Wenn Politiker Bockmist erzählen, kommt meistens auch Bockmist dabei heraus. Seit Jahren geistert die Beschwörung der deutschen Mittelschicht durch alle Medien, fast jede Partei kämpft um sie, will ihr Gutes tun, verortet sich politisch bei ihr. Und wenn man dann die Sachsen fragt, wo sie sich mit ihren Einkommen einordnen, dann sagen sie mit voller Inbrunst: Wir sind alle Mittelschicht.
Auch im „Sachsen Monitor“ haben sie es getan. Nur „acht Prozent der sächsischen Befragten zählen sich selbst zur Unterschicht, 33 Prozent zur unteren Mittelschicht, 48 Prozent zur mittleren Mittelschicht und 10 Prozent zur oberen Mittelschicht. Zur Oberschicht zählen sich weniger als ein Prozent der Befragten.“ Und das in einem Land, in dem 20 Prozent der Bevölkerung als armutsgefährdet gelten, also eindeutig Unterschicht sind?
Das gilt übrigens auch für die ganze Bundesrepublik: Selbst in solchen Umfragen geben diejenigen, die aufgrund ihres Einkommens eigentlich ganz unten leben und abhängig von sozialer Unterstützung sind, nicht freiwillig an, dass sie arm sind. Armut ist ein Tabu, ein viel größeres als Reichtum. Mit Reichtum wird gern geprotzt. Armut wird versteckt. Selbst in solchen Umfragen. Erst recht nach 20 Jahren Dauermusik vom „Leistungsträger“.
Wer wird schon zugeben, dass er trotz aller Leistung bezahlt wird wie ein Bettler und trotzdem seine Rechnungen nicht bezahlen kann?
Entsprechend überrascht es dann eigentlich nicht, dass nur 8 Prozent der Befragten sich als Unterschicht definieren. Wohl auch, weil das so abwertend klingt.
Da sagt man dann lieber „Ja“, wenn der Interviewer nach „untere Mittelschicht“ fragt. 33 Prozent der befragten Sachsen ordnen sich dort ein. Obwohl bestenfalls 20 Prozent tatsächlich dort hingehören – und nicht unbedingt die, die hier „Ja!“ gerufen haben. Dasselbe gilt für die „mittlere Mittelschicht“, zu der sich sagenhafte 48 Prozent zugehörig fühlen, während sich die wirklich gut Verdienenden, die eindeutig zur Oberschicht gehören, lieber bescheiden als „obere Mittelschicht“ einsortiert haben.
Mit dem erstaunlichen Ergebnis, dass in Sachsen 91 Prozent der Befragten zur Mittelschicht gehören. Oder gehören wollen. Wirtschaftsforscher gehen davon aus, dass heutzutage bestenfalls noch 50 bis 53 Prozent der Bundesbürger zur Mittelschicht gehören, knapp 20 Prozent zur Oberschicht, 25 Prozent zur Unterschicht. Und der Anteil von Oberschicht und Unterschicht wächst, während der Mittelstand schmilzt. Was eigentlich eine Menge Abstiegsängste erzeugt.
In Sachsen verkaufen sich also eine Menge Leute als Mittelschicht, die keine sind. Nur 1 Prozent meint, es gehöre zur Oberschicht. Was übrigens die Befragungen in Westdeutschland ganz ähnlich ergeben haben. Als wäre die Oberschicht gar nicht da. Man lebt zwar sichtbar in reichen Verhältnissen, wiegelt dann aber, wenn man befragt wird, ab, weil man glaubt, dass der eigene Reichtum noch keiner ist.
Das Ergebnis ist natürlich eine Republik in Lug und Trug: Die Armen geben nicht zu, dass sie arm sind. Und die Reichen tun so, als wären sie nur einfache durchschnittliche Angestellte. Was soll dabei herauskommen an Politik? Erst recht, wenn sich die Parteien um diese vermeintliche „Mitte“ prügeln.
Heraus kommen politische Programme für Scheinheilige – für Scheinreiche und für Scheinarme.
Die wirklichen Probleme verschwinden. Denn die Mitte ist auch noch illusionär, was ihre eigenen Aufstiegschancen betrifft: „Gut jeder Zweite (52 Prozent) ist der Auffassung, die Chancen, von einer niedrigeren Bevölkerungsschicht in eine höhere Bevölkerungsschicht aufzusteigen, seien sehr gut oder eher gut.“
Alle Studien zum Thema belegen, dass dem nicht so ist. Dass die Aufstiegschancen bis weit hinein in die „gefühlte“ Mitte praktisch bei Null liegen. Denn Aufstieg hängt – auch in Sachsen – direkt mit der Position und dem Einkommen der Eltern zusammen. Kinder aus der Unterschicht haben so gut wie keine Aufstiegschancen, scheitern oft schon früh im ganz und gar nicht gerechten sächsischen Bildungssystem.
Und dazu kommt, dass viele der erwachsenen Sachsen augenscheinlich nicht einschätzen können, dass ihre Kinder keineswegs mehr die Aufstiegschancen haben, die sie selbst noch hatten. Sie glauben aber fest daran: „Drei Viertel (74 Prozent) der Befragten mit Kindern unter 18 Jahren schätzen die sozialen Aufstiegschancen ihrer Kinder als sehr gut bzw. gut ein. Die Gefahr, dass ihre Kinder einmal sozial absteigen könnten, schätzen 73 Prozent als gering und 17 Prozent als hoch ein.“
Was zumindest die Ahnung aufkommen lässt, warum die junge Generation in Sachsen derart wenig Unterstützung bekommt: Ihre Eltern und Großeltern sind augenscheinlich felsenfest davon überzeugt, dass es für die Kinder einfach so weitergeht wie für sich selbst. Denn im Vergleich mit ihren Eltern waren diese Eltern ja höchst mobil: Sie sind fast alle sozial aufgestiegen, haben höhere Bildungsabschlüsse als ihre Eltern und größtenteils keine existenziellen Sorgen.
Und die Kinder?
Die fühlen sich zunehmend fremd in dieser Eiapopeia-Welt. Irgendwo ist da etwas gründlich in die Hose gegangen. Und die selbstverliebten Eltern haben es nicht mal gemerkt.
Kommen wir im nächsten Teil also zu den Kindern.
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