Zehn Jahre nach den verheerenden Flutereignissen in Sachsen hat das sächsische Umweltministerium am 12. Juli 2012 eine fast durchweg positive Bilanz des Hochwasserschutzes in Sachsen gezogen. "Dabei wurde, wie es scheint, die zurückliegende Entwicklung durch eine rosarote Brille betrachtet", erklärt dazu Bernd Heinitz, Vorsitzender des NABU Sachsen. "Zwar räumt Minister Kupfer ein, dass noch viel zu tun bleibt, aber an keiner Stelle seiner Fachregierungserklärung kommen die existierenden Defizite zur Sprache."
Dabei wurde in den Jahren nach 2002 eine Hochwasserstrategie entwickelt, die mit der Synthese aus natürlichem Rückhalt, technischem Hochwasserschutz und weiteren flankierenden Maßnahmen den Anforderungen an einen modernen Hochwasserschutz zukunftsweisend Rechnung trug. Nur hat die sächsische Landesregierung den technischen Ausbau der Schutzbauwerke bevorzugt. Auch Leipzig hat das nach dem kleinen Winterhochwasser im Januar 2011 so erlebt: Im Februar, als längst keine Gefahr mehr im Verzug war, wurden die Deiche und Ufer von Bäumen befreit – mit schweren Schäden im gewachsenen Auwaldbestand.
Zweifelsohne – so Heinitz – hat es seit 2002 Erfolge beim Hochwasserschutz gegeben, zum Beispiel kürzere Warnzeiten im Katastrophenfall, ein besser ausgebautes Pegelnetz, technische Maßnahmen usw. Doch die ursprüngliche richtige Mehrfachstrategie wurde nach Ansicht des NABU nicht mit Konsequenz verfolgt, so dass sich die Relation zwischen Maßnahmen mit Beton und Stahl und der Schaffung von Retentionsflächen leider zum Nachteil der natürlichen Rückhaltestrategie entwickelt hat.
Das sei schon durch die Tatsache belegt, dass bei nicht einmal 10 Prozent aller an Gewässern erster Ordnung durchgeführten Maßnahmen der Retentionsraum vergrößert wurde. Symptomatisch ist auch, dass der Freistaat mit dem unnötigen Verzicht auf sein Vorkaufsrecht eine wichtige Möglichkeit aus der Hand gegeben hat, potenzielle Überflutungsflächen zu erwerben. Kritikwürdig sei zudem die Konzentration der Maßnahmen auf die “großen” Fließgewässer.
Bernd Heinitz: “Wir müssen das Übel aber bei der Wurzel packen, also dort handeln, wo das Hochwasser entsteht. Mehr Wald, dezentrale kleine Becken, funktionierende Grabensysteme, der Verzicht auf Melioration im Grünland sind nur einige der möglichen Maßnahmen, um das Wasser ?festzuhalten?. Doch den Gemeinden fehlt dafür oft das Geld. Übrigens war ?Graben machen? früher in der vom jüngsten Hochwasser betroffenen Neißeaue eine ganz normale Sache in der bäuerlichen Wirtschaft. Heute wird oft bis dicht an die inzwischen zugewachsenen und nicht mehr funktionsfähigen Gräben heran Ackerbau betrieben, sodass bei Starkregen Krume und Wassermassen abgeschwemmt werden, zum Beispiel ins Dorf. Ich kann also dem Görlitzer Landrat, Herrn Lange, der u.a. Gespräche mit Landwirten und ein Umdenken bei der Flächenbewirtschaftung gefordert hat, nur zustimmen.”Heftige Kritik auch von der SPD
Heftige Kritik für sein Selbstlob bekam der Minister auch von anderen. Gleich am 12. Juli zum Beispiel von Thomas Jurk, Vorsitzender des Ausschusses für Umwelt und Landwirtschaft des Sächsischen Landtags: “Die wichtigste Erkenntnis aus dem Hochwasser 2002 war, dass wir den Flüssen mehr Raum geben müssen. Diesem Aspekt des vorbeugenden Hochwasserschutzes wird in Sachsen eindeutig immer noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wir brauchen in Sachsen mehr Flächen, wo unsere Flüsse bei Hochwasser Platz finden – sogenannte Retentionsflächen. Zudem muss das Messpegelnetz dringend verbessert werden. Denn die Messpegel sind wichtig, damit die Menschen vor Ort rechtzeitig über nahende Katastrophen gewarnt werden und Vorsorgemaßnahmen ergreifen können. Das Augusthochwasser 2010 zeigte, dass das vorhandene Messpegelnetz für einige Gebiete Sachsens keine zuverlässigen Werte liefern konnte. Dies betraf unter anderem die Neißeregion – mit verheerenden Folgen. Bis jetzt sind Vorschläge der Jeschke-Kommission nur unvollständig umgesetzt.”
