Seit 2008 ist der parteilose Dr. Manfred Wilde Oberbürgermeister der Stadt Delitzsch. Im Gespräch mit der Leipziger Zeitung erzählt er, wie die Stadt mit der drohenden Energiekrise umgeht, was es mit der Bürgersolargenossenschaft auf sich hat und warum sich Familien mit Kindern in Delitzsch ebenso wohlfühlen wie Senioren.
Herr Dr. Wilde, sind Sie gerne Oberbürgermeister von Delitzsch?
Naja, sonst würde ich das ja nicht machen. Natürlich bin ich gern Bürgermeister und gestalte auch gern. Ich bin ein kommunikativ veranlagter Mensch. Wenn man das nicht mit Herzblut macht, dann sollte man das erst gar nicht ins Auge fassen.
Dann haben Sie Ihre Wahl auch wahrscheinlich noch nie bereut, oder?
Nein. Wenn man mit diesem Gedanken spielt, dann muss man auch nicht noch einmal antreten. Nein, bereut nicht. Es ist nicht immer einfach, das ist klar. Aber das ist ja gerade die Herausforderung und das Spannende im Leben auch. Insofern: Nein. Ich bin mit mir selbst im Reinen, wie man sagt.
Was verbindet Sie denn mit der Stadt, sind Sie hier geboren?
Nein, ich bin hier nicht geboren. Ich bin in Wolfen, also Sachsen-Anhalt geboren, auch dort aufgewachsen. Mein Großvater stammte allerdings aus Delitzsch. Und was mich hier verbindet: Ich kenne jeden Winkel, jede Ecke, habe hier 10 Jahre als Museumsleiter gearbeitet im Barockschloss und fühle mich tief verwurzelt in dieser Stadt.
Wie ist denn die Zusammenarbeit mit dem Stadtrat, funktioniert alles?
Es funktioniert gut. Natürlich gibt es unterschiedliche Standpunkte manchmal. Ich bin ja selbst parteilos, und insofern haben wir auch mit unseren Fraktionen viele Themen zu bearbeiten und natürlich wird da auch mal kräftig diskutiert, aber an sich alles im guten, positiven Sinne, dass es trotz unterschiedlicher Standpunkte auch immer einen Gesprächsfaden gibt.
Ist es schwieriger als parteiloser Oberbürgermeister?
Ich glaube nicht, das kommt immer darauf an. Als Parteiloser kann ich immer wieder auch darauf hinweisen: Was ist denn wichtiger, wollen wir einen Kindergarten bauen oder wollen wir eine Straße bauen. Ich muss mich nicht in irgendwelche parteipolitischen Schubladen zwingen lassen. Bisher habe ich keinen Nachteil ableiten können, insofern ist das in Ordnung.
Wobei ich zu schätzen weiß, dass wir eine gute Parteienlandschaft haben hier bei uns und breit aufgestellt sind. Natürlich gibt es Kontroversen und unterschiedliche Standpunkte, das kann man nicht von der Hand weisen. Gerade wenn es um solche Prioritätensetzungen geht, wie welche Schule wird zuerst saniert oder neu gebaut, oder welcher Kindergarten ist prioritär zu behandeln.
Aber im Ergebnis kann man ja betrachten: Wir sind mit fast allen Kindergärten durch, haben große Kapazitäten geschaffen, können auch momentan den Bedarf decken. Die drei Grundschulen sind fertig saniert und eine Oberschule komplett saniert und die letzte Oberschule, die haben wir jetzt in der Planung, das wird wahrscheinlich ein Neubau werden. Das ist eben der Punkt, in welcher Reihenfolge.
Es ist klar, jeder Stadtrat hat natürlich sein Stadtgebiet, wo er wohnt, und da liegt manchmal, wie man so schön sagt, das Hemd näher als die Hose, solche Dinge weiß man zuzuordnen. Bei 30 Stadträten haben wir aber auch soweit das Spektrum, dass das ganz gut funktioniert, da haben wir auch die Ortsteile gut drin vertreten in den Ortschaftsräten.
Der Zuzug nach Delitzsch ist wahrscheinlich groß, oder?
Ja, also wir haben in den letzten sechs oder sieben Jahren demografisch geschafft – das lässt sich zumindest jetzt konstant nachweisen –, dass wir einen Einwohneraufwuchs haben, keinen Rückgang mehr. Jeden Monat ziehen 80 bis 100 Personen in die Stadt, davon die Hälfte unter 40 Jahre. Jeden Monat. Und das ist schon ein Zeichen dafür, dass gerade für die jungen Familien ein Trend da ist.
