Als sich am 4. November die beiden Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in einem Wohnmobil in Eisenach selbst töteten, weil ihnen die Polizei auf den Fersen war, da begannen in diversen Ämtern des Verfassungsschutze auf einmal die Schredder zu arbeiten und Hunderte Akten zu rechten Netzwerken wurden systematisch vernichtet. Auch in Sachsen. Das passierte über Monate in aller Stille.

Zumindest so lange, bis die Abgeordneten, die in den extra gegründeten Ausschüssen versuchen, das Verhalten der Behörden im Umgang mit rechten Netzen und der speziellen Terrorgruppe “NSU” zu beleuchten, mitbekamen, dass ihnen das dringend benötigte Material vor der Nase weg vernichtet wurde.

In Berlin genauso wie in Dresden. Im Juli stellte der Grünen-Abgeordnete Johannes Lichdi deshalb Strafanzeige. Doch am 13. September teilte ihm die Staatsanwaltschaft Dresden mit, dass der Strafanzeige vom 24.07.2012 “keine Folge gegeben” wird.

Zur Begründung führt die Staatsanwaltschaft Dresden aus, dass aufgrund der durch die allgemeine Berichterstattung, insbesondere auch der Presseerklärung des Landesamtes für Verfassungsschutz, vom 14. Juli 2012 gewonnenen Erkenntnisse, keine Anhaltspunkte für ein strafbares Verhalten des ehemaligen Präsidenten des Landesamtes für Verfassungsschutzes (LfV) Reinhard Boos und des Abteilungsleiters Dr. Olaf Vahrenhold oder anderer zu erkennen sei. Es sei nicht ersichtlich, dass die den Bereich Rechtsextremismus betreffenden Aktenstücke nicht hätten vernichtet werden dürfen.

“Die Weigerung der Staatsanwaltschaft, überhaupt Ermittlungen aufzunehmen und den Sachverhalt aufzuklären, grenzt an Rechtsverweigerung”, erklärt Johannes Lichdi, rechtspolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. “Es ist nicht nachvollziehbar, dass die Staatsanwaltschaft zur Begründung des fehlenden Tatverdachtes im Wesentlichen auf eine den Vorwurf zurückweisende Pressemitteilung des Landesamtes für Verfassungsschutz selbst verweist und es nach kriminalistischen Erfahrungen nicht für möglich hält, dass eine Straftat vorliegt.”

Paragraph 7 des Sächsischen Verfassungsschutzgesetzes (SächsVSG) regelt unter anderem die Löschung und Sperrung personenbezogener Daten. Gemäß Absatz 2 der Regelung sind personenbezogene Daten in Dateien zu löschen, wenn ihre Speicherung unzulässig war oder ihre Kenntnis für die Aufgabenerfüllung nicht mehr erforderlich ist. Dies sei regelmäßig zu prüfen, heißt es im Gesetz. Spätestens nach 10 Jahren bzw. in manchen Fällen nach 15 Jahren sei zu löschen heißt es in Absatz 3.

Anders bei Akten: Sind die dort enthaltenen personenbezogenen Daten nicht mehr für die Aufgabenerfüllung erforderlich, sind die Daten (nicht die Akten) zu sperren, so zu lesen in Absatz 4. “Das bedeutet, dass die weitere Verarbeitung der Daten eingeschränkt ist”, erläutert Lichdi. “In der Regel wird dazu ein sogenannter Sperrvermerk auf dem jeweiligen Aktenblatt angebracht. Diese Aktenblätter werden weder entfernt noch sonst unkenntlich gemacht.”

Ausnahmsweise dürfen Akten, in denen personenbezogene Daten gespeichert sind, freilich auch vernichtet werden. Dafür müssen aber zwei Voraussetzungen vorliegen: 1. die gesamte Akte (also nicht nur einzelne Bestandteile) darf 2. nicht mehr zur Aufgabenerfüllung benötigt werden. “Das bedeutet, dass nur ganze Akten, nicht bloß Aktenteile, vernichtet werden dürfen”, so Lichdi.Der freilich bezweifelt, dass irgendeiner der Gründe auf die Groß-Schredderei des Sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz zutrifft. Mutmaßlich beschäftigen sich die geschredderten Akten mit dem mittlerweile verbotenen rechtsextremen Netzwerk “Blood and Honour” und seinen damaligen Strukturen in Sachsen, auf die die drei abgetauchten Thüringer Rechtsextremisten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe 1997, 1998 bei ihrer Flucht aus Jena bauen konnten und wo sie mutmaßlich die nächsten Jahre Unterstützung fanden.