Dr. Liane Deicke, umweltpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag, ergänzte: “Die sächsischen Kommunen benötigen dringend eine bessere Unterstützung zur Bewältigung der noch anstehenden Aufgaben. Der Freistaat muss den Weg frei machen, damit sich Kommunen zu Wasser- und Bodenverbänden zusammenschließen können. Dafür muss der Freistaat auch finanzielle Mittel zur Verfügung stellen. Ein weiteres Problem ist die Bebauung von Gewässerrandstreifen. – Häufig sind sie in gesamten Orten verbaut. Viele dieser Bebauungen müssen rückgebaut werden. Hier müssen die Behörden stärker durchgreifen. Für die Zukunft muss gelten: Keine Bebauung von Gewässerrandstreifen.”
Linke kritisiert fehlende Berücksichtigung des Klimawandels
Heftige Kritik gab es am 12. Juli auch von Dr. Jana Pinka, stellvertretende Vorsitzende und umweltpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke, die dem Umweltminister vorwarf, den Klimawandel in seinem Aktionismus völlig auszublenden. Den versprochenen Aktionsplan hat es bis heute nicht gegeben. Dafür einen völlig unbegründeten “Tornadoerlass”.
“Zunächst erinnere ich an den Vorgang des ‘Tornadoerlasses’ vom Sommer 2010. Das Problem bestand in Folgendem: Auf vielen Deichen und Dämmen Sachsens stehen und standen Bäume, Ziel des Erlasses war: diese möglichst schnell fällen zu können. Der besagte Erlass kam, er war in der Sache verfehlt und der Freistaat ist berechtigterweise vom Ökolöwen Umweltbund Leipzig e.V. hierzu verklagt worden. Die Begründung für diesen Erlass war bereits haarsträubend, denn ein Tornado war hierfür der Anlass. Ich hatte Herrn Kupfer noch im Januar 2011 zur Aktuellen Debatte ‘Hochwasserschutz – Aus Erfahrung gelernt!?’ aufgefordert, den Erlass zurückzuziehen. Heute kann ich nur noch konstatieren: Wer nicht hören kann, will offensichtlich fühlen!”, erklärte Pinka. “Es bleibt jetzt bei Gerichten die Frage im Raum, wer hier was vergisst oder gern vergessen möchte.
Einige Bemerkungen zum Thema Wassergesetzgebung, da gibt es ja auch einige Kapitel zum Hochwasserschutz. Auch da haben wir 2010 intensiv mit der Regierung, aber auch den Koalitionsparteien gerungen. – Bis heute ist der §99a – nämlich der Hochwasserschutz-Aktionsplan nicht umgesetzt, der Entwurf für das neue Sächsische Wassergesetz sieht vor, diesen Hochwasserschutz-Aktionsplan zu streichen – es sind ja nun acht Jahre auch ohne Umsetzung vergangen. In diesem Plan sollten Grundsätze und Ziele des landesweiten Hochwasserschutzes für den Freistaat Sachsen im Sinne eines fachübergreifenden nachhaltigen Gesamtkonzeptes dargestellt werden – aus unserer Sicht wäre das eine sinnvolle Planung gewesen – wenn der Plan denn auch etwas getaugt hätte.”Und auch das Thema Bodenerosion gehört für sie in diese Diskussion: “Vor 10 Jahren stand ich als Bauleiterin an vielen Flüssen Sachsens – an der Freiberger Mulde, am Ketzerbach und dessen Zuflüssen oder am Lockwitzbach und und und. Ich habe mit meinen Kolleginnen und Kollegen die Schadensaufnahmen vorgenommen und Sanierungsmaßnahmen geplant und betreut. Was ich da gelernt habe, könnte auch ein Büchlein füllen. Und es stimmt einfach nicht, dass keine Häuser in Überschwemmungsgebieten wieder aufgebaut wurden. Es ist aber die Wahrheit, dass Kolke oder andere weggespülte Flächen der Landwirte mit viel Geld wieder aufgebaut wurden, wohl wissend, dass beim nächsten Hochwasser der Fluss genau an dieser Stelle wieder durchbricht und dass in Außenbereichen zum Teil Gelder verschleudert wurden – wir standen ja kurz vor Wahlen und Sie brauchten die Stimmen der Landbevölkerung. Es ist auch die Wahrheit, dass ich viele Diskussionen um die Erosionswirkungen von Maisanbau geführt habe und diese im Nichts geendet haben.”
