Rechtsextreme, die mit Baseballschlรคgern und Teleskopschlagstรถcken bewaffnet zu Dutzenden durch die Wurzener Innenstadt marschieren. Erschreckende Bilder, die einigen Wurzenern noch im Gedรคchtnis sind. So auch Jens Kretzschmar vom Netzwerk fรผr Demokratische Kultur (NDK), das in den Rรคumlichkeiten am Domplatz ein soziokulturelles Zentrum fรผr Austausch, Veranstaltungen und Bildungsarbeit geschaffen hat.

Vor รผber 20 Jahren war der jetzige Kreisvorsitzende der Linkspartei in Westsachsen eines der Grรผndungsmitglieder des zivilgesellschaftlichen Vereins. โ€žDas waren Menschen, die aktiv gegen die rechte Raumnahme hier vorgehen wollten, die selbst abgelehnt wurden von dem rechten Mainstream, der hier vorherrschte.

Eine bunte Mischung aus Punkern, Kirchenmitgliedern, Leuten der Umweltbewegung und anderen Bรผrgerinnen und Bรผrgernโ€œ, erzรคhlt die jetzige NDK-Geschรคftsfรผhrerin Martina Glass. Doch seit die Neonazis in den 1990er Jahren offen รผber den Wurzener Marktplatz marschierten und rechtsextreme Parolen skandierten, sind viele Jahre vergangen. Jahre, die auch die hiesige rechte Szene verรคndert haben. โ€žEs ist kein offener Rechtsextremismus mehr mit HitlergruรŸ, aber die Rechtsextremen sind nach wie vor daโ€œ, so Glass.

Nur agieren sie auch in Wurzen โ€“ nach wie vor eine der rechten Hochburgen im Leipziger Umland โ€“ mittlerweile eher unter der Oberflรคche. Unternehmensstrukturen aufbauen, mit anderen rechten Gruppierungen vernetzen, Immobilien kaufen, Nachwuchs anwerben โ€“ beispielsweise รผber Sportangebote.

โ€žIn vielen Gesprรคchen, die ich fรผhre, kommt deshalb die Frage auf, wo die Nazis denn รผberhaupt seienโ€œ, berichtet Glass. Die Akteur/-innen der rechten Szene treten nicht mehr รถffentlich als Neonazis auf โ€“ vielmehr โ€žintegrierenโ€œ sie sich in die unternehmerische, politische und gesellschaftliche Wurzener Landschaft. โ€žDaher erscheint den meisten Bรผrger/-innen der Handlungsdruck als nicht so groรŸ.โ€œ

Hinzu kommt: Das NDK wird wie viele andere zivilgesellschaftliche Akteure durch Unterlassungsklagen quasi mundtot gemacht. โ€žWir kรถnnen wenig รถffentlich sagen, weil ein groรŸer Teil davon kein juristisch abgesichertes Wissen istโ€œ, so Glass. โ€žWir mรผssen immer auf Metaebene reden, ohne konkrete Namen oder Orte zu nennen. Und das Problem daran ist, dass Leute dann meinen, dass wir uns das ausdenken wรผrden.โ€œ

Die letzte LZ des Jahres 021, Nr. 97 Titelblatt. Foto: Screen LZ
Die letzte LZ des Jahres 021, Nr. 97 Titelblatt. Foto: Screen LZ

โ€žAlleingelassen fรผhlen wir uns aber nicht. Es gibt viele Menschen, die รคhnlich wie wir denken und die Situation wahrnehmen.โ€œ So grรผndete sich im Herbst 2019 ein Runder Tisch fรผr Demokratie, Toleranz und Rechtsstaatlichkeit in Wurzen โ€“ initiiert von Bรผrger/-innen, die sich aktiv einbringen wollten. 2018 kam es in der Stadt an der Mulde vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen Personen mit Migrationshintergrund und Neonazis und zu mehreren rechtsextremen Angriffen.

Wรคhrend sich รคltere Kader auรŸerdem verdeckt halten, lebt eine rechte Jugendbewegung ihren Extremismus รถffentlicher aus. So werden laut Augenzeugen-Berichten in den Schulen andere Schรผler/-innen angesprochen, um sie von der Szene zu begeistern.

Auf dem Schulhof wird sich teils mit โ€žHeil Hitlerโ€œ begrรผรŸt, heiรŸt es weiter. Auch eine neue Gruppe der NPD-Jugendorganisation โ€žJunge Nationalistenโ€œ soll sich in Wurzen formieren.

โ€žDer rechte Mainstream nimmt nicht komplett die Schule ein, aber die sind so laut und prรคsent, dass es den Eindruck macht, als wรคre es soโ€œ, erklรคrt Glass, die in den Schulen in und um Wurzen Bildungsarbeit macht. โ€žIch habe ganz oft das Gefรผhl, dass Jugendliche still bleiben, weil sie denken, dass sie nicht in der Mehrheit seien.โ€œ

Zustรคnde, die der Runde Tisch aufgreifen, besprechen und verรคndern wollte. Durch die Corona-Pandemie sei die Initiative nun etwas eingeschlafen. Glass hofft, dass Bรผrger/-innen, aber auch die Stadtverwaltung aktiv die Wiederbelebung dieses und anderer zivilgesellschaftlicher Projekte vorantreiben.

โ€žDie Rechten beeinflussen das Klima in der Stadt und sรคen Angst. Ich wรผnsche mir, dass sich trotzdem mehr laute Stimmen finden, die sich klar positionieren.โ€œ

โ€žUnter dem Radar โ€“ Wie aus Neonazi-Mobs rechtsextreme Netzwerker wurden?โ€œ erschien erstmals am 17. Dezember 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 97 der LZ finden Sie neben GroรŸmรคrkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehรคndlern.

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