Weil man eben auch beobachtet: Habe ich vernünftige Bedingungen in Kindergärten, in den Schulen. Habe ich eine gute Vereinslandschaft. Wir haben knapp 130 Vereine in Delitzsch. Ich habe da vielleicht andere Bedingungen als möglicherweise in Leipzig, Halle oder Dessau und habe eben auch eine entsprechend gute Sozialstruktur, jede Menge Arbeitsplätze. Und trotzdem, wenn man in Leipzig arbeitet oder Halle oder Bitterfeld, ist man ruckzuck da.
Wo gibt es denn hier die meisten Arbeitsplätze?
Wir haben ein sehr großes Dämmstoffwerk, wir haben eine Schokoladenfabrik, die gibt es seit 117 Jahren. Wir haben ein Schienenfahrzeugwerk, das heißt, Personenwaggons werden hier gewartet und repariert. Und natürlich die Bundeswehr. Wir haben die einzige Unteroffiziersschule des Heeres in der gesamten Bundesrepublik in Delitzsch. Also alle Feldwebel, die ausgebildet werden, durchlaufen Delitzsch. Alleine 30 Englischsprachlehrer sind dort tätig.
Das sind so die größten Arbeitgeber, neben vielem Mittelstand, Handwerk. Also wir sind gesund aufgestellt, wir haben im Grunde genommen, wenn man es so nimmt, Vollbeschäftigung.
Und wie sieht es mit dem Tourismus aus?
Sehr viel Städtetourismus, sehr viel Radtourismus. Gerade die Seen, also die ehemaligen Braunkohlebergbauregionen sind ja sehr gut mit Radwegen erschlossen. Man kann von hier bis an die Ostsee oder in die Sächsische Schweiz mit dem Fahrrad auf Radwegen fahren. Habe ich selber schon mal gemacht, ich bin selbst schon mal mit dem Rad an die Ostsee gefahren, das lässt sich wirklich praktizieren.
Und was hier eine Rolle spielt, ist vor allem der Städtetourismus. Nicht mal so sehr der lange Aufenthalt, das ist ganz klar. Aber so ein Dreitageaufenthalt – man landet in Delitzsch, besucht die Stadt, das Barockschloss, fährt auch mal nach Leipzig oder Wittenberg. Wenn man das Fahrrad dabei hat, kann man hier wirklich um diese ehemaligen Tagebauseen fahren, die ja alle schon geflutet, alle in der Rekultivierung abgeschlossen sind. Das lohnt sich wirklich.
Und wir sind eine der ganz wenigen Städte in Mitteldeutschland, die noch eine fast vollständig erhaltene mittelalterliche Wehranlage haben, das heißt, 1,4 Kilometer Stadtmauer, zwei Stadttürme aus dem 14. Jahrhundert, das Barockschloss aus dem 17. Jahrhundert. Der wassergefüllte Stadtgraben ist noch da aus dem Mittelalter. Und diese Komplexität, das ist doch relativ einmalig.
Und wir sind ja hier eine der Gründungsstätten des modernen Genossenschaftswesens durch Hermann Schulze-Delitzsch, der ja hier 1808 geboren wurde. Die älteste Volksbank der Welt gibt es in Delitzsch. 1850 gegründet, die gibt es heute immer noch.
Und wir haben 2011 begonnen zu initiieren, dass die Genossenschaftsidee zum immateriellen Welterbe erklärt wird. Erst im nationalen Bereich und 2016 ist es dann gelungen – da war ich selber mit in Äthiopien, wo wir das verteidigt haben als erstes deutsches Projekt – die Genossenschaftsidee international als immaterielles Kulturerbe anerkannt zu bekommen. Das war eine spannende Entwicklung.
Und wir haben seit 1992 auch das Deutsche Genossenschaftsmuseum hier in Delitzsch, mit einer sehr schönen Ausstellung zum Genossenschaftswesen. Aber jetzt nicht nur aus der antiquierten Geschichte heraus, sondern auch, was das heute bedeutet. Wir haben vor einigen Jahren eine Energiegenossenschaft hier gegründet, wo Bürger sich quasi an Fotovoltaikanlagen auf kommunalen Gebäuden beteiligen konnten.
