Seit nun fast einem Jahr herrscht in Sachsen das große Rätselraten: Was wussten die staatlichen Ermittler über die drei in Zwickau abgetauchten Thüringer Neonazis, die sich selbst so großmäulig "Nationalsozialistischer Untergrund" nannten? Waren sie wirklich so ahnungslos, wie der Innenminister bis heute tut? - Oder versteckt sich hinter der amtlichen Ahnungslosigkeit schlicht eine falsche Strategie?

Am 8. Oktober veröffentlichte die Fraktion von Bündnis 90 / Die Grünen die Antworten des sächsischen Innenministers auf ihre Große Anfrage “Beobachtung rechtsextremistischer Bestrebungen und Organisationen im Freistaat Sachsen”. 168 Seiten lang wurde der Antwortkatalog. 22 Seiten lang wurde die Kurzauswertung der Grünen dazu. Und selbst die Fülle dieser Auskünfte verdeckt eine simple Tatsache nicht: Die Beobachtung des rechtsradikalen Spektrums in Sachsen ist lückenhaft und oberflächlich. Und das war sie in den letzten Jahren immer.

Was unter anderem am seltsamen Extremismus-Begriff liegt, mit dem das Landesamt für Verfassungsschutz agiert – und Jahr für Jahr Berichte produziert, die so substanzlos sind, dass man sich das Papier dafür eigentlich sparen könnte.

“Die Antworten der Staatsregierung verdeutlichen, dass die Beobachtungspraxis des Landesamtes für Verfassungsschutz nicht geeignet ist, um ein angemessenes Bild der extremen Rechten in Sachsen zu zeichnen. So gibt die Staatsregierung erstaunlich offen zu, dass ihre Definition von Rechtsextremismus nicht auf einer wissenschaftlich-analytischen Grundlage beruht, sondern sich am allgemeinen Sprachgebrauch orientiere”, stellt Miro Jennerjahn, demokratiepolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen im Landtag, fest. “Wie daraus eine problemangemessene Beobachtung resultieren soll, bleibt offen. Dementsprechend klaffen in den Antworten auch große Löcher, etwa wenn es um die gesellschaftliche Verankerung von Neonazis geht, oder auch rechtsextreme Kleinparteien jenseits der NPD.”

Das Ergebnis ist: Im Verfassungsschutzbericht werden dann Äpfel mit Birnen verglichen, werden Parteistrukturen der Rechten mit denen der Linken einfach gleichgesetzt, ohne die Strukturen dahinter zu beleuchten. Mal ganz zu schweigen davon, dass der Verfassungsschutz selbst auf Zahlenmaterial ungeprüft zurückgreift, das nun wieder die Polizei in teilweise politischer Ambition zusammengestellt hat. Man denke nur an all die unsauberen Definitionen von “Straftaten” im Zusammenhang mit Protestdemonstrationen gegen rechtsextreme Versammlungen wie etwa im Februar 2011 in Dresden. Da wurden selbst von der Staatsanwaltschaft gemutmaßte Verstöße gegen das Versammlungsrecht undiskutiert als linksextremistische Straftaten in die Verfassungsschutz-Statistik übernommen. Womit eine Instanz die Deutungshoheit bekommt, die sichtlich nicht wirklich informiert ist über das eigentliche Kernproblem Rechtsextremismus.

“Hier zeigt sich, wie problematisch die faktische Deutungshoheit des Landesamtes für Verfassungsschutz darüber ist, was als rechtsextrem wahrgenommen wird. Die tatsächlich relevanten Bereiche – etwa der alltägliche Rechtsextremismus oder die Ausbildung von Angstzonen für all diejenigen, die nicht in das rechtsextreme Weltbild passen – werden so jedenfalls nicht angemessen erfasst”, stellt Jennerjahn fest. “Dies zeigt, dass wir dringend zu mehr wissenschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Expertise über die extreme Rechte in Sachsen kommen müssen. Der Verfassungsschutz will oder kann es nicht.”Im Ergebnis verzweifeln die Landtagsabgeordneten auch in den Ausschüssen, in denen sie sich eigentlich mit dem Thema beschäftigen wollen. Das ist – neben dem “NSU”-Untersuchungsausschuss auch die Parlamentarische Kontrollkommission. Aber auch diese wurde – obwohl sie ganz offiziell zur Kontrolle des Landesamtes für Verfassungsschutz geschaffen ist – in all den Jahren immer nur rudimentär über die Arbeit der Schlapphüte informiert. Oft wurden Informationen selbst auf Nachfrage nicht gegeben. Und gerade die Nachfragen in Sachen “NSU” zeigten in den letzten Monaten, dass die PKK über Jahre sogar bewusst im Dunkeln gelassen wurde über die Beobachtung der rechten Terrorgefahr.

