Ein Zurück zu den Volksparteien wie früher schließt der Dresdner Parteienforscher Werner J. Patzelt im L-IZ-Interview aus. Gleichwohl sollten Parteien Konzepte entwickeln, „die sowohl fachlicher Kritik standhalten als auch auf große Teile der Bevölkerung plausibel wirken“. Hier hätte die CDU noch viele programmatische Hausaufgaben zu machen, so Patzelt.

Die CDU erreicht in Sachsen bei Landtagswahlen noch immer beachtliche Wahlergebnisse. Worauf führen Sie das zurück?

Diese Partei hat Sachsen seit der Wiedervereinigung mit unübersehbarem Erfolg regiert. Sie hat das ursprünglich in sie gesetzte Vertrauen gerechtfertigt, und deshalb vertraut ihr ein großer Teil der Wähler weiterhin. Freilich sind das inzwischen deutlich weniger als zur Zeit Kurt Biedenkopfs.

 

In vielen anderen Regionen Deutschlands und in vielen Großstädten sind die Bindungskräfte der Volkspartei CDU hingegen eher begrenzt. Ist das Zeitalter der Volksparteien unwiederbringlich vorbei?

Parteien, die Wähler aus allen Teilen der Gesellschaft an sich binden und obendrein mitgliederstark sind, stellen Ausnahmeerscheinungen politischen Lebens dar. Westdeutschland erfreute sich zwar jahrzehntelang dieser Ausnahme.

Doch sie begann zu Ende zu gehen, als sich immer weniger Bürger in Parteien engagieren wollten; als die SPD ihre Bindekraft am linken Rand verlor; als in Ostdeutschland ein – mit Ausnahme der PDS – recht wurzelloses Parteiensystem entstand, das seiner westdeutschem Gussform nur äußerlich ähnlich war; und als die Bürger zu merken begannen, dass die Politik der etablierten Parteien seit einiger Zeit viel weniger leistet, als die Parteien – ganz gemäß den Wünschen der Bürger! – in Wahlkämpfen versprechen.

Also macht man sich auf die Suche nach alternativen Parteien – und bringt die großen bisherigen Parteien um ihren Volksparteistatus. Es gibt nun aber keine Anzeichen dafür, dass diese Faktoren an Wirkung verlieren würden. Also wird es auch kein Zurück zu Volksparteien wie früher geben.

Vermutlich enden wir mit Kartellparteien, das heißt mit relativ mitgliederschwachen Gemeinschaften politisch Gleichgesinnter, die in Wahlen Ämter erringen wollen und auf dieses Ziel hin ihre Programmatik ausrichten. Das reduziert den Kreis derer, die in die Politik gehen – und schöpft das Personalpotential unseres Landes nur noch sehr unzulänglich aus. Das Verschwinden der Volksparteien ist also nicht zu bejubeln.

 

Parteistrategen und politische Publizisten grübeln beständig über publikumswirksamen Konzepten. Was würden sie der CDU raten: Mehr Retro, oder mehr Reform?

Weder das eine noch das andere. Reform ist ja zum Unwort geworden, weswegen Reformen zu versprechen leicht in Wahlniederlagen führt. Umgekehrt ist „Retro“ doch ganz ungeeignet, die neu auf uns zukommenden Probleme zu lösen – von der EU-Krise über die Unterjüngung unserer multikulturell auseinanderdriftenden Gesellschaft bis hin zu einer verlässlichen Energieversorgung.

Nachhaltig attraktiv, also zu mehr als nur einer Protestpartei, wird heute eine Partei dann, wenn sie solche Lösungen für derlei Probleme anbietet, die sowohl fachlicher Kritik standhalten als auch auf große Teile der Bevölkerung plausibel wirken. Hier hat die CDU noch viele programmatische Hausaufgaben zu machen.

Außerdem könnte es ihr nicht schaden, sich mehr um solche Personen zu bemühen, die nicht wie Karrieristen wirken, sondern ihre Mitbürger durch Lebenserfahrung und Sachkompetenz beeindrucken.

 

Man mag der CDU-Vorsitzenden und Bundeskanzlerin vieles vorwerfen, aber sicher nicht, dass sie keine neuen Wege einschlägt. Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz, Abschaffung der Wehrpflicht, ein von den westlichen Verbündeten abweichendes Votum im Weltsicherheitsrat im Libyen-Konflikt, eine Volte hin zum Atomausstieg – wie soll da ein konservativer Parteigänger eigentlich noch mitkommen?

