Nicht ohne Grund schwoll in der vergangenen Woche das Lamento über das vermeintliche „Sachsen-Bashing“ an. Doch die Kritik an den mit dem Fall Al-Bakr wieder einmal offenkundig gewordenen „Sächsischen Verhältnissen“ war nur der Auslöser. Die regierenden Christdemokraten kriegen schon seit geraumer Zeit mit, dass ihr Koalitionspartner SPD immer unbequemer wird. Was am Samstag, 22. Oktober, auf dem SPD-Parteitag in Chemnitz beschlossen wurde, lag in der Luft.
Man regiere zwar seit zwei Jahren wieder mit, stellt SPD-Fraktionschef Dirk Panther fest. Aber der Versuch, die falschen Weichenstellungen der sächsischen Regierungspolitik zu ändern, ist mühsam. Und eigentlich rennt man immer wieder gegen dieselben Betonwände an. Da hilft dann auch wenig, wenn der Fraktionsvorsitzende der Linken, Rico Gebhardt, von der Seitenlinie erklärt: „Das aktuelle Schauspiel wechselseitiger Anwürfe bis Beschimpfungen, je nach Charakter der Akteure mehr oder weniger öffentlich oder hinter verschlossenen Türen mit anschließender Veröffentlichung durch Dritte, stellt der Handlungsfähigkeit dieser Koalition ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. Die Öffentlichkeit erwartet von beiden Herren, dass sie an den frei gewählten gemeinsamen Kabinettstisch zurückkehren und die Probleme des Landes lösen.“
Er fügte dann noch hinzu: „Wenn das Regieren mit der CDU tatsächlich so unerträglich ist, wie Martin Dulig gerade zum Ausdruck bringt, dann könnte es ihn dazu bewegen, 2019 im Unterschied zu 2014 offensiv um eine rot-rot-grüne Mehrheit zu kämpfen, damit eine Regierung ohne CDU möglich wird.“
Aber so weit ist die sächsische SPD noch nicht. Noch lehnt eine Mehrheit dort ein Bündnis mit den Linken ab.
Trotzdem darf, wer die sächsische SPD kennt, staunen über das, was der Landesparteitag als Leitantrag des Landesvorstandes „Starke demokratische Bürgergesellschaft und ein handlungsfähiger Staat in Sachsen“ mit großer Mehrheit beschlossen hat.
„Der Leitantrag ist Leitfaden für das, was wir als SPD erreichen wollen. Er beschreibt unseren Anspruch. Wir wollen einen starken, einen handlungsfähigen Staat, der für die Menschen da ist und seine Aufgaben erfüllen kann“, sagt Dirk Panther dazu. „Einen Staat, der die Bürgerinnen und Bürger unterstützt, Demokratie stärkt und damit für den so dringend nötigen Zusammenhalt der Gesellschaft sorgt. Soziale Sicherungssysteme, öffentliche Daseinsvorsorge und innere Sicherheit sind die Basis für ein gutes und sicheres Zusammenleben aller Bürgerinnen und Bürger. Ein handlungsfähiger Staat kann und will Zukunftsaufgaben anpacken, Arbeitsplätze sichern und Sachsen so auch für künftige Generationen lebenswert machen. Ein starker Staat ohne eine starke Bürgerschaft droht technokratisch und antidemokratisch zu werden. Ohne starke Bürgergesellschaft ist der soziale Zusammenhalt gefährdet. Dieser Bedrohung müssen wir uns ganz deutlich entgegenstellen.“
Sachsen als neoliberales Versuchsfeld
Was man im Antrag findet, ist aber – auch für die SPD neu – eine grundsätzlichere Analyse, warum die politische Entwicklung in Sachsen seit 1990 derart schiefgegangen ist. Das „Staatsversagen“ ist kein Zufall, sondern ganz reales Ergebnis von königlicher CDU-Politik. Und erstmals wirft die SPD der CDU so deutlich eine neoliberale Politik vor. Denn Niedriglohn, Leiharbeit, Rückbau der staatlichen Dienstleistungen, Deregulierung, Ausdünnung von Infrastrukturen, „Verschlankung“ von Bildungsangeboten … das sind alles Zutaten neoliberaler Reformen.
„Die staatliche Handlungsfähigkeit in Sachsen wurde aktiv ausgehöhlt, eine demokratische Bürgergesellschaft ausgebremst statt gefördert. 1990 hat die CDU Sachsen zu einem neoliberalen Versuchsfeld gemacht und behauptet, der Markt mache alles besser als der Staat. Es ging nie allein um ‚weniger Steuern‘ oder einen ‚ausgeglichenen und generationengerechten Haushalt‘, wie CDU und FDP behaupteten“, heißt es im SPD-Leitantrag. Wenn die Genossen die Sache wirklich konsequent weiterdenken, dürfte auch der Bundesvorsitzende der SPD ein paar Probleme an einer bislang sehr ruhigen Front bekommen. Aber jetzt geht es erst einmal um verfehlte Finanzpolitik in Sachsen.
