Am 19. Juni besprach die L-IZ die Studie der Heinrich-Böll-Stiftung zum Fall Mügeln, zitierte auch den Grünen-Landtagsabgeordneten Miro Jennerjahn, der den Umgang der Behörden mit dem fremdenfeindlichen Vorfall als Fehler bezeichnete. Aber hat dieser "Fehler" im Freistaat Sachsen nicht System? Wir haben Miro Jennerjahn ein paar Fragen dazu gestellt.
Zur jüngst vorgestellten Studie der Heinrich-Böll-Stiftung zum “Fall Mügeln” erklären Sie: “Die Staatskanzlei sowie das Innen- und Justizministerium wären gut beraten, die in der Studie erhobenen Vorwürfe nicht einfach beiseite zu fegen, sondern diese ernsthaft zu prüfen. Solche Fehler dürfen sich nicht wiederholen, denn sie befördern schlussendlich die Ausbreitung von Rassismus und Neonazismus – was ebenfalls beispielhaft in Mügeln zu beobachten ist.” In der L-IZ haben wir diese Haltung als naiv bezeichnet. Aber ist sie denn nicht naiv, wenn eine Studie so deutlich zeigt, wie sehr das Vertuschen in Sachsen System hat?
Auch auf die Gefahr hin, dass das arrogant oder herablassend wirkt: Bei mir hat der Vorwurf der Naivität ein Schmunzeln hervorgerufen. Ich habe vor meiner Zeit im Landtag drei Jahre lang bei einem zivilgesellschaftlichen Verein in Wurzen gearbeitet, der sich gegen Rechtsextremismus engagiert und dafür immer wieder das Label “Nestbeschmutzer” aufgedrückt bekommen hat. Diese Form der Auseinandersetzung ist mir in der Folge in ganz Sachsen immer wieder begegnet. Im Landtag habe ich als zuständiger Abgeordneter für das Thema immer wieder genau auf diese Problematik aufmerksam gemacht.
Zuletzt habe ich über zwei Jahre im sächsischen Untersuchungsausschuss zu rechtsterroristischen Netzwerken mitgearbeitet. Ich bin also mit der Materie bestens vertraut. Ich habe stets – auch öffentlich – die These vertreten, dass eine politische Kultur des Leugnens, wie sie am deutlichsten vom ehemaligen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf mit seiner Aussage, die Sachsen seien immun gegen Rechtsextremismus, geprägt wurde, auch Auswirkungen auf die Arbeit von Beamten hat, weil diese annehmen müssen, dass sie keine Rückendeckung haben, wenn sie zu genau hinsehen bei rechter oder rassistischer Gewalt.
Trotz aller Missstände in Sachsen bei diesem Thema bin ich der Meinung, dass meine Forderung in Richtung Staatsregierung richtig ist. Der Anspruch muss ja sein, dass auch in Sachsen alles nach rechtsstaatlichen Grundsätzen funktioniert. Alles andere hieße, die Missstände zu akzeptieren.”
Jahr für Jahr stehen die Verfassungsschutzberichte des Freistaats Sachsen in der Kritik, weil sie praktisch nichts Substanzielles bieten und krampfhaft eine Gleichsetzung von Rechts- und Linksextremismus versuchen. Wird da nicht auch mit behördlicher Informationspolitik sehr systematisch versucht, das Problem der gewachsenen rechtsextremen Strukturen zu verharmlosen?
Das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) in Sachsen hat in der Auseinandersetzung mit dem Thema Rechtsextremismus versagt. Immer wieder wurden und werden Strukturen der extremen Rechten falsch eingeschätzt oder Wissen ist überhaupt nicht vorhanden. Ausgangspunkt ist der völlig untaugliche analytische Rahmen der so genannten “Extremismus-Theorie”, der sehr staatsfixiert ist und einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhält. Das Ergebnis ist auf jeden Fall, dass eine Verharmlosung rechtsextremer Strukturen stattfindet. Und das LfV hat de facto für eine Mehrheit der Sachsen eine Deutungshoheit nach dem Motto: “Wenn das LfV ein Problem nicht benennt, existiert es auch nicht.”