Die Rede vom „konservativen Parteigänger“ ist ganz irreführend, denn überhaupt niemand in dieser Partei hat mehr eine Ahnung davon, ob hinter diesen Einzelentscheidungen ein zusammenhängendes Politikkonzept steht oder dieser fallbezogene Aktionismus wenigstens zu einem solchen hintreiben wird.

Was wir erleben, ist Politik ganz nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Das ist einesteils löblich, weil Evolution – auch die von Parteipositionen – nun einmal am lernfähigsten auf genau diese Weise abläuft. Andernteils verliert eine Partei Vertrauen, wenn solche Prozesse sehr prinzipienlos wirken. Es könnte also nicht schaden, wenn die CDU sich wieder einmal darüber verständigte, was denn nun wirklich ihre Prinzipien sind.

 

In Baden-Württemberg, industrielles Kernland der Bundesrepublik und lange so etwas wie ein Stammland der CDU, bedient nun ein Grüner das Bedürfnis nach einem wertkonservativen Landesvater. Inwieweit ist die CDU noch das Sammelbecken für die besten politischen Talente aus dem Bürgertum?

Gar nicht mehr. Erstens gibt es „das“ Bürgertum ohnehin nicht mehr, sondern alle möglichen Milieus zwischen verbürgerlichter Arbeiterklasse, sich alternativ fühlender Akademikerschaft und links wählenden Beamten. Zweitens werden diese Milieus heute sehr stark von den Grünen, teils auch von der SPD abgedeckt, während die CDU weitgehend eine Partei der einfachen Leute geworden ist, im Sachsen zumal der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums.

Drittens sammeln sich in der CDU ohnehin nicht mehr die besten politischen Talente. Diese gehen lieber zu den Grünen, als dass sie mit JU-Gewächsen um Ämter und Mandate ringen. CDU-Kreisverbände sind nämlich dann am zufriedensten, wenn möglichst wenige erfolgreiche Leute von außen dazustoßen und dann auch mitgestalten wollen. Schon gar nicht gibt es eine Kultur des Werbens um Talente von außerhalb.

 

Stichwort Religion. Die Union bedient zum einen das Bedürfnis nach christlich-abendländischer Abschottung, setzt mit der Einrichtung von Islamwissenschaftlichen Zentren zugleich erste Zeichen der Integration des Islam in die das bestehende System öffentlich-rechtlicher Religionsgemeinschaften. Wie hell sollte die CDU das „hohe C“ in ihrem Namen künftig erklingen lassen?

Nein, die CDU setzt nicht auf Abschottung, sondern auf Bewahrung der christlichen Prägung unserer Kultur – und zwar nicht durch Abwehr von Neuem, sondern durch dessen Integration ohne Aufgabe des Bestehenden. Ziel ist also, dass sich zuwandernde Muslime in das bei uns etablierte System der Beziehungen zwischen Religion und Politik einfügen, das heißt dass der Islam einfach zur weiteren Religion neben anderen Religionen wird.

Natürlich verändert das dann auch die politische Funktion des „C“ und die Ausrichtung der CDU darauf. Diese Partei entstand einst als Sammlungsbewegung aller Christen, die sich von nicht-linken Positionen aus in die Politik einmischen wollten, und sie war dies zu einer Zeit, als es noch ganz normal war, in Deutschland auch ein Christ zu sein. Heute ist das nicht mehr normal, und in den neuen Bundesländern schon gleich gar nicht. Also wird die CDU zu einer Minderheitspartei, wenn sie weiterhin eine Sammlungsbewegung von nicht-linken Christen sein wollte.

Allerdings sind Christen, und zumal praktizierende Christen, immer noch ein im Vergleich zum Bevölkerungsquerschnitt sehr großer Anteil unter den Wählern und gar unter den Mitgliedern der CDU. Also darf die CDU ihre christliche Prägung nicht abstreifen. Es gibt dafür auch gar keinen guten Grund, denn das Christentum hat der Politik vieles Wichtige und Hilfreiche zu geben. Nur muss die CDU ihren Adressatenkreis erweitern: Sie muss sich verstehen und aufstellen als eine Partei für alle, denen Religion – und durchaus nicht nur die christliche – etwas bedeutet, und sei es nur als gesellschaftliche Therapieinstitution; als Partei für alle, die Religiosität – und eben nicht nur die christliche – mit liberaler, freiheitlich-demokratischer Verfassungsstaatlichkeit verbunden sehen wollen; und als Partei für alle, welche an der christlichen Prägung unserer Kultur wenigstens keinen Anstoß nehmen, wenn sie sich schon nicht so sehr darüber freuen, dass sie diese christliche Prägung auch für künftige Generationen bewahren wollen.

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