In Thüringen ist Manches etwas anders. Nicht im negativen Sinn, auch wenn einige sächsische Wahlkämpfer derzeit mit einer erstaunlichen Arroganz über Vergabegesetze, Schulen und Lohnniveau in Thüringen reden, als wären diese Dinge im Freistaat Sachsen nur ein Deut besser. Das Einzige, was Sachsen wirklich vom Nachbarbundesland unterscheidet, ist die Unverfrorenheit beim Ausmalen paradiesischer Zustände. Selbst in Untersuchungsausschüssen tobt sich die Schönfärberei aus. Stichwort: NSU.

Der Bericht, den die Abgeordneten des Thüringer Landtages zu ihrem NSU-Untersuchungsausschuss jetzt vorgelegt haben, lässt an Kritik nichts zu wünschen übrig. Nach dem Studium tausender Seiten aus Akten und der Befragung dutzender Zeugen, die sich genauso schlecht erinnern konnten wie die in Sachsen, bestätigt er das, was im Münchner Mammutprozess bislang zu Tage kam und was emsige Journalisten nun in einem Dutzend Bücher zusammengetragen haben. Er zeigt nicht nur das “Versagen” der Thüringer Behörden – allen voran der Thüringer Verfassungsschutz – als es darum ging, das gewaltbereite Neonazi-Trio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe aufzuspüren und dingfest zu machen. Er legt in mehreren Fällen offen, wie einige Staatsbeamte alles dafür taten, damit das Trio ja nicht aufgespürt werden konnte.

Und das ist ein Kapitel, das explizit auch Sachsen und seine Behörden betrifft. Denn als das Trio 1998 abtauchte, fand es erst im sächsischen Chemnitz Zuflucht, wo ihm die Ermittler augenscheinlich dicht auf den Fersen waren, später in Zwickau, wo die drei unbehelligt ihre Straftaten planen konnten, obwohl ihr Netzwerk mit allerlei V-Leuten dicht durchsetzt war.

Doch während der Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss augenscheinlich wirklich wissen wollte, auf welche Weise Thüringer Behörden in welchen Fällen versagten, war die Mehrheit im Untersuchungsausschuss des Sächsischen Landtag mehr bemüht, ja keinen Schatten auf den märchenhaften Freistaat und seine Behörden fallen zu lassen, als konsequent nachzuhaken. Das Ergebnis, das der Untersuchungsausschuss des Sächsischen Landtages im Juli vorgelegt hatte, war dementsprechend: ein dicker Persilschein für die Behörden. Die wirklich kritischen Punkte, die sichtbar geworden waren, tauchten dann nur im Minderheitenbericht von SPD, Linken und Grünen auf.

Und das reicht natürlich nicht, findet Kerstin Köditz, Obfrau der Linksfraktion im Untersuchungsausschuss “Neonazistische Terrornetzwerke” des Sächsischen Landtages nach der Sondersitzung des Thüringer Landtags zum Bericht des dortigen NSU-Untersuchungsausschusses am Freitag, 22. August.”Der ausführliche Bericht aus Thüringen wird von allen dortigen Fraktionen getragen und bestätigt, was in Sachsen nur die demokratische Opposition sich zu sagen traute: Die Fahndung nach Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe war ein komplettes Desaster. Das voll ausgeprägte Behördenversagen führte dazu, dass das Trio nicht frühzeitig in Chemnitz gestellt werden konnte – trotz zutreffender Hinweise auf den Aufenthaltsort in Chemnitz und mutmaßliche Unterstützer aus der sächsischen Naziszene”, benennt Köditz den Knackpunkt, der die Thüringer Untersuchungen direkt mit denen in Sachsen verbindet. “Erstaunlich ist, dass sich der Thüringer Bericht nicht etwa an dem schmalen Text orientiert, den CDU- und FDP-Fraktion im Sächsischen Landtag für das Ergebnis des hiesigen Ausschusses hielten. Vielmehr wird schon in der Einleitung wortwörtlich aufgegriffen, was im Sächsischen Landtag die Fraktionen Die Linke, SPD und Grüne in ihrem Abweichenden Bericht dargelegt haben. Und anders als die Staatsregierung und die Koalitionsfraktionen in Sachsen ist sich der Thüringer Landtag einig, dass aus dem NSU-Skandal tiefgreifende Konsequenzen für die Arbeit der Sicherheitsbehörden gezogen werden müssen.”

Damit nahm der Thüringer Ausschuss das Minderheitenvotum aus Sachsen wesentlich ernster als die Schönmalerei von CDU und FDP im Gesamtbericht. Was natürlich einen Grund hat: Die von Grünen, Linken und SPD besonders angesprochenen Punkte sind genau jene Teilstücke, die das, was der Thüringer Ausschuss herausbekommen hat, direkt ergänzen. Oder ergänzen würden, hätten CDU und FDP in Sachsen den Mumm gehabt, mehr wissen zu wollen.

“Angesichts der Detailschärfe des Thüringer Berichts haben sich in Sachsen die CDU- und FDP-Fraktion, die keine Fehler bei Behörden und auch keinen Anlass für Reformen erkennen wollen, mit ihrem Abwiegeln bis auf die Knochen blamiert”, stellt Köditz fest. “Es sind derart viele Fragen offen geblieben und Widersprüche aufgebrochen, dass die Fraktion Die Linke im nächsten Sächsischen Landtag für die Einsetzung eines neuen Untersuchungsausschusses streiten wird. Ich möchte endlich wissen, warum etwa das Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen seine Suchmaßnahmen Ende 1998 für mehr als ein Jahr unterbrochen und damit den gesuchten Bombenbauern einen riesigen Vorsprung gewährt hat. Für eine bewusste Sabotage der Fahndung habe ich keine Beweise. Andererseits hat auch die Sächsische Staatsregierung wenig bis nichts getan, um solche Spekulationen zu zerstreuen, indem sie endlich die Fakten auf den Tisch packt.”

Und die Untersuchung wäre auch deshalb wichtig, weil ja bekanntlich nicht nur Thüringer und sächsische Behörden in die Vorgänge verwickelt waren. Der Prozess gegen Beate Zschäpe und einige der Unterstützer des NSU in München hat deutlich gezeigt, dass auch andere Landesbehörden auf dubiose Weise mit herumrührten in dieser Geschichte und dass auch Bundeseinrichtungen wie der Militärische Abschirmdienst und das Bundesamt für Verfassungsschutz dabei eine wesentliche Rolle spielten. Und manches deutet darauf hin, dass einige Behörden auch nach 1999 sehr wohl wussten, wo sie hätten suchen müssen, wenn ihnen an einer Ergreifung von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe wirklich gelegen gewesen wäre.

Der Spiegel-Beitrag: “Thüringer Abschlussbericht: Warum der NSU so lange morden konnte”: www.spiegel.de/panorama/justiz/nsu-untersuchungsausschuss-thueringen-spricht-von-desaster-a-987211.html

Einen Download zum Bericht des Thüringer Untersuchungsausschusses findet man in diesem Beitrag des MDR: www.mdr.de/nachrichten/nsu-abschlussbericht-thueringen100.html

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