Bürgergesellschaft war immer unerwünscht
„Es ging darum, den Staat und die Politik aus Wirtschaft und Gesellschaft zu verdrängen. Politik hatte allein das umzusetzen, was der Wirtschaft nutzte. Starke Gewerkschaften, Personal- und Betriebsräte wollte man nicht, weil sie als Hindernis galten. Der Staat sollte lediglich für Sicherheit sorgen und Privateigentum schützen. An einer demokratischen Bürgergesellschaft, die sich einmischt, bestand in Sachsen kein Interesse. Auf politische Bildung wurde keinen Wert gelegt. Aus dem Westen übernommene Strukturen und Institutionen wurden bewusst entpolitisiert und entdemokratisiert – und mit ihnen große Teile der gesamten Gesellschaft. In keinem Bundesland setzt politische Bildung an Schulen so spät und mit so wenigen Stunden ein wie in Sachsen.“
Wer genau hinschaut, sieht einfach, warum es in einigen Teilen Sachsens zu den so seltsamen Entwicklungen kommen musste.
Doch Neoliberalismus ist kein Werkzeugkasten mit Problemlösungen, auch wenn er von den Leuten, die ihn benutzen, immer als solcher verkauft wird. Tatsächlich verhindern die scheinbar so einfachen Werkzeuge die Suche nach wirklich tragfähigen Lösungen.
Wer in Sachsen nach Lösungen sucht, findet keine. Außer das ewige Wehklagen über das drohende Versiegen der Geldflüsse.
Sparen kann kein Selbstzweck sein
„Die Politik der Sachsen-CDU wird seit Jahren von dem mantrahaften Ehrgeiz getrieben, sich als Land mit der geringsten Verschuldung zu profilieren. Dies hat nichts mehr mit solider Finanzpolitik zu tun“, heißt es jetzt in aller Deutlichkeit im beschlossenen Leitantrag. „, Sparen‘ ist kein Selbstzweck. Solide Finanzpolitik verlangt neben zurückhaltenden Staatsausgaben eben auch notwendige Investitionen – gerade dann, wenn sich gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Herausforderungen ändern. Nicht nur bei Justiz, Polizei, Schulen und Hochschulen hatten die Kürzungen nichts mehr mit der augenscheinlichen Alltagsrealität zu tun. Politische Gestaltung und Richtlinienkompetenz wurden und werden bisweilen an das Finanzministerium und seinen Apparat abgegeben. Während parallel an vielen Stellen Kürzungen durchgesetzt wurden, prägten schwer zu durchschauende Finanzpolster und regelmäßige Haushaltsüberschüsse bereits die finanzpolitische Realität in Sachsen. So entstand vielfach zu Recht der Eindruck, nicht die Realität und erst recht nicht zukünftige Herausforderungen, sondern die Kürzungsziele des Finanzministers bestimmten die Politik des Freistaats.“
Da hat also nicht nur die L-IZ vergeblich nach einem richtunggebenden Ministerpräsidenten gesucht.
„Die Folgen sind heute unübersehbar: an vielen Stellen bröckelt die Handlungsfähigkeit des Staates“, stellt der Leitantrag nun fest. Und da es schon Wochen vor den Ereignissen um Al-Bakr geschrieben wurde, sieht man, woher die Analyse vom „Staatsversagen“ kommt und warum gerade CDU-Politiker in den letzten Tagen so energisch abstreiten, dass es eines gibt. Denn von der Staatsregierung hat man so eine Analyse ja noch nicht bekommen. „Sachsen fährt auf Verschleiß: Bei den Einstellungen von Lehrerinnen und Lehrern wurde jahrelang derart gekürzt, dass der reguläre Schulbetrieb mittlerweile in Gefahr ist. Von guter Bildung für alle kann nicht mehr die Rede sein. Junge Lehrerinnen und Lehrer hatten kaum Chancen, eingestellt zu werden, so dass eine gute Mischung von Jung und Alt nicht mehr gegeben ist. In den vergangenen fünf Jahren ist der Krankenstand unter den Lehrern um 20 Prozent gestiegen. Das gleiche bei der Polizei: Krankmeldungen und Erschöpfung bei Polizistinnen und Polizisten nahmen erschreckend zu. Der Verschleiß macht sich auch in Teilen unserer Infrastruktur bemerkbar.“
Wer hat den neoliberalen Wettbewerbsstaat eigentlich installiert?
Man darf durchaus weiterlesen. Denn was die SPD für Sachsen feststellt, stellt sie auch für die gesamte Bundesrepublik fest.
