Bundesinnenminister strengt eine Leitkultur-Debatte an, die von Arroganz geradezu trieft, und die sächsische SPD beschäftigt sich auf einmal mit Heimat 4.0. Was ist da los? Ziehen wir jetzt alle wieder Trachten an und ziehen aufs Dorf?
Mancher hat hier die eingehende Beschäftigung mit den unscharfen Leitkultur-Thesen von Bundesinnenminister Thomas de Maizière vermisst. Das wäre eine Analyse von lauter Löchern geworden. Die zehn Thesen verraten entweder die Eile, mit der der Innenminister sie schnell mal in der Frühstückspause hingeluscht hat. Oder sie verraten wirklich die Systematik seines Denkens. Und dann kann man eigentlich nur sagen: Fürchtet den Mann. Denn er denkt nicht systematisch. Er pflegt ein eklektisches Denken, bei dem sich das Banale mit dem Oberflächlichen mischt. Und das vor allem eines verrät: Die CDU und ihre krachlederne Schwesterpartei reden zwar immer wieder von Leitkultur – aber haben niemals wirklich gründlich drüber nachgedacht.
Kultur-Chauvinismus
Aber das Ganze haben wir uns gespart. Die ganze Arroganz steckt schon in These 5: „Wir sind Kulturnation. Kaum ein Land ist so geprägt von Kultur und Philosophie wie Deutschland. Deutschland hat großen Einfluss auf die kulturelle Entwicklung der ganzen Welt genommen. Bach und Goethe ‚gehören‘ der ganzen Welt und waren Deutsche.“
Das ist genau der Geist der nationalstolzen Bürger, die Deutschland auch 1914 und 1939 für etwas Besseres hielten. Da wabert der Geist des „Landes der Dichter und Denker“. Das ist sozusagen Chauvinismus auf die kulturvolle Art: „Kaum ein Land ist so geprägt von Kultur und Philosophie wie Deutschland.“
Falsch, Herr Minister. Mindestens fünf oder 20 Dutzend andere Länder sind genauso „geprägt von Kultur und Philosophie wie Deutschland“. Deutschland ist keine Ausnahme. Aber genau solche Sätze formuliert ein Mann, der sich mit Kultur und Philosophie der Welt nie beschäftigt hat und auch von beidem in Deutschland eher vom Hörensagen nur weiß, weil er vor lauter Büroarbeit zu nichts anderem mehr kommt. Einfach mal nur so als Vorschläge zum Studieren, falls er doch mal Zeit finden sollte: Griechenland, Italien, China, Frankreich, Polen, Persien, Ägypten, Spanien, Russland, Dänemark, Großbritannien … Wir zählen jetzt keine Persönlichkeiten auf. Die findet man – wer es schnell haben will – alle bei Wikipedia direkt bei den Landesartikeln.
Und man ahnt schon: Wer so fest davon überzeugt ist, einzigartig zu sein, der glaubt natürlich auch, dass er auch noch der Inhaber einer ganz besonderen Leitkultur ist.
Die Thesen zeigen: Ist er nicht.
Heimat 4.0
Und was treibt die sächsische SPD?
Die hat am 4. Mai so eine Art Landestreffen der Führungsspitzen veranstaltet, „Sachsengipfel 2017“ genannt, wo die Führung der SPD Sachsen aus den Kommunen und dem Land zusammenkam und SPD-Vorsitzender Martin Dulig eine Rede hielt mit „programmatischen Vorschlägen für die kommenden Jahre in der Landespolitik über die Legislatur hinaus“.
Denn in Sachsen ist ja irgendwie gerade Halbzeit in der Wahlperiode – die SPD hat mit sehr viel Mühe, Geduld und Ausdauer tatsächlich einiges von dem repariert bekommen, was die Vorgängerregierung an Scherben hinterlassen hat. Aber wie das so ist mit politischen Entscheidungen: Die Ergebnisse bekommen die Bürger meist erst drei, vier Jahre später zu spüren. Und da kann es passieren, dass sich die CDU wieder einen neuen Koalitionspartner sucht und alles wieder umwirft.
