Manchmal muss man einfach den Blickwinkel ändern, sich hineinversetzen in den Anderen. Nein, nicht in die verkniffenen Pegida-Marschierer, hinter denen Sachsens Rechtsradikale grinsend die Fäden ziehen. Wir müssen verstehen, warum sich ausgerechnet jetzt hunderttausende Menschen aus Syrien, Irak und Afghanistan auf den Weg gemacht haben nach Deutschland. So sieht es jedenfalls Rico Gebhardt, Vorsitzender der sächsischen Linken.
Am Mittwoch, 21. Oktober, hat er Landtagsfraktion und Landesvorstand der Linken sein Positionspapier „Sachsen und die Fluchtbewegung – auch Die Linke muss Frage beantworten können: ,Wo führt das alles hin?‘“ übergeben. Sieben Seiten Nachdenklichkeit, die auch von der Linken Veränderungsbereitschaft fordern.
Die aber auch das Unverständnis für den ratlosen Aktionismus der sächsischen Regierungspolitik äußern. Da bekommt auch SPD-Spitzenmann Martin Dulig sein Fett weg: “Auch die wiederholten – surreal anmutenden – Rufe des stellvertretenden sächsischen Ministerpräsidenten nach vorübergehendem Zuzugsstopp sind Ausdruck einer Denke, die sich in der Verwaltung des Unvermeidlichen erschöpft, das daher nicht zu groß werden dürfe, weil wir es dann nicht mehr schaffen.”
Gebhardt erwähnt das, was sowohl Dulig wie Tillich in ihren Statements mit aller Kraft auszublenden versuchen: Sachsen steht vor einem Paradigmenwechsel. Die Zeiten, da die Bevölkerung im Land immer mehr vergreiste und schrumpfte, sind vorbei. Doch bis heute beherrscht diese Denkweise die komplette sächsische Politik. Die Menschen aber, die jetzt nach Sachsen kommen, machen das Land nicht nur jünger, sind auch nicht nur eine Belastung, sondern wollen arbeiten, wollen sich in einem für sie neuen Land auch eine neue Zukunft aufbauen.
Das bedeutet jetzt im Augenblick, ihnen mit allen Kräften eine würdige Unterkunft zu geben und ihnen die Integration zu ermöglichen. Im nächsten wird sich Sachsen verändern – aber nicht, weil noch mehr Kulturen ins Land kommen. Die Leute, die von “Leitkultur” schwadronieren, haben noch nicht mal begriffen, dass der Reichtum der heutigen Bundesrepublik schon längst ein Reichtum der Kulturen ist.
Doch Denkweisen wie die zur “Leitkultur” (von der Gebhardt gar nichts hält), kommen in der Regel aus gesellschaftlichen Bereichen, die schon heute von Abschottung und Ghettoisierung geprägt sind. Gebhardt benutzt zwar den Vergleich von Plattenbausiedlung (wo es sich eben doch oft gut leben lässt) und Eigenheimsiedlung (wo dann eben doch oft genug keine Kinder mehr spielen). Die Ghettoisierung aber steckt im Kopf. Ganze Gesellschaftsgruppen nehmen am allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs nicht mehr teil, sondern leben nur noch in engen, auf ein manifestes und statisches Weltbild verengten Peergroups. Deswegen wirken ihre Vorstellungen von einer “richtigen” Welt auch so skurril. Und das betrifft nicht nur die traurigen Gestalten von Pegida und AfD. Das betrifft auch große Teile von CDU und CSU. Gebhardt schüttelt nur den Kopf: Selbst die deutsche Wirtschaft betont immer wieder, dass Deutschland eine echte und qualifizierte Einwanderungspolitik braucht. Aber gerade die Parteien, die sich so gern wirtschaftsnah geben, blockieren das mit aller Macht. Rico Gebhardt: “Ausgerechnet die Konservativen, die ständig ermahnen, die Themen Asyl und Migration auseinanderzuhalten, stehen bisher ordentlichen gesetzlichen Regelungen für Migration abseits des Asylrechts im Wege.”