„Von dieser Entwicklung (der zum ‚neoliberalen Wettbewerbsstaat‘, d. Red.) ist nicht nur Sachsen betroffen. Wir beobachten überall eine soziale Spaltung der Wahlbeteiligung. Überspitzt gesagt: Wer Geld hat, geht wählen, wer wenig Geld hat, hat die Hoffnung in ‚die Politik‘ aufgegeben. Überall ist die Unterstützung rechtspopulistischer Parteien gestiegen, nicht nur im Freistaat. Gleichwohl ist Sachsen eben trauriger Spitzenreiter bei rechtsextremen Vorkommnissen.“
Nur zur Erinnerung: Die größte Reform hin zum „neoliberalen Wettbewerbsstaat“ hat ein gewisser Gerhard Schröder vorangetrieben, einstmals Bundeskanzler der SPD.
Leitkultur ist kein Ersatz für Bürgerbeteiligung
Gerade Sachsen aber, so der Leitantrag, sei ein Beispiel für gleichzeitig abgebaute echte Bürgerbeteiligung: „Um den Rückzug des Staates und das bestehende Misstrauen auszugleichen, setzten die Konservativen allein auf Bekenntnisse, Symbole und rückwärtsgewandten Patriotismus, nicht auf eine demokratische Bürgergesellschaft. Eine demokratische (Diskussions-)Kultur ist in Sachsen wenig ausgeprägt, weil Politik und Staat oft von oben herab agieren und Bürgerinnen und Bürger sowie kritische zivilgesellschaftliche Akteure nicht als gleichwertige Partner akzeptieren – und weil es allerorten an politischer Bildung mangelt.“
Natürlich kann man die meisten Verwerfungen nicht allein in Sachsen lösen. Ein paar Ansätze, wie es die SPD versucht, stehen im Leitantrag. Aber in der zentralen Frage nach Gerechtigkeit geht es nicht um eine echte Korrektur auf Bundesebene.
Denn daran, dass die Rezepte Angela Merkels greifen, glauben zumindest die Autoren dieses Antrags nicht: „Wir glauben nicht daran, dass der Markt für soziale Gerechtigkeit sorgt. Die neoliberale Politik der letzten Jahre hat dafür gesorgt, dass die Spaltung zwischen Arm und Reich enorm zugenommen hat – auch in Sachsen, aber vor allem zwischen Ost und West. Ein starker Staat sorgt dafür, dass Gesellschaften nicht auseinanderdriften. Chancengleichheit zeigt sich besonders daran, wie der Staat mit den Kindern, Jugendlichen, Rentnerinnen und Rentnern sowie Menschen mit Behinderung umgeht und ihnen gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht.“
Und wie schafft man das? Mit Flexi-Rente vielleicht?
„Wir fordern daher auf Bundesebene eine echte Solidarrente, eine armutsfeste Rentenversicherung, Erwerbstätigenversicherung und weitere Maßnahmen gegen prekäre Arbeit sowie die Einführung einer Kindergrundsicherung sowie die Überführung der Abgeltungssteuer in die Einkommenssteuer. Um das Vertrauen wieder herzustellen, wollen wir die Sozialversicherungen wieder paritätisch finanzieren und ihre Einnahmebasis verbreitern. Die gesetzliche Krankenpflegeversicherung wollen wir in der nächsten Legislatur zur Bürgerversicherung umbauen. Gewerkschaften, Arbeiterwohlfahrt, Volkssolidarität und weitere Sozialverbände sind dabei ein zentraler Teil einer demokratischen Bürgergesellschaft, um diese Ziele zu unterstützen.“
Und sogar eine versteckte Kritik an CETA und TTIP steckt in dem Papier: „Fünftens bleibt guter und fairer Handel für Sachsen wichtig. Gleichzeitig müssen wir alle Handelsabkommen kritisch begleiten, um den Staat handlungsfähig zu erhalten. Wir als SPD Sachsen unterstützen das Ziel, durch Handelsabkommen soziale, ökologische oder kulturelle Standards zu stärken.“
Das klingt wirklich nicht nach CETA. Aber wem sagt man das?
An vielen Stellen klingt das Papier schon stolz auf das, was die SPD seit 2014 in Sachsen bewirken konnte. Was sich natürlich widerspricht mit der Analyse, denn aktuell sind große Teile des sächsischen Staates einfach in einem desolaten Zustand. Und es wird mindestens zehn Jahre dauern, diese angerichteten Schäden wieder zu reparieren. Zehn Jahre, die möglicherweise niemand hat, denn das Staatsversagen ist ja – wie auch der Antrag feststellt – schon in vielen Teilen der Bevölkerung in Demokratieverweigerung und Misstrauen umgeschlagen. Das wird viel schwerer zu reparieren sein – wenn überhaupt.
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