„Unser Sachsen für morgen“ war der Leitspruch der SPD im vergangenen Landtags-Wahlkampf. Martin Dulig: „Dieser Anspruch ist aber mit einer Legislaturperiode nicht erledigt. Wir wollen mehr. Wir wollen mehr für Sachsen. Wir wollen mehr Verantwortung. Wir wollen eine bessere Zukunft für unser Land.“
Bildung ist das A und O
Und da kommt nun der „Sachsenplan Heimat 4.0“ ins Spiel, den die SPD in den nächsten 20 Monaten erarbeiten will. „Nach den Aufbau- und Konsolidierungsjahren müssen wir, muss Sachsen, jetzt aus eigener Kraft ehrgeizige Ziele entwickeln und umsetzen“, sagte Dulig. Wird das jetzt also eine neue „So geht sächsisch“-Kampagne mit Sonnenaufgängen, grünenden Wäldern und glücklichen Kühen?
Eher nicht. Dulig hat eher den gebildeten Sachsen im Blick. Bildung wird die entscheidende Zutat für die Wettbewerbsfähigkeit der Zukunft sein. Also steht bei Dulig ganz obenan eine „Bildungsoffensive SachsenPlus“.
Wohinein Dulig so einiges steckt, was derzeit in der Regierungskoalition noch immer schwer durchzusetzen ist:
– bessere Betreuungsschlüssel für Kindertagesstätten, Schulen oder Krippen
– Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung
– eine Reform der Lehrerausbildung, verbunden mit einem Lehrerbildungsgesetz
– um die gut ausgebildeten Lehrer zu halten, müsse der Freistaat mehr um Lehrer werben und ihnen mehr Wertschätzung vermitteln. Dulig: „Wir müssen konkurrenzfähig sein. Deshalb brauchen wir den Mut, einen sächsischen Lehrertarif zu schließen.“
– eine bessere Stellung von Auszubildenden. „Jede und jeder soll so gefördert werden, dass er oder sie einen guten Start ins Berufsleben hat, egal ob über den akademischen oder den dualen Ausbildungsweg“, so Dulig.
– eine sächsische Ausbildungsgarantie für jeden Jugendlichen. Ob freilich die Jugendberufsagenturen die beste Idee dafür sind?
Und dann der Punkt, den die Pressestelle nicht extra erwähnt hat, den Dulig in seiner Rede aber betonte: „Wir halten an der Gemeinschaftsschule fest. Wenn sich die Regelungen im neuen Schulgesetz zur besseren Durchlässigkeit und den Möglichkeiten, auch an Oberschulen gymnasiale Lehrstoffe zu vermitteln, nicht als praktikabel erweisen, werden wir eine erneute Änderung des Schulgesetzes anstreben. Längeres gemeinsames Lernen und eine andere Schul- und Lernkultur helfen uns bei der Durchsetzung unseres Zieles, dass Jede und Jeder gebraucht wird und deshalb eine optimale individuelle Bildungslaufbahn erreichen soll.“
Weitere Vorschläge nimmt die sächsische SPD bestimmt gern entgegen.
Übrigens auch zu den anderen Punkten.
Personal, Selbstverwaltung, Sicherheit
Beim Thema „handlungsfähiger und starker Freistaat“ fand die Pressestelle wichtig: „Dieser solle Dienstleister für Menschen sein und den Bürgerinnen und Bürgern Schutz und Sicherheit bieten. Dazu bedarf es einer effektiven gesicherten Verwaltung auch auf kommunaler Ebene.“
In der Rede haben wir etwas viel Wichtigeres gefunden: „Die Kommunen müssen immer weiter vom Gängelband der Staatsregierung befreit werden. Statt bürokratischer Fachförderung setzen wir vermehrt auf Pauschalen und stärken damit das Vertrauen in die kommunale Selbstverwaltung.“
Und dann ist da die Sache mit dem Sicherheitsempfinden.