Grüne bemängeln fehlende Nachhaltigkeit
Die Grünen-Abgeordnete Gisela Kallenbach sah zwar, dass das Umweltministerium den Klimawandel zumindest wahrnimmt – nur Folgen scheint es daraus keine zu ziehen. Kallenbach: “Wir erfahren aber auch, nicht zuletzt durch die Gefahren der vergangenen Woche oder die Ereignisse 2010 und 2011, der Klimawandel ist trotz anderslautender Auffassung der sächsischen FDP im Freistaat angekommen. Notwendig für eine ausreichende Vorsorge und Schutz vor Hochwasser ist eine Gesamtstrategie des Freistaats, nicht nur eine des Umweltministeriums. – Es konterkariert bspw. dessen Maßnahmen, wenn gleichzeitig in der Verkehrs- oder Raum- und Stadtentwicklungspolitik großflächige Versieglungen be- und gefördert werden.”
Gebaut hat der Freistaat augenscheinlich nur, was groß, teuer und technisch war. Der Rest der Bilanz, in dem es eigentlich um nachhaltigen – das heißt auch für künftige Generationen noch bezahlbaren – Hochwasserschutz gehen müsste, sieht miserabel aus.
Gisela Kallenbach: “Die 47 Hochwasserschutzkonzepte mit 1.600 Einzelmaßnahmen beschäftigen sich nahezu ausschließlich mit einer Vielzahl von technischen Maßnahmen, wie Flutmauern, Deicherhöhungen und Deichertüchtigungen, Objektschutzmaßnahmen, Brückendurchlässen, Straßenerhöhungen uvm.
Wir meinen, der Wasserrückhalt in der Fläche muss in der Praxis viel stärker in den Fokus gerückt werden. “Den Flüssen mehr Raum geben”, darf kein inhaltsleerer Slogan bleiben.
Sachsen hatte mit der Planung von insgesamt 49 Deichrückverlegungen von jeweils mehr als fünf Hektar Retentionsraumgewinnung ein weitreichendes Konzept vorgelegt, das wir durchaus positiv bewertet haben.
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Aber das weithin beklagte Kurzzeitgedächtnis für Hochwasserereignisse hat auch vor der Regierung nicht Halt gemacht. Bisher wurden von diesen Deichrückverlegungen nur zwei umgesetzt. Anders ausgedrückt: In den letzten zehn Jahren wurde nicht einmal ein Prozent des angestrebten und bitter nötigen Retentionsraums geschaffen.
Auf der anderen Seite wurde fleißig und ausdauernd und viel Geld in den technischen Hochwasserschutz investiert. Bei einigen der realisierten und geplanten Maßnahmen fragt man sich allerdings, ob dabei dem Hochwasserschutz oder der Baulobby gedient wurde.”
Und noch einmal, was diese Lastenverteilung auf künftige Generationen betrifft: “Technische Schutzmaßnahmen wie Deiche, Betonmauern und -wände, Hochwasserrückhaltebecken, Wehre, Durchlassbauwerke etc. haben eine begrenzte Lebensdauer. Fachleute gehen davon aus, dass die durchschnittliche Nutzungsdauer solcher Bauwerke zwischen 30 und 100 Jahren liegt. Das bedeutet, ein Großteil der Milliardeninvestition muss in absehbarer Zeit erneut investiert werden. – Da ist es wohl ehrlicher, von einer Mehrgenerationen-Aufgabe zu sprechen, schließlich bürden wir den nächsten Generationen die Unterhaltslast auf.”
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