โIm Groรen und Ganzen geht es doch darum, Handlungsfรคhigkeit zu entwickeln und die Mittel, die โ so wie es aussieht โ da sind, klug zu verteilen. So kann es meines Erachtens gelingen", schreibt uns Leserin Antje Willi. Und sie hat Recht. Und es betrifft nicht nur die Diskussion รผber die Zukunftsstadt Leipzig. Es betrifft die komplette politische Diskussion der Gegenwart.
Manchmal treffen solche Einsichten ganz zufรคllig aufeinander. Hier ein Leserbrief, dort ein Statement aus einer Partei, die ihr Handeln noch immer als politisch versteht. In diesem Fall der Linken, die wohl mittlerweile um ihren Namen fรผrchten muss, weil eine komplette konservative Agenda in Deutschland dazu รผbergegangen ist, alles was links von ihr unterwegs ist, als โlinksโ zu etikettieren. Genau nach demselben Schema, nach dem man zuvor Menschlichkeit als โGutmenschentumโ gebrandmarkt hat.
Noch ein Schritt weiter, und dann ist jeder, der noch politisch denkt und handelt, als Politischer diskreditiert. War alles schon mal da. Die jรผngere deutsche Geschichte ist voll mit solchen Abwertungen โ ob Politischer, Demokrat, Liberaler oder Linker. Alles Wertungen, wenn sie nicht gleich aus dem ganz rechten Spektrum kamen sondern nur aus dem Konservativen, immer auch das Andere brandmarkten โ das, was nicht passt. Zur Mitte zum Beispiel, zum Bรผrgerlichen an und fรผr sich. Und das Bรผrgerliche hat sich in der deutschen Geschichte immer gern als unpolitisch definiert. Man lese beim berรผhmten Thomas Mann nach, wie er das Thema im โTagebuch eines Unpolitischenโ angeht โ und Schiffbruch erleidet.
Unter anderem auch, weil er den Schritt nicht geht vom Bรผrgerlichsein zum Verantwortung รผbernehmen.
Was ihn zu einem der beliebtesten Autoren des deutschen Bรผrgertums gemacht hat โ und zum passenden Beispiel fรผr die ganze deutsche Schizophrenie, die Mann ja beschreibt: Politik hier โ รsthetizismus dort. Im Land der โDichter und Denkerโ eine hรผbsche These. Und so wirklichkeitsfremd, dass es den Liebhabern dieser These nicht mal mehr auffรคllt.
Denn genau das hat mit der heutigen Wahlenthaltung vieler Bรผrger zu tun. Und mit ihrem Gefรผhl, nicht mehr gefragt zu sein. Denn Politik fragt ja nicht. Sie ist einfach. Was dem Bildungsรคstheten immer als unbehaglicher Gedanke erscheint: Er ist auch dann ein politisches Wesen, wenn er sich nicht als solches begreift. Thomas Mann schildert die Folgen ja in aller Brillanz: Wer nicht selber politisch aktiv ist, sich einbringt und Verantwortung fรผr die Gemeinschaft รผbernimmt, der wird aktiviert. Der wird einfach in Dienst gestellt โ 1914, als Mann sich mit diesem รคrgerlichen kleinen Schreibtischproblem beschรคftigte, hieร das fรผr den ach so unpolitischen Bรผrger eben das, was Kaiser Wilhelm dann in seiner Reichstagsansprache am 4. August 1914 sagte: โIch kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.โ
Und die Parteien im Reichstag lieรen sich das gefallen, mit allen fatalen Folgen. Einvernahmt wurde der ach so unpolitische Bรผrger nun einfach als Deutscher, Patriot und Kanonenfutter.
Wobei betont werden muss: Das war nur das Finale. Der Ersatz der politischen Haltungen, die das deutsche Bรผrgertum durchaus mal hatte, durch leere Worthรผlsen, die aus dem politischen Staatsbรผrger nur noch einen blankgewichsten Deutschen und Nationalisten machten, hatte ja schon vorher begonnen. Und von dieser Entleerung bรผrgerlicher politischer Positionen hat sich die deutsche Politik bis heute nicht erholt.
