Am Wahlabend am 26. Mai war die Sachsenkarte fast vollständig blau. Und das auch noch größtenteils AfD-Blau. Jedenfalls bei Betrachtung der Europawahl-Ergebnisse. In den meisten Wahlkreisen hatte die AfD (meist knapp vor der CDU) die meisten Stimmen geholt. Aber schon bei Betrachtung der Kreistags-Wahlergebnisse ändert sich das Bild. Auch in den westsächsischen Wahlkreisen Nordsachsen und Leipzig.
Das hat natürlich mehrere Gründe, denn ein Grund für den Erfolg der AfD ist ja deren fundamentale Kritik am Funktionieren der EU. Ein Befund, der sich ja zumindest in Teilen mit der real zu beobachtenden Dysfunktionalität der EU deckt. Doch statt die demokratischen Elemente der EU stärken zu wollen, setzt die AfD auf einen Rückzug ins Nationale. Also auch auf relativ einfache Rezepte, die bei vielen Wählern gerade in der sächsischen Provinz gut ankommen, wie es scheint. Denn die Wahlergebnisse bei der Europawahl waren für die AfD deutlich besser als die für die Kreistage.
Der Grund liegt eigentlich auf der Hand: In der lokalen Politik wissen die Wähler in der Regel, welche Partei wirklich für welche konkreten Verbesserungen oder Verschlechterungen vor Ort verantwortlich ist. Da und dort funktioniert noch eine Regionalzeitung, berichten Amtsblätter und auch Parteien und engagierte Vereine können ein Stück weit Öffentlichkeit vor allem über Social-Media-Kanäle schaffen.
Was dann dazu führt, dass die Wahlergebnisse in den Landkreisen durchaus ausdifferenziert sind.
Nur eines wird deutlich: Die AfD räumt dort vor allem den Frust an der fehlenden Infrastrukturpolitik der beiden Groko-Parteien ab.
Wir haben ja schon mehrfach darüber geschrieben und insbesondere einigen westdeutschen Kommentatoren den Kopf gewaschen für ihre ewigen Links-Rechts-Nazi-Interpretationen für all das, was im Osten passiert. Es ist ein Teil ihres Nicht-verstehen-Wollens. Was logischerweise der AfD in die Hände spielt. Denn wenn es im Osten nur um ein paar dumpfe Rassisten geht, dann muss man ja politisch nichts anders machen, oder?
So langsam begreifen zumindest unsere jüngeren Kollegen, dass hinter den Wahlergebnissen für die AfD berechtigter Frust steckt, das seit Jahren aufgestaute Gefühl, in abgehängten Landschaften zu leben und immer mehr an Lebensqualität einzubüßen, während die jungen, unternehmungslustigen Leute alle abwandern – in den Westen, wo es qualifizierte Arbeit für sie gibt, oder in die ostdeutschen Großstädte, die dann im Wahlergebnis am 26. Mai auf einmal grün aufleuchteten.
Auf der „Spiegel“-Jugendseite „bento“ hat das Gero Nagel für seine älteren Kollegen nebenan beim „Spiegel“ mal schön griffig aufgeschrieben. Es geht um Infrastrukturen, Infrastrukturen, Infrastrukturen. Vielleicht drucken sie sich das einfach mal aus und hängen es sich an ihren Arbeitsplatz, damit sie es nicht vergessen. Für neckische Pointen sind sie ja gern so vergesslich – und für ein edles Ossi-Bashing ebenfalls.
Was ist also im Landkreis Nordsachsen am 26. Mai herausgekommen?
Die CDU blieb – trotz massiver Verluste – stärkste Fraktion im Kreistag. Nach 11,3 Prozent Verlust gegenüber der Kreistagswahl von 2014 landete sie bei 29 Prozent. Die AfD landete mit 19,4 Prozent dahinter. Das ist viel. Und es ist ein klares Signal auch für die Landtagswahl, denn hier stand eben auch Landespolitik im Fokus. Eine Landespolitik, an der Sachsens Landräte oft regelrecht verzweifeln – zumindest die, die begriffen haben, dass endlich mehr in Infrastrukturen (ÖPNV, Schulen, Landärzte, Krankenhäuser, Breitband …) investiert werden müsste, dass es auch bessere Bildungspolitik geben müsste, bessere Abstimmung in Umweltschutz- und Agrarfragen …
Doch viel zu lange hat sich Sachsens Regierung auf den „Erfolgen“ der 1990er Jahre ausgeruht, die Abwanderungsbewegungen aus den ländlichen Räumen regelrecht ignoriert und dann mit falschen Mitteln versucht zu stoppen. Es nutzt überhaupt nichts, wenn der Ministerpräsident mit den Bürgern reden will und durchs Land reist, aber nicht einmal die Gesprächsbasis mit den Landräten funktioniert.