„Zu einem handlungsfähigen und starken Staat gehört auch ein starker Rechtsstaat, der seinen Bürgerinnen und Bürgern Schutz und Sicherheit bietet“, zitiert die Pressestelle. Mit einer bereits arbeitenden Expertenkommission ‚Innere Sicherheit‘ wolle die SPD auf diesem Feld konstruktive Vorschläge zur Verbesserung machen.
So etwas zwingt geradezu dazu, die Rede selbst zu lesen. Wir haben sie unterm Text verlinkt.
Denn da steht eine saftige Kritik am Koalitionspartner, die dieser vollumfänglich verdient hat: „Es ist schon interessant, wie die CDU seit 26 Jahren für dieses Ressort verantwortlich ist und immer wieder mit starken Sprüchen ihre eigenen Versäumnisse zu kaschieren sucht. Beim Thema ‚Innere Sicherheit‘ treiben wir die anderen vor uns her. Ohne unsere Kritik hätte sich kaum etwas bewegt. Es wäre wieder nur repariert worden.“
Könnte also sein, dass wieder einige Polizeistationen aufgemacht werden. Martin Dulig: „Wir wollen, dass die Menschen wieder sicher sein dürfen, dass die Polizei vor Ort präsent ist und deshalb müssen wir uns dafür die Revierstruktur anschauen und etwas dafür tun, dass staatlicher Schutz wieder allerorten sichtbarer wird.
Sachsen soll auch zur Innovationsschmiede werden und zum Vorreiter bei der E-Auto-Revolution.
Eine gespaltene Gesellschaft
Aber da ist ja dieser nagende Zweifel. Denn da stimmt ja was nicht in Sachsen. Das, was Koalitionspartner CDU gern mit lauter Heimat-Tünche zukleistert: die zunehmend sichtbare Spaltung der Gesellschaft in „weltläufige Stadtbewohner“ und in die Verlierer der Transformation.
Martin Dulig: „Diese Menschen haben in den letzten Jahren in Sachsen oft verloren: Durch die Deindustrialisierung ganzer Orte und Regionen. In vielen Städten und Dörfern wurden nicht nur die Fabriken dichtgemacht sondern dann auch die Schule, reihenweise kleine Läden, die Post, die Sparkasse oder sogar die Bushaltestelle. Sie fühlen sich als Teil der Mittelschicht, doch durch die ungleiche Entwicklung gerade in den ländlichen Räumen haben sie das Gefühl, abgehängt zu sein.“
Und da sieht er den Schlüssel in dem, was Petra Köpping in ihrem Ressort als Integrationsministerin angefangen hat: „Unsere Petra Köpping hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Ungerechtigkeiten, Demütigungen und Kränkungen aus der Nachwendezeit eine zentrale Erklärung für Wut, Hass und Frust sind. Dass diese Gefühle nicht, wie von vielen gedacht und erhofft, verschwinden. Sondern sie werden an die jüngere Generation weitergegeben.“
Man kann es auch so sagen: Es ist das Ergebnis von 25 Jahren Schönmalerei. Wobei der Verweis auf „Schule, reihenweise kleine Läden, die Post, die Sparkasse oder sogar die Bushaltestelle“ eben auch zeigt: Das Gefühl, hängen gelassen zu werden, hat in Sachsen auch jede Menge strukturelle Gründe.
Und das nächste Wahljahr 2019 kommt.
Was lässt uns die SPD da erwarten? Dulig: „Bis Ende 2018 wollen wir unseren Sachsenplan Heimat 4.0 vorlegen. Dinge, die wir im Laufe dieser Legislaturperiode umsetzen können, werden wir anpacken. Aber: wir werden auf diesem Weg keine falschen Kompromisse mit der CDU aushandeln, denn ein Plan muss auch funktionieren.“
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