Denn Politikmachen heiรt nicht, etwas zu sein, sondern etwas zu wollen.
Das setzt den Willen zur Verรคnderung voraus, zum Gestalten. Verwalter gibt es jede Menge. Doch augenblicklich kann man regelrecht zuschauen, wie die Verwalter des Seienden einer nach dem anderen regelrecht in Panik ausbrechen, weil Verรคnderung aus ihrer Position heraus nur als Bedrohung begriffen werden kann.
Im jรผngsten Talk mit Maybrit Illner mit dem Titel โChaos in der Flรผchtlingskrise โ Verliert Merkel die Kontrolle?โ brachte es der Politologe Karl-Rudolf Korte auf den Punkt: Die Politik mรผsse aus ihrem Katastrophenmodus heraus.
Wobei es halt nicht โdie Politikโ ist, die im Katastrophenmodus ist, sondern es sind Politiker, die den Verรคnderungen nur noch mit Panik begegnen, weil es sie schon รผberfordert, die Gestaltung der jetzt auf dem Tisch liegenden Aufgaben zu organisieren. Aufgaben, die sich natรผrlich aufgetรผrmt haben, weil die entscheidenden Verantwortlichen รผber Monate und Jahre gezรถgert und taktiert haben, ausgewichen sind in Deklarationen und Forderungen. Was peinlich genug war: Die jรผngste Politik strotzte vor Appellen an den Bund, er mรถge es regeln, an die EU, sie solle die Grenzen sichern, das Problem da eindรคmmen, wo es die eigenen Verantwortungsbereiche nicht tangiert.
Aber das Fazit aus all diesen Appellen ist nur: politische Arbeitsverweigerung.
Peinlichkeit sowieso. Denn es ist hochgradig peinlich, wenn ausgerechnet jene Minister Appelle verfassen, die vorher durch Zรถgern, Taktieren und Handlungsunfรคhigkeit die Probleme haben auflaufen lassen. Vom gescheiterten Versuch der europรคischen Regierungen, die Flรผchtlinge an den europรคischen Auรengrenzen abzuhalten, muss man an dieser Stelle nicht reden, auch wenn es dazu gehรถrt und ebenfalls Ergebnis einer sichtlichen Entpolitisierung der Politik ist. Denn das Abschotten von Problemen, das ist Nicht-Politik, das ist der Versuch, jede Verantwortung fรผr das, was direkt vor der Tรผr passiert, von sich zu weisen.
Verantwortungslose Politik aber ist keine Politik. Sie ist nur Tapete, ein So-tun-als-ob.
Das wird geliebt vom unpolitischen Bรผrger, keine Frage. Da wiegt er sich in Ruhe und Sicherheit und vertraut darauf, dass er hinfort mit den Problemen des Landes und der Welt nie wieder behelligt wird.
Was ja sichtlich nicht gelingt.
Und auch nicht gelingen kann.
Unรผbersehbar auf den Straรen Dresdens, wenn ein unpolitischer Haufen von Bรผrgern herumlรคuft und seinen Frust laut werden lรคsst, weil die einst so geliebte Bundeskanzlerin sie vor den Behelligungen der Welt nicht mehr bewahrt. Wofรผr hat man sie dann gewรคhlt?