Wird das gut angenommen?
Ja. Also das hat vier Wochen gedauert, dann hatten wir eine viertelmillion Euro zusammen. Eine Schülergenossenschaft am Gymnasium gibt es, wir haben zwei Wohnungsgenossenschaften in Delitzsch, wir haben die Volksbank als Genossenschaftsbank in Delitzsch. Also wir versuchen auch immer, das mit Leben zu füllen.
Wie ist das mit der Schülergenossenschaft, wie funktioniert das?
Die machen Pausenversorgung mit Kaffee, belegten Brötchen, und finanzieren darüber ihre Schülerzeitung und die Abiturfeiern. Insofern lernen die jungen Leute dann auch umzugehen mit Geld, einzukaufen, Kalkulationen zu bereiten. Und das Solidarprinzip, eben nicht zu warten, dass der Staat einem irgendwas gibt, sondern dass man mit der eigenen Hände Arbeit etwas tut.
Das ist ideal und das Gymnasium, durch die verlängerte Schulzeit, hat eben auch über Jahre hinweg die Möglichkeit, das entsprechend zu begleiten, was an der normalen Oberschule schwieriger ist, weil ganz einfach kompakter. Das funktioniert jetzt seit vielen Jahren ganz gut, auch mit der Bürgersolargenossenschaft.
Wir suchen jetzt neue Projekte, weil eben auch das Geld gut investiert ist und wir haben ja auch ganz gute Erträge. 3,5 Prozent Ertrag, das lohnt sich schon. Und es trägt mit dazu bei, dass eben der regionale Energiekreislauf – das ist ja gerade jetzt ein spannendes Thema – auch funktioniert.
Wie ist denn der ÖPNV hier, kommt man damit gut klar?
Ja. Wir haben eine gute Anbindung mit der S-Bahn, Sie sind in 17 Minuten unter dem Markt in Leipzig. Wir haben zwei Stadtverkehrslinien, die wie so eine acht die verschiedenen Stadtgebiete verbinden. Die Ortsteile auch, wobei man natürlich sagen muss, am Wochenende wäre es manchmal wünschenswert, wenn die Frequenz etwas dichter wäre.
Aber die Frequenz ist so, dass da nicht so ein starker Verkehr ist, weil sich auch viele Fahrgemeinschaften bilden. Wir haben ja 15 Dörfer, die zu Delitzsch gehören, die alle so maximal fünf Kilometer entfernt liegen von der Kernstadt, aber kreisrund um die Stadt.
Das funktioniert ganz gut. Also der ÖPNV ist schon auf einem relativ hohen guten Stand entwickelt. Weil wir städtebaulich eben auch sehr kompakt sind. Und Taxis haben, Eisenbahnanbindungen.
Wir haben ja zwei Bahnlinien, einmal die von Leipzig nach Bitterfeld und weiter nach Berlin und dann die von Halle nach Eilenburg, Torgau, bis nach Polen könnte man fahren. Wir sind ja Eisenbahnknotenpunkt, haben zwei Bahnhöfe dadurch, die allerdings nur 100 Meter voneinander entfernt liegen.
Wie kommen Sie denn persönlich zur Arbeit?
Ich kann zu Fuß gehen, ich wohne 50 Meter vom Rathaus entfernt. Und ich bin in der Stadt auch viel mit dem Fahrrad unterwegs, ein Auto brauche ich hier eigentlich nicht.
Es wirkt auf den ersten Blick alles so klein und kompakt, aber wenn man hört, was es hier alles gibt – da fehlt ja scheinbar nichts.
Richtig. Das ist die Stadt, wo man glücklich werden kann. Egal ob man mit dem Kinderwagen unterwegs ist oder mit dem Rollator. Wir haben 15 Kindertagesstätten, Kitas, Horteinrichtungen, und können den Bedarf decken. Manchmal hat man vier Wochen Wartezeit, gerade wenn das neue Schuljahr so kurz bevorsteht. Aber im Prinzip können wir den Bedarf decken, wir haben viel ausgebaut und massiv investiert. Und wir haben eine relativ gute ärztliche Versorgung, Sie finden jeden Facharzt hier bis zum Augenarzt und Sie bekommen sogar in vier Wochen einen Termin.
Gibt es irgendetwas speziell für Senioren?