Und er entwirft ein Bild der Flüchtenden, das sich deutlich von dem unterscheidet, was tagtäglich in den Medien als “Katastrophe” beschrieben wird: “Die Geflüchteten sind – das eint übrigens Syrer, Afghanen, Tunesier und Kosovo-Albaner – kämpfende Menschen. Sie sind Leute, die sich nicht mit ihrer Lage und den Lebensbedingungen ihrer Familie abgefunden haben. Die derzeitige Flüchtlingsbewegung bewegt tatsächlich die Welt. Sie stellt den Zustand in den Herkunftsregionen ebenso infrage wie die Verhältnisse in den Zielländern. Der Massenexodus aus Syrien beispielsweise ist wie eine – ansonsten unmögliche – Volksabstimmung über eine tödlich-hinterhältige Diktatur, islamistischen Terror und schier endloses Kriegstreiben. Es ist zugleich eine große außerparlamentarische Anfrage an die Befindlichkeit Deutschlands und Sachsens.”
Die islamophoben Pegidisten hat er gefressen. Denn was die auf die Straße tragen, ist nur Diffamierung. Denn die Flüchtlinge, die da zu uns kommen, sind eben gerade keine Fundamentalisten – sie fliehen ja gerade vor den Fundamentalisten, die ihre Heimat verwüsten. Klammer auf: Und nicht nur IS & Co. sind fanatische Fundamentalisten – die Diktatoren der Region sind es ebenso.
Und was steht für Gebhardt an der Stelle, an der die Erzkonservativen der Republik von “Leitkultur” schwadronieren?
Grundwerte, sagt Gebhardt, und zwar die Grundwerte von Aufklärung und Humanismus. Muss man ja mal sagen in so einer Zeit, in der die Ewiggestrigen von einem christlich-jüdischen Abendland schwafeln, weil sie damit die Werte der Aufklärung gleich mal in aller Stille wieder einkassieren.
Und am Ende geht er auch auf das Defizit ein, das auch die Protestierer auf den Straßen sehr wohl empfinden – nur eben nicht da einordnen, wo es hingehört. Denn dass viele Sachsen sich heute schon ausgegrenzt fühlen, von der Politik geradezu brüskiert und von Bürokratie schikaniert, das hat ja nichts mit den Menschen zu tun, die jetzt Asyl in Sachsen suchen, sondern mit einer gestörten Demokratie, in der immer mehr außerparlamentarische und technokratische Entscheidungsstrukturen entstanden sind, auf die kein Wahlbürger mehr Einfluss hat.
Das neoliberale Denken hat daran eine gewaltige Aktie. Rico Gebhardt: “Nur ein einziger Volksentscheid in einem Vierteljahrhundert (dessen Ergebnis dann von der damaligen Regierung im Nachhinein durch ein neues Gesetz einfach ausgehebelt wurde, Anm. d. Red.), abstürzende Wahlbeteiligungen und das Gefühl sehr vieler Bürger/innen, dass sie nur noch Manövriermasse von immer ferneren Verwaltungen in immer größeren Gemeinden und Kreisen sind – die ‘sächsische Demokratie’ ist schwer krank”, bilanziert Gebhardt. “Es gibt ein weit verbreitetes Unbehagen und die landläufig herrschende Meinung, dass für die Bevölkerung relevante Entscheidungen nach undurchschaubaren Kriterien gefällt werden und die Kontrolle der Verantwortlichen nicht funktioniert. Auch das ist ein Grund dafür, dass unter solchen Bedingungen jede Veränderung – wie die Ankunft von Flüchtlingen – als verstörend empfunden wird.”
Gebhardts Überlegungen münden am Ende in den Aufruf an die eigene Partei, wieder mehr Profil als Opposition zu gewinnen.
Aber die Grundgedanken sind auch für alle anderen demokratischen Akteure im Land wichtig. Und auf eine Reise nach Brüssel hat sie Gebhardt in der vergangenen Woche auch mitgenommen. Denn auch da scheitern viele wichtige Entscheidungen am technokratischen Selbstverständnis vieler Staaten.
„Die Förderung der Entwicklung der Regionen und die Integration von Flüchtlingen in den Regionen zusammenzubringen, ist derzeit die zentrale Herausforderung für alle politischen Ebenen”, erklärte Gebhardt vor seiner Fahrt. “Es geht in der Flüchtlingspolitik in Sachsen wie in Europa aus meiner Sicht nicht um die Verwaltung und Verteilung eines sozialen Belastungsfaktors, sondern um die Ermöglichung der Entwicklung unserer Gesellschaft unter Berücksichtigung der Menschen, die in großer Zahl zu uns kommen. In ihnen sehe ich kämpfende Menschen, die sich mit ihrer Lage und den Lebensbedingungen nicht abgefunden haben. Sie stellen den Zustand in den Herkunftsländern ebenso infrage wie – durch ihre pure Existenz – die Verhältnisse in den Zielländern. Gemeinsam mit den Geflüchteten wollen wir das Soziale und die Solidarität für alle Menschen in Europa und darüber hinaus stärken – das festigt auch die Stabilität der Gesellschaften.“
Das Positionspapier von Rico Gebhardt.
