Am 4. November 2011 war es, als in Eisenach aus einem abgestellten Wohnmobil Schüsse zu hören waren, dann eine Explosion. Später wurden in diesem Fahrzeug die beiden toten NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gefunden. Der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) wurde publik – und kurz durfte die Öffentlichkeit daran glauben, jetzt würden sich deutsche Behörden endlich mit den kriminellen Netzwerken der Neonazis beschäftigen. Fünf Jahre ist das her.
Noch immer quält sich der Münchner Prozess gegen die Dritte im Bund, Beate Zschäpe. Und immer wieder stolpern auch sächsische Ermittler über rechtsradikale Vereinigungen, die in Sachsen, wie es aussieht, so unbehelligt an der Arbeit sind wie vor dem 4. November 2011. Die Maskerade scheint vollauf zu genügen, um Ermittler, Verfassungsschützer und Innenminister in Ruhe zu wiegen.
Als hätten sie aus dem 13 Jahre dauernden Abtauchen des „NSU“ nichts gelernt – und aus den Erkenntnissen, die seither zum Unterstützernetzwerk der drei Abgetauchten bekannt wurden, auch nicht.
„Der NSU-Skandal hat auf besorgniserregende Weise offenbart, wie schwer es Polizei und Justiz fällt, rassistische Straftaten als solche zu erkennen. Auch fünf Jahre nach der Selbstenthüllung des NSU hat sich daran nicht viel geändert. Mit Flashmobs in Chemnitz und Leipzig wollen die Sächsischen Gruppen von Amnesty International dieses Verhalten der Behörden hinterfragen und das Thema auf die Straße bringen“, kommentiert Amnesty International den Stand der Dinge.
Der Fall des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) zeige, wie unbehelligt eine rassistische Terrorzelle jahrelang in Deutschland morden konnte. Im Zuge der Aufklärung dieser Morde wurden Angehörige der Opfer kontinuierlich wie Täter behandelt, ein deutliches Anzeichen für sogenannten institutionellen Rassismus.
„Wenn sich die NSU-Selbstenthüllung am 4. November zum fünften Mal jährt, lautet der bittere Befund: Deutsche Behörden haben fünf Jahre nichts dazugelernt“, erklärt dazu Marie Winter, Bezirkssprecherin für Sachsen bei Amnesty International. „Noch immer versagen Polizei und Justiz dabei, rassistische Motive von Straftaten überhaupt zu erkennen. Das wahre Ausmaß rassistischer Gewalt wird damit verschwiegen.“ So finden rassistische Motive von Straftaten, die vor Gericht verhandelt werden, nur in etwa 12 Prozent der Urteilsverkündungen überhaupt noch Erwähnung.
Ganz ähnlich analysieren auch die Grünen im Sächsischen Landtag die Lage.
„Sachsen war nicht ohne Grund der Ruhe- und Rückzugsort der Mitglieder des NSU, sie fanden in der gut vernetzten starken rechtsextremen Szene zahlreiche Unterstützer. Die aktuellen Entwicklungen dieser Szene in Sachsen, ihre Professionalisierung und Hineinwirken in die Mitte der Gesellschaft sind guter Nährboden für rechtsterroristische Gewalt – möglicherweise noch mehr als Ende der 90er Jahre“, mahnt Valentin Lippmann, Obmann der Grünen-Fraktion im NSU-Untersuchungsausschuss des Sächsischen Landtages. „Die erste Lehre, die nach dem Bekanntwerden des NSU hätte gezogen werden müssen, nämlich dass das Erstarken der rechtsextremen Szene nicht unterschätzt werden darf und gegen ihre Strukturen und Akteure ein konsequenter Verfolgungsdruck aufrechterhalten werden muss, haben Teile der sächsischen Polizei und Ermittlungsbehörden leider bis heute nicht verstanden. Anders kann man sich beispielsweise die Verharmlosung gewaltbereiter Rechtsextremer als ‚event-orientiert‘ oder die allererste Sorge einiger CDU-Politiker um das Image Sachsens nicht erklären.“
Fünf Jahre nach Bekanntwerden der Verbrechen des NSU sind das echte Versäumnisse – nicht nur der Sächsischen Staatsregierung, der das schöne heimelige Außenbild des Freistaats immer wichtiger war als eine frühzeitige und konsequente Aufdeckung rechtextremer Strukturen.