Und in die gleiche Richtung zielen die immer neuen Forderungen aus der Dresdner Regierungskoalition, endlich wieder bessere Grenzsicherungen einzufรผhren. Eine Forderung, wie sie Ministerprรคsident Stanislaw Tillich (CDU) am Freitag, 13. November, wieder in der โFreien Presseโ รคuรerte und die Rico Gebhardt von der Linken mit Entsetzen erfรผllt: โNoch absurder aber ist Tillichs Ruf, dass wir โwieder Grenzkontrollen brauchen, die auch ihren Namen verdienen.โ Was meint โwiederโ? Die Bundesrepublik Deutschland hatte im Unterschied zur DDR immer offene Grenzen โ ihre โgrรผne Grenzeโ war nie ein Hindernis. Also kann das โwiederโ nur eine Anknรผpfung ans DDR-Grenzregime bedeuten, das Herr Tillich aus eigener praktischer Anschauung kennt. Da hรคtten wir aber gerne schon genau gewusst, was er wieder haben will: Stacheldraht, Mauer, Selbstschussanlagen, Schusswaffengebrauch gegen โGrenzverletzerโ? Ich erwarte, dass Herr Tillich sich dazu auf dem CDU-Landesparteitag รคuรert. Ich kann mir ernsthaft nicht vorstellen, dass sich sรคchsische Christ-Demokraten aus dem Maรnahmen-Arsenal der DDR-Grenzbefestigung bedienen wollen.โ
Politik ist nun einmal nicht die Abwehr des Ungewollten.
Das hat noch nie funktioniert. Politik ist โ wenn sich die gewรคhlten Akteure tatsรคchlich bemรผhen โ das Gestalten des Mรถglichen, das Ausloten von Alternativen, das Umsetzen von Dingen, die getan werden mรผssen, um das Heft des Handelns in der Hand zu behalten.
Das Gegenteil von Politik ist Nicht-Verantwortung. Aber Nicht-Verantwortung heiรt auch: Andere รผbernehmen das Heft des Handelns. Und damit sind nicht die Flรผchtlinge gemeint, die in Deutschland Zuflucht suchen, sondern die strammen Nationalisten und Rassisten, die geradezu ihre Freude daran haben, die politischen Leerrรคume zu fรผllen.
Das Unpolitische war schon immer eine nรคrrische Position. Eine untertรคnige noch dazu, um auch noch den Mann-Bruder Heinrich zu erwรคhnen. Es geht um Handlungsfรคhigkeit, die Fรคhigkeit zu handeln. Minister, die ihre Handlungsunfรคhigkeit hinter Kassandra-Rufen verstecken, sind รผberflรผssig. Und eine Alternative zu einer Bundeskanzlerin, die sagt โWir schaffen dasโ, sind sie schon lange nicht.
Gut mรถglich, dass all die jammernden Politiker Angst haben, die Wรคhler kรถnnten ihnen davonlaufen. Deswegen tun sie gern so, als hรถrten sie auf โihre Wรคhlerโ, als mรผssten sie alles verstehen, was da auf den Straรen herumlรคuft. Und sie merken nicht mal mehr, dass das Eine das Echo des Anderen ist, dass die auf den Straรen grassierende Angst die Hilflosigkeit der politisch Verantwortlichen spiegelt, von denen auch der besorgteste Bรผrger eigentlich nur eines erwarten darf: Dass fรผr Probleme realistische, praktikable und menschliche Lรถsungen gesucht und gefunden werden.
Und dass das auch erklรคrt und kommuniziert wird. Aber da hakt es ja bekanntlich wieder. Vielleicht auch, weil das Lamentieren so viel wertvolle Zeit frisst.
So eine Politik macht depressiv und zermรผrbt. Keine Frage. Das Unpolitische war schon immer eine fatale Art, gesellschaftlich unverantwortlich sein zu wollen. Ein Rezept, die Aufgaben der Gegenwart zu lรถsen, war es noch nie.
So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
Es gibt 7 Kommentare
Was Wolli betrifft stimme ich voll zu. Fรผr aufmerksame Beobachter war bei Wolli eine โSpitzenentwicklungโ vom Saulus zum Paulus erkennbar. Traurige, was aus einen โSpatensoldatenโ geworden ist. Geld = Macht= Geld stinken nicht.
Es ist unstrittig, dass sich die Leute in Sachsen von Tillich & Co. abgewendet haben. Doch was ist gegenwรคrtig die Alternative in Sachsen? Wรคren 2016 Landtagswahlen, dann โฆโฆ
Meine groรe Hoffnung sind in Sachsen โ nicht nur in Sachsen โ die Freien Wรคhler. Leider haben die ihr riesiges Potential (noch) nicht erkannt. Ich arbeite daran, dass sie dieses erschlieรen, nicht nur in Sachsen.