Wie falsch das ist, hat ja nicht zuletzt die Behandlung des so genannten “Nationalsozialistischen Untergrunds” gezeigt. Ab dem Jahr 2000 verschwindet der Begriff ‘Rechtsterrorismus’ aus dem Verfassungsschutzbericht, und das, obwohl mit Bezug auf das Trio Bönhardt, Mundlos und Zschäpe mehrfach davor gewarnt wurde, dass deren Agieren und das Begehen von Straftaten in gesteigerter Intensität durchaus Ähnlichkeiten mit einer terroristischen Strategie aufweist.
Ist nicht selbst der Umgang der sächsischen “Aufklärer” mit dem Fall “NSU” symptomisch für diese Schön-Wetter-Politik? Man gaukelt den Bürgern eine heile Welt vor und tut so, als hätten sich im Land keine gewaltbereiten rechtsextremen Strukturen etabliert?
Auch die Staatsregierung und sächsische Behörden gehen von der Existenz gewaltbereiter rechtsextremer Strukturen aus. Deshalb sind in den letzten Jahren mehrere Vereinigungen verboten worden. Allerdings ist die Gesamtschau lückenhaft. Mein Vorwurf im Fall NSU in Richtung Staatsregierung ist ein anderer. Nämlich der, dass sie sich nicht ernsthaft an der Aufklärung der Frage, weshalb der NSU nicht früher gestoppt werden konnte, beteiligt hat.
Der Grund dafür ist meines Erachtens darin zu suchen, dass sich die Staatsregierung schon sehr schnell nach der Selbstenttarnung des NSU auf die Lesart festgelegt hatte, dass sächsische Behörden nichts falsch gemacht hätten, weil Thüringen zuständig gewesen sei. Durch unsere Arbeit im Untersuchungsausschuss konnten wir indes zeigen, dass diese Legende der Staatsregierung nicht haltbar ist.”
Ist nicht selbst das Operative Abwehrzentrum der Sächsischen Polizei nur eine Art Feigenblatt, das viel zu spät gegründet wurde, nachdem das Problem des gewaltbereiten Rechtsextremismus in Sachsen jahrelang ignoriert und kleingeredet wurde?
Anhand der Aufstellung von speziellen Polizeieinheiten, die sich mit dem Thema Rechtsextremismus beschäftigen, lässt sich ablesen, ob dieses Thema politisch Konjunktur hat oder nicht. Ich möchte darauf verweisen, dass der Freistaat Sachsen bereits sehr früh in den 90er Jahren eine bundesweit beachtete Sonderkommission Rechtsextremismus (SoKo REX) gegründet hat. Die ist allerdings gegen Ende der 90er Jahre/Beginn der 2000er Jahre personell massiv beschnitten und damit auch in ihrer Arbeit behindert worden. Mit der Selbstenttarnung des NSU ist mit dem OAZ ein neues Label aufgeklebt worden und wieder für eine bessere Personalausstattung gesorgt worden.
Allerdings – und das ist fragwürdig – wurde dann auch die alleinige Fokussierung auf den Rechtsextremismus beseitigt. Meine Wahrnehmung ist, dass mit dem OAZ wieder mehr Zug in die Bekämpfung von Rechtsextremismus gekommen ist, was die repressive Seite betrifft. Ich glaube allerdings auch, dass viel davon der Person Bernd Merbitz geschuldet ist. Ob das von Dauer ist, wird sich zeigen.”
Ist es nicht eher so, dass die regierende CDU in Sachsen die Gefahr systematisch nur links sieht? Man denke nur an die systematische Verfolgung von Demonstrationsteilnehmern gegen den rechten Aufmarsch im Februar 2011 in Dresden, die heute keineswegs beendet sind und sich auch gegen Parlamentarier und Gewerkschafter richten.