Den Wählern in den Landkreisen ist sehr wohl bewusst, dass ein Teil ihrer Probleme ihre Ursachen in der Landespolitik haben.
Sie haben trotzdem nicht alle AfD gewählt. 29 Prozent trauen durchaus ihrer örtlichen CDU zu, dass sie die Probleme trotzdem lösen kann, 15,8 Prozent trauen es in Nordsachsen sogar der SPD zu, was ja bei all den Bauchschmerzen der SPD durchaus ein hoffnungsfroher Wert ist, auch wenn er 5,1 Prozent unter dem Ergebnis von 2014 liegt.
Und dass die Wähler in Nordsachsen sehr wohl ihre ganz regionale Sichtweise haben, zeigt das mit 13,7 Prozent starke Ergebnis der Freien Wähler (plus 3 ,2 Prozent), die sich damit an der Linkspartei (9,8 Prozent) vorbeigeschoben haben. Die FDP kam auf 5,6 Prozent (+ 0,9 Prozent). In der Grafik nicht mehr enthalten sind die Grünen, die in Nordsachsen 5,4 Prozent erreichten (plus 2,0 Prozent).
War der Kreistag in Nordsachsen jemals so bunt?
Freie Wähler, Grüne und FDP gehören zu den Gruppen, die am 26. Mai ebenfalls dazugewonnen haben.
Wenn man also aus dieser Kreistagswahl etwas herauslesen kann, dann ist es ein überfälliger Abnabelungsprozess von der Landespolitik, die fast drei Jahrzehnte vor allem über die dauerregierende CDU zwischen Landeshauptstadt und Landkreisen eng verkoppelt war. Jahrzehntelang waren CDU-Kandidaten die sicheren Aspiranten auf den Posten des Landrats. Die vereinigten Landräte konnten über die Regierungspartei CDU in Dresden massiv Einfluss nehmen.
Nicht immer zum Guten und Gescheiten, denn dass gerade die Infrastrukturen, die normalerweise ländliche Regionen stabilisieren, derart ausgedünnt wurden, war eben vor allem CDU-Politik, eine von Sparen geradezu besessene Politik. Und die Spitze der CDU ist bis heute nicht wirklich in der Lage, die Folgen solcher Sparsystematik im ganzen Land überhaupt zu begreifen. Oder gar zu begreifen, dass es diese Sparwut war, die in den ländlichen Räumen den Frust wachsen ließ, obwohl man mit viel Tamtam die Millionen in Ortsumfahrungen und neue Straßen gelenkt hat.
Aber neue Staatsstraßen stabilisieren kein Dorf und keine Stadt. Eher sorgen sie dafür, dass die jungen Berufseinsteiger erst zu Pendlern werden und dann ganz wegziehen.
Der Vorteil von Nordsachsen: Der Landkreis ist relativ gut an die Großstadt Leipzig angebunden und kann in Teilen auch vom Leipziger Bevölkerungswachstum profitieren. Landrat und Kreistag tun gut daran, die Entwicklung des Landkreises mit der benachbarten Großstadt zu verbinden. Und das weiß man im Landkreis auch. Im Mai wurde der Landkreis Nordsachsen offiziell Mitglied in der Metropolregion Mitteldeutschland, die sich immer mehr zu einer eigenständigen Wirtschaftsregion im Raum Halle/Leipzig entwickelt. Und die für einige der noch nicht angeschlossenen Städte und Gemeinden neue Perspektiven eröffnet.
So bekommen auch ländliche Regionen wieder eine Vision. Und auch die hat mit Infrastrukturen zu tun.
Wenn sich in abgehängten Regionen das Gefühl breitmacht, nicht mehr gleichwertig zu sein
Wenn sich in abgehängten Regionen das Gefühl breitmacht, nicht mehr gleichwertig zu sein
Keine Kommentare bisher