Indem die Akten vernichtet werden, werden möglicherweise auch alle Indizien getilgt, die auf ein mögliches Versagen oder gar Vertuschen der Schlapphüte im Fall “NSU” hindeuten können. Andererseits erhöht der sächsische Verfassungsschutz seine öffentliche Reputation in keiner Weise, indem er gerade in so einer Situation zur Aktenschredderei greift. Wenn nichts in all diesen Akten mit dem “NSU” zu tun gehabt haben sollte, wäre eine transparente Zugänglichkeit dieses Aktenbestandes für den Untersuchungsausschuss sogar entlastend gewesen. Jetzt freilich deutet alles auf das Gegenteil hin.

“Dass die Aktenvernichtung im Landesamt für Verfassungsschutz kein gewöhnlicher Vorgang ist, zeigt allein schon die Prüfung des Landesamtes durch den sächsischen Datenschutzbeauftragten, der die Vernichtung von einzelnen Aktenteilen nicht durch die gesetzlichen Löschungsvorschriften gedeckt hält”, so Lichdi. “Es ist absurd, vom Anzeigenerstatter Nachweise dafür zu verlangen, dass die aus dem Bereich Rechtsextremismus vernichteten Akten einen Bezug zum NSU gehabt hätten. Dieser Nachweis kann aufgrund der Aktenvernichtung nicht erbracht werden. Die Staatsanwaltschaft ist aber nicht erst dann verpflichtet, Ermittlungen aufzunehmen, wenn die Beweislage erdrückend ist. Es ist nicht einleuchtend, warum die vorliegenden Indizien nicht zur Grundlage weiterer Ermittlungen gemacht hätten werden können.”

Mittlerweile ist auch der Umfang der getilgten Beweisstücke klar.

Die sächsische Staatsregierung hat inzwischen bestätigt, dass vom 4. November 2011, also seit Bekanntwerden des “NSU”, bis zum 19. Juli 2012 insgesamt 5.000 Aktenstücke aus 190 Akten vernichtet wurden. Davon 800 Einzelstücke aus dem Bereich Rechtsextremismus. Nach Angaben des Innenministeriums handelt es sich bei den vernichteten Unterlagen beispielsweise um Ermittlungsberichte zu “Teilnehmern von Skinheadkonzerten, Doppelausdrucke und Personenakten zu nicht mehr relevanten Personen” aus dem Zeitraum zwischen August 1992 und Juni 2012 (Drs. 5/9773).

Dazu hatte Lichdi ebenfalls noch im Juli gefragt – Justizminister Dr. Jürgen Martens (FDP) hatte im August geantwortet. Ans Licht kam diese Aktenvernichtung erst durch einen Zufallsfund. Wikipedia dazu: “Beim Zimmerwechsel eines Mitarbeiters wegen Umstrukturierung des Amtes war in dessen Tresor eine Akte mit Protokollen einer Telefonüberwachung (laut Medienberichten bei einem Mitglied des verbotenen Netzwerks Blood and Honour) von Ende 1998 aufgetaucht, die das Landesamt im Auftrag des Bundesamtes für Verfassungsschutz angefertigt hatte und wegen der dort durchgeführten Aktenvernichtung als verloren galten. Zuvor hatte Boos dem sächsischen Innenminister immer versichert, den Ermittlungsbehörden bzw. dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages alle Unterlagen zur Verfügung gestellt zu haben.”

Und genau diese Vorgänge um die dem Untersuchungsausschuss nicht zur Verfügung gestellten, sondern vernichteten Akten will nun die Dresdner Staatsanwaltschaft gar nicht erst untersuchen.

Johannes Lichdi zu dem, was wahrscheinlich drin gestanden hat: “Wenn beispielsweise Berichte zu Skinheadkonzerten vernichtet worden sind, ist darauf hinzuweisen, dass sich das NSU-Mitglied Uwe Mundlos laut Angaben aus dem sog. ‘Schäfer-Bericht’ (Thüringen) wohl auf Skinheadkonzerten mit Unterstützern aus der blood-and-honour-Szene Chemnitz getroffen hat.”

Hier alle Dokumente nochmals zum Nachlesen:

Schreiben der Staatsanwaltschaft Dresden vom 13. Sept. 2012:
www.gruene-fraktion-sachsen.de/fileadmin/user_upload/ua/ermittlungsverfahren_boos.pdf

Strafanzeige des Landtagsabgeordneten Johannes Lichdi vom 24.07.2012:
www.gruene-fraktion-sachsen.de/fileadmin/user_upload/ua/Strafanzeige001.pdf

Kleine Anfrage ‘Erkenntnisse der Staatsregierung zur Aktenvernichtung im Landesamt für Verfassungsschutz’ (Drs 5/9773):
http://edas.landtag.sachsen.de/viewer.aspx?dok_nr=9773&dok_art=Drs&leg_per=5&pos_dok=-1

Schäfer-Bericht (Randzahl 270, S. 35):
www.johannes-lichdi.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Schaefer-Bericht.pdf

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