In diesem Zusammenhang sieht die Gleichsetzung von Rechts-, Links- und Ausländerextremismus in den Berichten des Verfassungsschutzes im Nachhinein geradezu makaber aus. Lückenhaft sowieso. Denn Fakt ist mittlerweile auch, dass die Arbeit der V-Leute nicht wirklich zur Aufklärung der Subkulturen und abgeschotteten Strukturen der Neonazi-Szene in Sachsen beigetragen haben. Die eine der am dichtesten gestaffelten in Deutschland ist.

Findet zumindest Miro Jennerjahn nach Lesen der 168 Seiten: “Sachsen ist leider nach wie vor eine der rechtsextremistischen Hochburgen bundesweit. Dies gilt sowohl für das parteigebundene Spektrum als auch die so genannte freie Szene. Neben einer vergleichsweise starken parteipolitischen Verankerung durch die NPD-Landtagsfraktion ist Sachsen auch eines der bundesweit bedeutsamen Zentren für den Vertrieb rechtsextremer Musik und von Neonazi-Devotionalien.”

Was Ursachen hat, die auch mit einem über Jahre gepflegten Leugnen der rechtsradikalen Entwicklungen auf Regierungsebene zu tun hat. Wegschauen war über Jahre die Devise – was in den 1990er Jahren erst ermöglichte, dass sich anfangs besonders in Ostsachsen (Stichwort: “Skinheads Sächsische Schweiz”) rechtsextreme Strukturen etablieren konnten und die NPD erstarkte.

“Auch wenn die NPD im Bundesvergleich in Sachsen nach wir vor stark ist, so steckt sie doch in der Krise. Mitgliederschwund und Mobilisierungsprobleme insbesondere bei jüngeren Menschen, machen der NPD sichtlich zu schaffen. Hier können wir vorsichtig optimistisch sein, dass die NPD 2014 nicht erneut in den Sächsischen Landtag einzieht”, so Jennerjahn. Aber damit hat sich das Problem nicht gelöst, nur verschoben. Jennerjahn: “Der Bedeutungsverlust der NPD wird jedoch kompensiert durch die freie Szene. Insbesondere die klar neonationalsozialistische Kameradschaftsszene befindet sich in Sachsen im Aufwind. Darin zeigt sich, dass eine Schwäche der NPD keinesfalls gleichbedeutend ist mit einer Schwäche der extremen Rechten insgesamt. Daher darf auch nicht die NPD allein im Blickpunkt der Aufmerksamkeit stehen. So wäre es wichtig, die gesellschaftlichen Anknüpfungspunkte der nicht parteiförmig organisierten Neonazis zu untersuchen. Leider bleiben genau an der Stelle die Antworten der Staatsregierung auf unsere große Anfrage sehr vage.”Aber gerade hier müssten sie konkret werden. Der Fall “NSU” ist symptomatisch für das Problem. Die NPD war und ist immer nur das scheinbar demokratische Mäntelchen für die Szene, die nicht nur deutschlandweit, sondern längst international bestens vernetzt ist. Dass Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe 1998 so problemlos nach Sachsen wechseln (und den Thüringer Behörden so einfach entwischen) konnten, hat mit den engen Verflechtungen der neonationalistischen Szene zu tun. Unterstützung fanden die drei damals im sächsischen Myzel des “Blood & Honour”-Netzes, das ihnen beim Besorgen falscher Papiere und Anschubfinanzierungen half. Und auch das Besorgen der Waffen, mit denen dann Mundlos und Böhnhart auf Bankraub und Mordtour gingen, zeigt die Verbindungen in die bundesdeutsche Naziszene.

