Ein Polizeieinsatz bewegt die Gemüter. Wegen eines Ladendiebstahls, der ein Landfriedensbruch sein soll, fuhren die Ordnungshüter nach dem Bezirksliga-Spiel der BSG Chemie beim VfB Zwenkau schwere Geschütze auf. 75 Polizisten, darunter Mitglieder einer Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit, gingen gegen die grün-weißen Fans brutal zu Werke. Mindestens sechs Personen wurden teils erheblich verletzt. Warum dieser Aufriss wegen eines Ladendiebstahls?
Seit Sommer 2011, als der FC Sachsen pleite ging und die Chemiker das Landesliga-Spielrecht des VfK Blau-Weiß Leipzig erwarben, gerieten Fans und Verein wiederholt zum Spielball der Ordnungshüter.
3. September 2011: Beim Landespokal-Spiel in Crottendorf werden die Chemie-Fans erst vom Besuch einer Gaststätte abgehalten, dann beim Betreten des Sportplatzes ohne erkennbaren Grund doppelt durchsucht: Erst von der Security, anschließend von der Polizei.
23. März 2013: 150 Fans werden auf dem Heimweg von einem Testspiel gegen Erzgebirge Aue II auf dem Bahnhof Markkleeberg von einer Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) festgesetzt und namentlich erfasst.
26. Mai 2013: Vor dem Landesliga-Spiel nahmen Beamte einen Chemie-Fans rabiat fest und führten ihn in Handschellen ab. Er sollte 6 Monate zuvor einen Beamten beleidigt haben. Als nach Abpfiff Neonazis einen dunkelhäutigen Chemie-Supporter beleidigten, blieben die Ordnungshüter untätig. Erst als sich einzelne Ultras in Richtung der Rechten bewegten, wurden die Einsatzkräfte aktiv – allerdings gegen die Chemie-Fans, gegen die sie Pfefferspray einsetzten.
August 2013: Entgegen aller Bedenken besteht die Polizei auf der Austragung des Bezirksliga-Derbys BSG Chemie gegen Lok Leipzig II am 1. September. Zu dem brisanten Termin hatten sich bereits Lok-Hooligans angekündigt, weswegen beide Vereine auf eine Absage pochten. Bei der Polizei stießen die Clubs in der Sicherheitskonferenz sechs Tage vor Anpfiff auf taube Ohren. Der Sächsische Fußball-Verband knickte einen Tag später schließlich ein, das Spiel wurde entgegen der Haltung der Polizeileitung verschoben.
28. September 2013: Wegen eines Ladendiebstahls, den die Polizei als Landfriedensbruch bewertet, werden nach Abpfiff des Bezirksliga-Spiels VfB Zwenkau gegen BSG Chemie alle Gästefans auf dem Sportplatz festgesetzt. Die Beamten teilen den Betroffenen den Grund der Maßnahme nur unzureichend mit. Es kommt zu Handgreiflichkeiten. Ergebnis: 6 Verletzte, darunter 2 Polizisten.
Hinter der Eskalation steckt ordnungspolitischer Wille. Für das CDU-geführte Innenministerium stellt der Verein in zweierlei Hinsicht ein Problem dar. Einerseits haftet den Chemikern das Image eines Ultra-Vereins an. Rückblende: Die “Diablos” überwarfen sich 2008 mit der Führung des FC Sachsen, hoben als Konsequenz zusammen mit verprellten Traditionalisten die BSG Chemie aus der Taufe. Bis heute stellen sie im Verein die stärkste Fraktion. Zudem sind sie in allen Vereinsgremien vertreten. Da liegt der Hase im Pfeffer: Denn Ultras gelten in Polizeikreisen per Definition mindestens als “Kategorie B”. Als bedingt gewaltbereit.
Andererseits besteht eine erkennbare Schnittmenge zwischen Fanszene und linksextremen Kreisen, die vereinsseitig wohlwollend toleriert wird. Wenngleich die Chemie-Ultras sich nicht offensiv an der Antifa-Ästhetik bedienen, sind einzelne “Diablos”-Mitglieder sehr wohl bei linken Szene-Happenings anzutreffen.
Der konservative Ordnungsfetischist nimmt den Club demnach als doppeltes Übel wahr. In sächsischen Sicherheitskreisen gilt das hippe Label “BSG Chemie” als Synonym für die erfolgreiche Okkupation des kleinbürgerlichen Fußballs durch Gewalttäter und Extremisten. Aus dieser Warte betrachtet, erscheint der repressive Umgang mit den Fans legitim.
Allerdings versperrt die starre, innerbehördliche Definitionsmacht den Blick auf das real praktizierte Vereinsleben. Bei keinem zweiten sächsischen Verein werden die von Außenstehenden pauschal als “Problemfans” stigmatisierten Ultras so intensiv in die Verantwortung genommen wie bei den Leutzschern. Fast allen “Diablos” ist bewusst, dass sportlicher wie ökonomischer Erfolg “ihres” Vereins sehr stark vom Agieren ihrer Gruppe abhängt.