„Auch eine weitere naheliegende Schlussfolgerung, der besondere Schutz von Menschen mit Migrationshintergrund, die in Sachsen leben, wurde nicht konsequent gezogen“, stellt Lippmann fest. „Es sind die Bilder von Heidenau, Clausnitz und Bautzen, die mich zweifeln lassen, ob Sachsens Polizei in der Lage ist, diesen Schutz zu gewährleisten. Hier müssen weitaus größere Anstrengungen als bislang unternommen werden. Die Polizei muss hinsichtlich ihrer interkulturellen Kompetenz weitergebildet, aber in erster Linie muss mehr Polizei zum Schutz eingesetzt werden.“
Das Problem ist oft: Die rechtsradikalen Netzwerke nehmen auf Ländergrenzen keine Rücksicht, operieren auch nicht nur bundesweit vernetzt, sondern längst auch international. Regional bilden sich dann immer nur sehr lose strukturierte Netzwerke, die unterm Radar von Polizei und Verfassungsschutz agieren.
Davor warnten am Mittwoch auch mehrere Obleute der Linken aus den verschiedenen Untersuchungsausschüssen in Bund und Ländern: „Unter den Augen von Polizei und Verfassungsschutzämtern formiert sich derzeit das neonazistische Terrornetzwerk Combat 18 mit engsten Verbindungen zum NSU-Netzwerk neu. Wir sind darüber angesichts der aktuellen Welle neonazistischer Brand- und Sprengstoffanschläge äußerst besorgt. (…) Wir erwarten, dass die Strafverfolgungsbehörden die Konsequenzen aus dem NSU-Komplex ziehen und rechtsterroristische Strukturen endlich effektiv verfolgen.“
Der nunmehr zweite NSU-Untersuchungsausschuss des Sächsischen Landtages tut sich ähnlich schwer wie schon der erste, die zuständigen Amtsträger des Landes zum Reden zu bringen, so dass in vielen Fällen weiterhin diffus bleibt, warum die drei Untergetauchten so lange unbehelligt von Chemnitz und Zwickau aus operieren konnten.
„Schließlich steht sowohl der Sächsische NSU-Untersuchungsausschuss als auch die Staatsregierung vor der großen Aufgabe, die Versäumnisse bei der Verfolgung der Mitglieder und Unterstützer des NSU aufzuklären“, mahnt Lippmann. „Das ist erst zu einem Bruchteil geschehen. Auch die Versäumnisse der Staatsregierung nach dem Auffliegen des NSU, insbesondere die Vernichtung von aufklärungsrelevanten Akten und die unterlassenen Maßnahmen zur Verhinderung solcher terroristischer Verbrechen, bedürfen einer weiteren Untersuchung.“
Aber was macht man, wenn die Sonnenscheinpolitik wichtiger ist als das, was dieselben Politiker so gern „knallharte Aufklärung“ nennen? So, wie es 2011 eiligst versprochen wurde?
Um dieses Behördenversagen in die Öffentlichkeit zu bringen, wollen die Sächsischen Gruppen von Amnesty International am heutigen 4. November Flashmobs in Chemnitz und Leipzig durchführen. Mit Schildern und abgeklebten Mündern soll gegen dieses Verschweigen rassistischer Gewalt in den Innenstädten protestiert werden. Die jeweils 15-minütigen Aktionen finden in Leipzig ab 16 Uhr statt.
Die Leipziger Flashmob-Aktionen:
16:00 Uhr – Wilhelm-Leuschner-Platz
16:15 Uhr – Marktplatz
16:30 Uhr – Hauptbahnhof, Vorplatz
Der Hashtag zur sachsenweiten Aktion lautet: #5Jahrenichtsgelernt
In eigener Sache – Wir knacken gemeinsam die 250 & kaufen den „Melder“ frei
https://www.l-iz.de/bildung/medien/2016/10/in-eigener-sache-wir-knacken-gemeinsam-die-250-kaufen-den-melder-frei-154108
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Ich denke schon, dass die Behörden dazugelernt haben. Der VS z.B. dürfte mittlerweile ein Meister im Vernichten von Beweisen und dem Vergessen von Ereignissen sein. Und die ganzen “Zufälle” in dem Fall sind auch äußerst kreativ, da muss man erst mal drauf kommen.
Die Combat18-Jungs hatten wir in den letzten Wochen auch schon zweimal wieder hier, Vertreter aus vier/fünf Ländern haben sich auf einer unbedeutenden Demo mit (wahrscheinlichen) NSU-Unterstützern getroffen. Die übrigens bis wenige Wochen vor “unserem” NSU-Mord vom VS beobachtet wurden. Sieben Jahre lang, beim Waffenkauf, bei Schiessübungen…aber mit dem Mord haben weder die Akteure noch die zeitliche Nähe zu tun. Natürlich nicht.^^
Ich denke, auch da wurde viel gelernt. Nur leider nichts gutes.