Was dann freilich auch die Frage aufwirft: Wissen die Verfassungsschützer tatsächlich, wie stark die Strukturen ausgeprägt sind? Denn auch das ergab die Anfrage ja: Die Landesämter für Verfassungsschutz kooperieren ungern miteinander und tauschen auch Informationen nur mit Widerwillen aus. In einigen Bereichen scheint sich Sachsen sogar als idealer Schonraum für diverse Projekte der bundesweiten Neonazi-Szene entwickelt zu haben. Warum, das beantwortet die Anfrage jedoch auch nicht.

Jennerjahn: “Nazi-Musik und Fanartikel haben sich in Sachsen zum Millionengeschäft entwickelt. Mehr als zehn Nazi-Versandhandel sind in Sachsen aktiv, darunter mehrere bundesweit bedeutsame Unternehmen. Der Jahresumsatz wird gegenwärtig auf ca. 3,5 Millionen Euro geschätzt. Zusammen mit der anhaltend hohen Zahl von 40 bis 50 Neonazi-Konzerten jährlich im Freistaat Sachsen, ist davon auszugehen, dass Strukturen des im Jahr 2000 verbotenen Blood & Honour-Netzwerks weiter wirken.”

Die diversen Gruppierungen ändern dann einfach ihre Titulierungen. Die Abschottung wird weiter perfektioniert. Und so mancher rechte Schläger, der vor Gericht reumütig seinen Ausstieg aus der Szene verkündet hatte, taucht an anderer Stelle wieder auf. Für manchen bekannten Akteur ist das Leben in rechtsradikalen Strukturen längst Lebensinhalt. Was unter anderem zu dem Effekt führt, dass die Zahl der rechtsmotivierten Straftäter in den letzten Jahren zwar nicht sank (auch wenn die Ermittlungsbehörden nicht wirklich analysiert haben, warum das so ist), dafür immer mehr Straftäter der Gruppe der 26- bis 45jährigen zuzuordnen sind. Was natürlich auch bedeutet: Wer erst einmal im rechtsextremen Milieu sozialisiert wurde, verlässt es in der Regel nicht mehr.

Was auch wieder durch grundlegende gesellschaftliche Einstellungen unterstützt wird. Das “Wegducken” in etlichen sächsischen Kommunen, in denen die Rechten Furore machten, ist ein Teil des Dilemmas. Denn es schließt eine stillschweigende Akzeptanz der nationalistischen Grundanschauungen auch in größeren Teilen des Bürgertums mit ein. Was zuletzt wieder sichtbar wurde, als in Sachsen die Asyldebatte entbrannte. Da tauchten nicht nur Akteure aus dem rechten Spektrum in diversen Bürgerinitiativen auf – es wurden auf einmal auch wieder fremdenfeindliche und nationalistische Töne hörbar. Die nie ganz aus dem Denken breiter bürgerlicher Schichten in Deutschland verschwunden sind, wie ja diverse Leipziger Studien belegen.

Es sind diese alten, nie hinterfragten Ressentiments, die auch den Auftritt der Rechtsextremen in Sachsen immer wieder zu legitimieren scheinen, eine Grauzone des Möchte-ich-nicht-Wissens. Und die sächsischen Verfassungsschützer haben dem Land einen Bärendienst erwiesen, weil sie sich selbst einlullten mit der wissenschaftlich nicht fundierten These vom Rechts-und-Linksextremismus. Sie haben damit große Teile rechtsextremer Organisationsstrukturen einfach ausgeblendet, sich mit dem bloßen Anschein zufrieden gegeben. Ein idealer Raum für rechte Gewalttäter, die abtauchen wollen. Und so weit man das den Antworten des Innenministers entnehmen kann, sind derzeit noch acht sächsische Rechtsextremisten irgendwo abgetaucht. Nur nach einem davon wird gefahndet.

Hintergrundpapier zur Großen Anfrage (Auswertung):
www.gruene-fraktion-sachsen.de/fileadmin/user_upload/Positionspapiere/2012-10-08_REX_mj.pdf

Große Anfrage ‘Beobachtung rechtsextremistischer Bestrebungen und Organisationen im Freistaat Sachsen’ (Drs. 5/9712): http://edas.landtag.sachsen.de/viewer.aspx?dok_nr=9712&dok_art=Drs&leg_per=5&pos_dok=202

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