Nun, es ist immer schwer, sich klar und unmissverstรคndlich auszudrรผcken. Aber ich meine tatsรคchlich auch wie der Autor: ein Politiker, der handelt, ist allemal besser. Beispiel Helmut Schmidt und der Nato- Doppelbeschluss. Die Reaktion waren Massenproteste. Die haben den Beschluss zwar nicht verhindert, aber ein stรคrkeres Bewusstsein geschaffen und die Grรผnen gestรคrkt (in meiner Wahrnehmung). Oder Schrรถder mit der Agenda 2010 โ der hat die SPD โentzaubertโ. Aber dieser BiedenMilbradtTillich โ da wenden sich die Leute ab und lamentieren, dass โdie anderenโ ja auch nichts besser machen kรถnnen. Und das Vakuum fรผllen die, die am lebsten noch um den Block schleichen, um zu kontrollieren, ob wir auch gewissenhaft das Laub aufharken und kein amerikanisches Auto fahren.
Nun, ich meine, als Politiker sollte man auch glaubhaft und wรคhlbar sein, mindestens aus Protest wรคhlbar sein. In Thรผringen hatโs der Rammelow geschafft und allerhand Leute zollen ihm Respekt, obwohl sie nie links wรคhlen wรผrden.
Kleiner Schmunzler am Rande: unser lieber Wolli ist ja auch schnell als Fachkraft nach Thรผringen immigriert. Darf man doch mal sagen?
Herr Weise, nun haben Sie einen Griff in die Trickkiste gewagt. Einen spektakulรคren Griff!?!?
Ich bin sehr gespannt, ob ausgewรคhlte Kommentator/innen/en Ihre Darlegungen โproblemlosโ durchgehen lassen.
Ja, so verstehe auch ich den Beitrag: die gegenwรคrtige โPolitikโ ist nur Tapete. sie รผbernimmt keine Verantwortung. Und ich verstehe den Beitrag auch als Antwort auf Ch. Wolfs Gastkommentar, welcher die bรผrgerliche Mitte anruft. Aber die Antwort ist: รคsthetisch sein, bรผrgerlich sein, tolerant sein, das geht schon. Jedoch zerstรถrt es die Demokratie. Gegenwรคrtig erleben wir, wie undemokratische Krรคfte immer aktiver werden. Und die mehrheitlich gewรคhlten PolitikerInnen (auch CDU-Frauen haben ein Anrecht aufbelanglose Wรผrdigung) lassen sich konzeptlos vom Mob treiben.
Ich vermute mal, der Autor hier wรผrde es sogar vorziehen, dass die gegenwรคrtig gewรคhlten Politiker Entscheidungen treffen wรผrden, welche wir hier im Forum in Grund und Boden verdammen wรผrden, als dass die Politiker weiter lavieren wie bisher. Dann wรผrden sie wieder handeln und entscheiden. Und wenn die Wรคhlermehrheit sie dann wieder wรคhlt โ das wรคre dann Demokratie. Auf jeden Fall entstรผnde dann kein politisches Vakuum.
Sagt, ist das zu gewagt?
Wenn man die Polit-Talk-Shows anschaut und man sieht, wie manche Politiker immer fordern, da frage ich mich, wurden diese nicht gewรคhlt, um die Aufgaben anzupacken. Diese Politiker (z. B. de Maiziere) werfen sich immer nur die Bรคlle (Verantwortung) gegenseitig zu, wozu wurden die eigentlich gewรคhlt (um jeden Monat ihre Diรคten zu kassieren und abzuwarten)? Es wird immer nur gesagt: โes mussโฆ..oder: wir fordernโฆ.), nicht โwir machenโ. Wer soll das erledigen, der liebe Gott??????
Und/oder den Pulitzer-Preis in der Kategorie โDienst an der รffentlichkeitโ vorschlagen.
Fรผr den Artikel kann man nur Danke sagen.