Aus Italien und Frankreich kennt man das Phänomen und ist berechtigterweise alarmiert: Viele der Attentäter in den letzten Jahren haben sich erst während ihrer ersten Haftstrafe im Gefängnis radikalisiert. Das scheint in Deutschland zwar noch nicht so zu sein. Aber wie geht zum Beispiel Sachsen mit den Gefährdern um, die hier zu einer Haftstrafe verdonnert werden?
Zahlen wollen die deutschen Innenminister dazu zwar nicht herausgeben, haben sich dafür auf ein Buchstabensystem geeinigt, mit dem zumindest Tendenzen sichtbar gemacht werden sollen, wie Sachsens Innenminister auf Nachfrage des Linken-Abgeordneten Enrico Stange erklärte: „Gemäß den Abstimmungen in den polizeilichen Fachgremien von Bund und Ländern werden nur seitens des BKA bundesweite Gesamtzahlen der ‚Gefährder‘ (G) und ‚Relevanten Personen‘ (RP) veröffentlicht, durch die Länder lediglich Tendenzen in Form von Größenordnungen.“
Nach seiner Auskunft gab es in ganz Sachsen in den Jahren 2014, 2015 und 2016 nur wenige „Gefährder“. Irgendwo im Bereich von Null bis niedrig einstellig. Was man so recht nicht glauben mag. Denn seit gegen ganze terroristische Vereinigungen in Sachsen ermittelt wird, wissen wir, dass es mindestens ein paar Dutzend „Gefährder“ aus dem Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ gibt. Seit Al Bakr wissen wir, dass auch ein paar „Gefährder“ aus dem Bereich „Islamismus“ in Sachsen versucht haben, unterzukommen.
Die AfD-Abgeordnete Kirsten Muster, die im April noch einmal ganz ähnlich nachfragte, bekam eine noch seltsamere Antwort. Danach saß mindestens ein „Gefährder“ aus dem Bereich „Islamismus“ in einem sächsischen Knast, dazu noch mindestens eine „relevante Person“ aus dem linken Spektrum, dafür kein Rechtsradikaler. Was schon verblüfft. Bekommen die alle nur ein paar gesellschaftlich nützliche Einsätze aufgebrummt und bleiben dann auf freiem Fuß?
Eine zumindest glaubt das nicht, glaubt auch nicht, dass keine Rechtsradikalen in sächsischen JVA einsitzen. Auch wenn der Innenminister keine Zahlen ausspucken möchte.
Die Zahl von radikalisierten Gefangenen, insbesondere von Neonazis, ist im sächsischen Vollzug seit Jahren auf gleichbleibend hohem Niveau, stellt die rechtspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Landtag, Katja Meier, fest. Zudem werde erwartet, dass die Zahl von Extremisten in den Haftanstalten aufgrund von verurteilten Islamisten in den kommenden Jahren noch steigen werde. Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) hatte in Anbetracht dieser Tatsachen eine Ausweitung der Deradikalisierungsmaßnahmen auch im Vollzug angekündigt.
Am 28. März haben Innenminister Markus Ulbig, Integrationsministerin Petra Köpping und Justizminister Sebastian Gemkow die zukünftige Arbeit der Koordinierungs- und Beratungsstelle Radikalisierungsprävention (KORA) vorgestellt. Justizminister Gemkow lässt sich in der zugehörigen Pressemitteilung wie folgt zitieren: „Wir müssen Gefangene, die sich radikalen Gruppen anschließen, so früh wie möglich erkennen. Nur wenn uns das gelingt, haben wir die Chance, sie durch unsere Deradikalisierungstrainings von ihrem Kurs abzubringen. Wir arbeiten in diesem Bereich seit mehreren Jahren eng mit spezialisierten Maßnahmeträgern zusammen. Die Einrichtung der Koordinierungs- und Beratungsstelle Radikalisierungsprävention im Demokratie-Zentrum Sachsen wird die Zusammenarbeit aller beteiligter Institutionen auf ein neues Fundament stellen. Wir werden im Justizvollzug unsere zielgruppengerechten Maßnahmen für radikalisierungsgefährdete und bereits radikalisierte Gefangene ausweiten und eine Ausstiegsbegleitung ermöglichen.“
In der Antwort an die Grünen-Abgeordnete Katja Meier widerspricht Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) in gewisser Weise der Aussage des Innenministers, in sächsischen Justizvollzugsanstalten säßen keine „Gefährder“ oder „Relevante Personen“ aus dem rechten Spektrum ein.
Denn wenn keine einsäßen, müsste man ja auch keine Präventionsprogramme mit Rechtsextremisten durchführen. „Die unter Anlage 2 dargestellten Maßnahmen von Outlaw e.V. sind für links- und rechtsextremistisch gefährdete Gefangene offen. In der Praxis hat sich gezeigt, dass die Mehrheit der Teilnehmer dem Bereich des Rechtsextremismus zuzuordnen war. Es war jedoch in einzelnen Fällen unproblematisch, in diese Gruppenmaßnahmen auch Gefangene mit linksextremistischen Einstellungen zu integrieren“, erklärt der Justizminister in seiner Antwort.
Besorgt war Katja Meier freilich eher, dass die verfügbaren Mittel nicht genutzt werden.
„Für die Aufgaben der Landeskoordinierung und der KORA stehen in diesem Jahr rund 577.000 Euro aus Landes- und Bundesmitteln zur Verfügung“, hatte die Staatsregierung am 28. März gemeldet.
Aus Meiers Sicht drohen die vielversprechenden Verlautbarungen des Justizministers allerdings unwirksam zu bleiben.
In den sächsischen Haftanstalten sind bereits seit mehreren Jahren zwei erfahrene Träger erfolgreich in der Deradikalisierungsarbeit, vor allem mit rechtsextremen Gefangenen, tätig. Darunter der Outlaw e.V., der für seine diesjährige Arbeit zumindest schon mal Geld beantragt hat.
„Um dem zu erwartenden Anstieg von rechtsextremen Klientel in den sächsischen Haftanstalten Rechnung zu tragen, hat der Träger 2017 mit 142.000 Euro deutlich mehr Mittel als in den Vorjahren für Deradikalisierungsmaßnahmen beantragt. Allerdings ist bis Mitte Mai 2017 noch kein einziger Cent bewilligt worden“, kritisiert Meier nun.
Als Grund gibt das Justizministerium an, dass die Ressortabstimmung über die Höhe einer möglichen Kofinanzierung noch andauere. Auch der zweite Träger hat bisher keine Mittel ausgereicht bekommen, da der von Bundesbehörden erwartete Fördermittelbescheid noch nicht vorliegt.
Ist da der nächste Ressortstreit in Sachsens Regierung im Gang?
Katja Meier befürchtet es: „Ohne die notwendigen finanziellen Mittel bleibt das Ziel der Deradikalisierung leider Wunschdenken. Wenn bis heute noch nicht ein einziger Cent an die Träger geflossen ist, weil das Justizministerium sich mit anderen Ressorts nicht einig wird oder weil erhoffte Bundesmittel noch nicht eingegangen sind, frage ich mich, wie Minister Gemkow seinen Worten noch Taten folgen lassen will. In Zeiten des Erstarkens extremistischer Bewegungen und Einzeltäter wäre dieser Zustand fatal.“
Antwort von Innenminister Ulbig an die AfD-Abgeordnete Kirsten Muster. Drs. 9156
Antwort von Innenminister Markus Ulbig an den Linke-Abgeordneten Enrico Stange. Drs. 8203
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