Wir haben sehr viele freie Träger. Also wir haben neben den klassischen Seniorenheimen gerade bei der Volkssolidarität und bei der AWO Seniorenzentren, wo man auch mal Kaffee trinken kann, wo mal ein Tanzabend stattfindet, wenn mal nicht Corona ist. Wo es auch mal einen Vortrag gibt. Also wo man sich treffen kann oder einen Reiseclub für Senioren hat, das gibt es auch.
Wie sieht es denn hier mit der Lärmbelästigung durch den Flughafen aus?
Man merkt schon, dass es zunimmt. Es ist zwar noch grenzwertig, aber man merkt schon in der Nacht zwischen ein Uhr und drei Uhr, dass Flugbewegungen da sind. Wir sind zum Glück ein Stück weit entfernt, aber es gibt auch einzelne Bürgerbeschwerden. Und die sollte man auch wirklich ernst nehmen.
Und gerade mit dem geplanten Ausbau, da muss man schon auch den Finger in die Wunde legen und Lärmschutzmaßnahmen fordern oder dass man Wert darauf legt, dass moderne Flugtechnik eingesetzt wird und nicht irgendwelche alten russischen Maschinen, das ist schon wichtig.
Also man merkt es schon. Es hat in den letzten Monaten zugenommen und es mehren sich die Beschwerden. Auf der anderen Seite gibt es natürlich die wirtschaftliche Bedeutung des Flughafens, das ist halt diese Ambivalenz. Aber für mich ist natürlich das Anliegen der Bürger erst mal wichtiger. Und deren Interessen zu vertreten.
Gibt es denn irgendetwas, was doch fehlt, was Sie gerne hätten?
Ja, wo wir gerade dran sind, ist ein Bad. Unser Freibad musste ja aufgrund schlechter baulicher Zustände geschlossen werden. Wir haben jetzt gerade die Planung laufen für einen Neubau des Freibades und daneben gleich eine Lehrschwimmhalle, wo wir hoffen, dass das gegen Jahresende dann losgeht. Je nachdem, wie die wirtschaftlichen Lieferkettenbedingungen sind und die Preise, aber die Planung ist in den Endzügen. Das ist so ein Manko, aber das hängt ganz einfach mit dem baulichen Verschleiß des alten Bades zusammen.
Ansonsten ist das geradezu eine idealtypische deutsche Stadt muss ich sagen. 25.000 Einwohner, nah an den großstädtischen Ballungsräumen gelegen, Sie sind schnell auf der Autobahn, in einer Viertelstunde sind Sie am Flughafen und haben trotzdem eine Stadt, wo alles auch da ist. Wenn Sie hier Kinder haben, die können Sie auch alleine in die Schule schicken, da muss keiner mitlaufen.
Und wir haben auch das gesamte Schulspektrum von der Förderschule, Grundschulen gleich mehrfach, Gymnasium in zwei Häusern. Wir haben eine evangelische Grundschule noch dazu, also vier Grundschulen im Grunde genommen. Die Stadt sah allerdings vor 30 Jahren noch katastrophal aus, die historische Altstadt war ja zu 60 Prozent unbewohnt, die Häuser sollten fast komplett abgebrochen werden. Und diese Revitalisierung war schon ein Kraftakt.
30 Jahre ist aber eine kurze Zeit für eine erfolgreiche Revitalisierung, oder?
Eigentlich ja, weil wir das große Glück haben, dass zum einen die Häuser attraktiv sind, schon von der Optik her. Und dass gerade eben auch junge Familien das hier schätzen gelernt haben. Wer 17, 18 oder 19 ist, der zieht natürlich erst einmal nach Leipzig oder sonstwo hin, aber sobald eine Familiengründung einsetzt – 80 Prozent kommen wieder.
Natürlich auch der Zuzug, wir haben auch einen starken Zuzug aus Leipzig. Und Baugrundstücke werden gehandelt wie Goldstaub. Man merkt es schon, wenn eine S-Bahn da ist. Und die hält ja bei uns mitten in der Stadt quasi und fährt in einem 30-Minuten-Takt. Und wir sind auch aufgeschlossen was Zuzügler anbetrifft, die Integration gerade jetzt aktuell von ukrainischen Flüchtlingen klappt ganz gut.
Wie viele Ukrainer sind in Delitzsch angekommen?
200 jetzt. Also 175 jetzt seit dem erweiterten Krieg, seit Februar, und 25 waren vorher schon da.