Dass der ein oder andere junge Mann dennoch über die Stränge schlägt und Grenzen verletzt, ist ein akzeptabler Preis für den präventiven Effekt, den das chemische Modell ausstrahlt. Die Alternative sind nämlich Schlägerbanden wie “Scenario Lok”, “Blue Caps” oder “Saalefront Ultras”, die Fankurven in rechtsfreie Angstzonen verwandeln. Der Polizei bleibt selten nichts anderes übrig, als vor Ort die Problemlagen zu verwalten und sich nach begangenen Straftaten auf die Suche nach Beweismitteln zu machen. In vielen Fällen verhindert die von Betroffenen empfundene Furcht vor weiteren Angriffen eine zielgerichtete Strafverfolgung.
Ladendiebstahl, Landfriedensbruch, kaputte Kniescheibe: Umstrittener Polizei-Einsatz sorgt nach Chemie-Spiel für Gesprächsstoff
Dass die Ultras der BSG Chemie keine Mauerblümchen …
Von Interesse ist folglich die Frage, warum die Polizei im Falle der Leutzscher nicht die einmalige Chance ergreift, im Falle von Normverstößen zunächst mit Unterstützung anwesender Vertreter von Verein und Fanprojekt deeskalierend auf die betreffenden Fans zuzugehen? Ganz offensichtlich präferieren die Sicherheitskräfte vielmehr, mit überzogenen Einsätzen wiederholt das Bild des gewalttätigen Randale-Clubs zu reproduzieren. Dabei wäre es doch gerade ihre Aufgabe, mit allen gebotenen Mitteln dafür zu sorgen, dass Auseinandersetzungen gar nicht erst eskalieren, also Straftaten nicht begangen werden.
Dass letzten Samstag auch zwei Beamte zu Schaden kamen, ist allein Schuld des Polizeiführers. Denn er hätte ebenso gut zunächst mit seinen 74 Kollegen den Sportplatz absperren können, um Fanprojekt und Chemie-Vorstand die Chance einzuräumen, den grün-weißen Anhang selbst aufzufordern, die Polizei die gewünschten Identitätsfeststellungen durchführen zu lassen. Angesichts herbstlicher Temperaturen hätten die Fans früher oder später vermutlich alle freiwillig ihre Daten herausgerückt, um sich auf den Heimweg machen zu können.
Gegenüber Medienvertretern übt sich die Polizei darin, das Debakel zu beschönigen. Polizeisprecher Uwe Voigt legitimiert das rigide Vorgehen mit dem Vorliegen eines Landfriedensbruches. Er verweist auf 500 Euro Schaden durch gestohlenen Alkohol. Eine Summe, bei der jeder der “20 bis 25 Mann” wenigstens Waren im Wert von 20 Euro gestohlen haben müsste. In einem Discounter. Die Fans müssten Bier und Schnaps demnach kistenweise herausgeschleppt haben. Der unangenehme Geruch der taktischen Lüge liegt seitdem in der Luft.
Voigt führt weiter aus: “Vertreter des Fanprojektes wurden von den szenekundigen Beamten der Polizeidirektion informiert, dass nach dem Spiel die besagten Maßnahmen durchgeführt werden.” Warum behauptet jenes Fanprojekt vor Veröffentlichung dieser Äußerung durch L-IZ.de exakt das Gegenteil? Warum decken sich die subjektiven Wahrnehmungen der Fan-Sozialarbeiter mit denen von Vereinsvertretern?
Die Polizei misstraut nicht nur dem Verein, sondern auch dem Leipziger Fanprojekt. Das Projekt, das seit Ende 2011 arbeitet, wurde gegen den Widerstand des Innenministeriums installiert. Die Polizei hätte lieber weiter mit dem alten Projektträger, der Leipziger Sportjugend e.V., kooperiert. Zwar waren unter dessen Ägide Neonazis zeitweilig willkommene Gäste. Für die Polizei aber kein Problem, solange der beidseitige Infofluss zwischen Sicherheitsbehörden und Projekt funktionierte. Das ist nun Geschichte.
Das neue Fanprojekt liefert kein Insiderwissen an die Polizei. Die Verschwiegenheit gegenüber Sicherheitsbehörden gilt als Basis für den erfolgreichen Zugang zur Zielgruppe und damit zur Gewaltprävention und einer vertrauensvollen Gesprächsatmosphäre. Damit hatte das alte Projekt in seiner Schlussphase erhebliche Probleme.
Die Chemie-Ultras trafen sich zuletzt nicht mehr in dessen Räumlichkeiten, sondern im “Fischladen”, dem Connewitzer Fanladen des Roten Sterns. Möchten Leipziger Sicherheitsinstitutionen an persönliche Daten von Fußball-Fans gelangen, müssen sie sich der normalen Instrumente von Polizeigesetzen und Strafprozessordnung bedienen. Um die Sammelwut staatlicher Institutionen zu befriedigen, die sich in Datenbanken wie der “Gewalttäter Sport” manifestiert, scheint in Sachsen jeder noch so nichtige Anlass genutzt zu werden, um repressive Maßnahmen vom Zaun zu brechen. Dass dabei Gerechtigkeitssinn und Demokratieverständnis junger Erwachsener schleichend ausgehöhlt wird, scheint der sächsischen Ordnungsmacht gleichgültig zu sein.
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