Zutreffender ist aus meiner Sicht, dass es mit der CDU in Sachsen nicht möglich ist, sich fokussiert mit dem Thema Rechtsextremismus auseinander zu setzen, ohne dass von der CDU eine ‘linksextreme’ Gefahr konstruiert wird, die der des Rechtsextremismus mindestens gleichwertig sein muss. Daraus resultiert dann auch eine Kriminalisierung von friedlichen Protestformen, die nicht gerechtfertigt ist.
Die Ironie dabei ist: Weder CDU, noch Staatsregierung, noch sächsische Behörden sind in der Lage, eine tragfähige Definition dessen zu liefern, was sie unter ‘Linksextremismus’ verstehen.
Womit sich das Problem ja ausweitet – denn die Präventionsangebote gegen die Gefahr von rechts werden ja nicht nur denkbar knapp gehalten. Sie wurden ja auch geradezu kriminalisiert. Stichwort: “Demokratieerklärung”.
Die Einführung der so genannten “Demokratieerklärung” entspringt der Logik, dass verdächtig ist, wer sich gegen Neonazis engagiert. Auch der jährliche leidige Kampf um Fördermittel für zivilgesellschaftliche Vereine, die auf diesem Gebiet tätig sind, entspringt dieser Logik. Die “Demokratieerklärung” war und ist ein Schlag ins Gesicht derer, die sich engagieren. Sie ist m. E. nicht mit unserer Verfassung vereinbar, wie auch ein Gutachten des Juristischen Dienstes des Sächsischen Landtages nahe legt. Die Frage, ob sie rechtlich zulässig ist, wird vor Gericht geklärt. Die Klausel des Bundes wurde bereits vor Gericht gekippt. Auch gegen die sächsische Variante der “Demokratieerklärung” sind zwei Klagen anhängig.
Eine Studie zum Fall Mügeln: Wie sächsische Behörden eine fremdenfeindliche Gewalttat umzudeuten versuchten
Mügeln? Da war doch was. Aber was? …
Kurz und gut: Das weltoffene Sachsen verprügelt keine Inder
“Der Behauptung einiger Leute, in Sachsen werde zu wenig gegen Rechtsextremismus getan …
Mügeln: Ausländerfeindliche Auseinandersetzung beim Stadtfest beschäftigt noch immer die Justiz
“Mit der Wahrheit ist das immer so eine Sache.” …
Zeugt das nicht von einem – vorsichtig formuliert – paternalistischen Denken, das sich dann auch in Polizei und Behörden manifestiert? Und das in Sachsen eben doch System hat?
Es ist kein Geheimnis, dass das Denken der Staatsregierung und der in Sachsen dominierenden CDU in starkem Maße autoritär-obrigkeitsstaatlich ist. Daraus resultiert dann auch ein weitreichendes Misstrauen gegenüber zivilgesellschaftlichem Engagement, insbesondere dann, wenn diejenigen, die dieses Engagement tragen, etwas für eine Demokratie völlig Normales tun: staatliches Handeln zu kritisieren. Ich gehe davon aus, dass diese Geisteshaltung letztendlich Einfluss hat auf behördliches Handeln, wie ich oben schon dargelegt habe. Die Studie der grün-nahen Stiftung “Weiterdenken” in der Heinrich-Böll-Stiftung hat dies für Mügeln eindrücklich gezeigt. Die Konsequenzen sind insofern dramatisch.
Ich schrecke dennoch vor der Formulierung “System haben” zurück, weil das sehr nach einem allumfassenden Masterplan klingt. In jedem Fall haben wir ein politisches Klima in Sachsen, das eine Verharmlosung oder gar Nichtauseinandersetzung mit Rechtsextremismus begünstigt.
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