Wie sind die untergekommen?
Übergangsweise kann es passieren, dass man für so vier bis fünf Wochen in einer Sammelunterkunft ist, jetzt haben alle individuelle Wohnungen. Wir haben auch einen ganz guten Helferkreis. Ich klemme mich persönlich auch mit dahinter, ich war vor 10 Wochen selber in der Ukraine mit einem humanitären Hilfstransport. Wir haben Geld gesammelt, Krankenwagen mit Medikamenten vollgepackt hingebracht. Wir haben selber eine Energiepatenstadt dort und ich bin da auch selber mitgefahren, weil ich einen LKW-Führerschein habe. Wir haben hier sehr viele Spenden gesammelt.
Wie siehts denn hier überhaupt aus mit der – eventuell kommenden – Energiekrise?
Noch haben wir ja keine. Das Problem ist natürlich, wenn Russland den Gashahn zudreht, dann haben wir schon ein Problem. Wir versuchen hier schon seit fast 20 Jahren mehr die regionalen Energiekreisläufe zu stärken. Wir haben einige kommunale Gebäude, die werden schon über Geothermie versorgt. Natürlich braucht man da auch Elektroenergie für die Wärmepumpen und wir wollen uns unabhängig machen von den Großen.
Wir haben eigene Stadtwerke, das ist ein großer Vorteil, weil man dann lokal agieren kann und nicht an irgendwelchen großen Energiekonzernen dranhängt. Aber sollte es jetzt im Herbst dazu kommen, dann haben wir schon ein Problem, wo wir jetzt aber auch schon eine Arbeitsgruppe gebildet haben. Vor vier Wochen habe ich die Kollegen der Stadtverwaltung mal aufgerufen, Vorschläge zur Energieeinsparung zu bringen. Das hat keine 14 Tage gedauert, dann hatte ich eine ganze Mappe voll.
Konnte davon schon was umgesetzt werden?
Ja, so einfache Dinge wie den Stecker vom Elektroboiler unterm Waschbecken rausziehen – die Hände waschen kann ich mir auch mit kaltem Wasser. Mal von Toiletten abgesehen, aber wenn so eine Teeküche irgendwo steht, da kann ich meinen Teekocher auch mit kaltem Wasser betreiben. Weil sich der Warmwasserboiler ja ständig aufheizt und extrem viel Energie verbraucht.
Andere Dinge werden jetzt noch geprüft, Thermostate noch mal überprüft, dass die nicht leere Räume heizen. Also wir entwickeln da ein richtiges Managementprinzip, dass das bis zum Beginn der Heizperiode auch praxisnah umgesetzt wird.
Sie gehen das also schon richtig aktiv an hier in der Stadt.
Ja, muss man ja. Man muss die Szenarien ja im Blick behalten. Auch dass man mal überlegt – wenn es jetzt knapp wird – Sporthallen eben runterzudrehen auf Frostsicherung, dann ist es eben mal nicht möglich, das bei 20 Grad zu nutzen. Also auch unpopuläre Maßnahmen, bis hin dazu, dass man auch mal Straßenbeleuchtungen einschränkt. Auch da müssen ja die technischen Voraussetzungen da sein.
Wir machen das schon aktiv, aber nicht nur aufgrund der Energiekrise. Wir haben ja mehrfach hier Goldstatus im European Energy Award erreicht und sind damit, glaube ich, in Sachsen Vorreiter. Das spart ja auch Geld, was man dann vielleicht für andere Dinge verwenden kann.
Das scheint dann ja gut anzukommen in der Bevölkerung oder gibt es da auch Kritiker?
Naja, Sie haben natürlich auch immer Meckerer. Ich sage mal, so fünf Prozent der Bevölkerung – das ist ja egal, ob die in Hamburg, München, Leipzig oder Delitzsch sind –, egal was es für ein Gesellschaftssystem ist, meckern. Und die werden natürlich manchmal lauter gehört als die Zufriedenen. Aber im Großen und Ganzen sind die Leute hier, glaube ich, ganz zufrieden.
Das ist ja auch mein Kriterium immer, ich sage immer, ihr könnt nicht erwarten, dass der Staat oder die Stadt was für euch machen, ihr müsst die Schippe selber in die Hand nehmen und ihr müsst selber lernen auch dazu beizutragen und vor allen Dingen auch ein bisschen Solidarität zu üben, nicht nur zu fordern und egoistisch zu sein.