Die Linke hat auch ein Informationsblatt an sächsische Haushalte verteilen lassen. Hier ist es.
Es gibt 2 Kommentare
Die Linkspartei kann sich gewissermaßen zurücklehnen und guten Mutes solche Reden führen “müssen … sollen…”, denn sie ist schon immer gegen Waffenexporte und Auslandseinsätze. Und sie kann auch leider nicht so, wie sie will, da sie keine entscheidende Regierungsverantwortung hat. Jedoch finde ich, dass sie sich zu sehr mit dem heute beschäftigt. Z.B. 1990 war es für die Wirtschaft der Altbundesrepublik kein Problem, den Osten gleich mal so mit zu versorgen mit Lebensmitteln, Baustoffen, Autos usw. Das ist heute genauso. Wenn der Wille da wäre, könnten all die Einwanderer locker mitversorgt werden.
Es werden aber keine Hundertausende Einwanderer als Arbeitskräfte gebraucht. Als Arbeitskräfte, die an Supermarktkassen sitzen, in Stadtverwaltungen arbeiten, beim Bauern Ställe ausmisten usw. Paar Fahrradschrauber gibts jetzt auch schon, Döner- und Fressbuden sowieso. Schneider, Fisöre …? Ich würde das gern mal konkret wissen wollen. Überaus viele Leute bei uns, die täglich arbeiten gehen, stellen sich die Frage: was werden die Einwanderer in z.B. 2 Jahren tun? In vielen Bereichen gibts mal den einen oder anderen Spanier, Tschechen oder so, weil der einen anerkannten Abschluss hat. Ich kann nicht sehen, welche Hunderttausende Jobs es mal geben wird.
Wenn die Baukonzerne sagen würden, ja wir bilden als Baugeräteführer in verkürzter Zeit aus, damit sie in 1 Jahr oder so mit guten deutschen und russischen Maschinen, die die EU bezahlt, in Homs und überall die Ruinen wegräumen, das würde ich verstehen …
Und ich verstehe es auch nicht, dass das Ziel europäischer Politik sein soll, ganze Landstriche von Westafrika bis Afganistan zu entvölkern, weil man dem Terror dort nichts entgegensetzen kann.
Solche Reden gehörten besonders vor Parteitagen der SED in der DDR zum alltäglichen Ritual.
Wurde nicht das längst überfällige Einwanderungsgesetz von den Linken bisher abgelehnt?
Nein, es darf keine Nebengesellschaften geben!
“Grundwerte, sagt Gebhardt, und zwar die Grundwerte von Aufklärung und Humanismus. Muss man ja mal sagen in so einer Zeit, in der die Ewiggestrigen von einem christlich-jüdischen Abendland schwafeln, weil sie damit die Werte der Aufklärung gleich mal in aller Stille wieder einkassieren.”
Man muss aber auch sagen dürfen, dass Humanismus Geld kostet, sehr viel Geld. Diese entscheidende Frage wird von Herrn Gebhardt bzw. den Linken in Sachsen nicht beantwortet!!!!!!!!!!!!!!!!
Man muss auch die Frage stellen dürfen, wo die Wirtschaft ist, welche diese Leute gewillt ist einzustellen. Die Wirtschaft macht gegenwärtig u.a. mit Immobilien Kohle. Ansonsten ist diese bezüglich solcher Antworten in der Versenkung verschwunden.
Auf solche Fragen möchten die Bürgerinnen und Bürger, besonders in Sachsen, Antworten haben.
Von Herrn Gebhardt, eingeschlossen der Linken in Sachsen, habe ich dazu noch keine Antworten vernommen. Ich erwartet auch gegenwärtig keine, denn scheinbar brauchen diese nicht beantwortet zu werden, da solche Fragen doch nur von Ausländerhassern und Rechtsradikale gestellt werden. Sie machen es sich sehr einfach Herr Gebhardt, eingeschlossen der Linken in Sachsen. Zu einfach!! Das ist ein schwerer Fehler, der mindestens bei der nächsten Landtagswahl sehr unangenehme Auswirkungen haben kann bzw. wird, wenn diese Themen außer acht gelassen werden.