Ich bin ja auch der Meinung, wir haben zu viel Staat, wir brauchen eigentlich weniger. Ich lege sehr viel Wert auf kommunale Selbstverwaltung, dass wir selbst das, was wir beeinflussen können in der Stadt, auch selber machen. Menschen müssen motiviert werden, selber mit zu ihrem eigenen Dasein beizutragen. Das ist das Wichtigste.
Wie sieht es mit der Regionalität denn hier überhaupt aus, gibt es viele regionale Projekte? In der Landwirtschaft vielleicht.
Das ist, glaube ich, im Osten Deutschlands generell das Problem, dass durch diese riesigen Flächen der Agrargenossenschaften und Agrargesellschaften man kaum sogenannte Selbsterzeuger hat. Ich sage mal, wie in Baden-Württemberg, wo sich ein Gemüsebauer dann auf den Markt stellt. Das ist ein Manko und das wird sich auch nicht ändern. Weil die großen Agrargesellschaften, die haben so 1300 Ha unterm Pflug, die haben sechs, sieben Mitarbeiter – die werden ihre Krautköppe nicht auf dem Markt verkaufen. Das ist generell ein Problem.
Oder der kleine Milchbauer, der vielleicht selber Käse herstellt. Den gibt es in Oberbayern, den gibt es in Baden-Württemberg, in Hessen vielleicht noch, aber den gibt es eigentlich auch schon in Nordrhein-Westfalen nicht mehr, in Niedersachsen nicht, Brandenburg nicht. Hier sind es die Großen, die haben eben mal 500 Kühe im Stall.
Wenn wir Wochenmarkt haben, da sind sieben oder acht Händler hier – da wäre ich froh, wenn da noch drei Händler mehr da wären. Aber das sind die historischen Strukturen durch die Zwangskollektivierung zu DDR-Zeiten hier und das Erbe dessen, was dann kam – da gibt auch keiner mehr was her, das Rad lässt sich nicht mehr rückwärts drehen.
Aber ich will das nicht bedauern, es ist nur so, dass manchmal der Wochenmarkt in Freiburg, im Breisgau eben anders aussieht als der in Delitzsch. Aber sonst zur Regionalität: Wichtig ist, dass wir versuchen, regionale Energiekreisläufe weiterzuentwickeln, regionale Lieferketten auch, da wo eine Zusammenarbeit zwischen Unternehmen möglich ist, das zumindest anzuregen.
Und natürlich den heimischen Mittelstand, also die Handwerksbetriebe, auch auffordern, sich regelmäßig an den Ausschreibungen zu beteiligen. Das macht ja auch Sinn, aufgrund der hohen Betriebsstoffkosten für Diesel und Benzin wird keiner aus Frankfurt/Oder hierherkommen und eine Heizung installieren. Und insofern sind wir da, glaube ich, auf einem guten Weg.
Ich sage immer, wichtig ist, die lokalen Kräfte zu stärken, die Netzwerkarbeit zu betreiben und eben auch zu sagen: Leute, ihr müsst auch selber was tun. Und so wenig wie möglich Staat halt. Was wir nicht selber tun vor Ort kann ein anderer für uns auch nicht tun. Das ist bei so einer Stadt mit 25.000 Einwohnern eben noch überschaubar, da kann man auch noch ganz gut geistig durchdringen.
Gibt es noch ein Thema, das Ihnen persönlich wichtig ist? Haben wir etwas vergessen?
Eine gute Zusammenarbeit mit der Bundeswehr ist halt ein wichtiges Thema, bei uns gehen ja jedes Jahr 6-7000 Lehrgangsteilnehmer durch, neben dem Stammpersonal. Ich bin selber Reserveoffizier bei der Bundeswehr und versuche da auch vor diesem Hintergrund, guten Kontakt zu halten. Das merkt man jetzt auch bei den Hilfeleistungen, ob das bei den großen Waldbränden ist, ob das bei den Hochwasserkatastrophen war, da ist schon eine gute und bewährte Zusammenarbeit da.
Dann danke ich Ihnen für das Gespräch.
„Delitzschs Oberbürgermeister Dr. Manfred Wilde im langen LZ-Interview: Das ist die Stadt, wo man glücklich werden kann“ erschien erstmals am 26. August 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 105 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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