Der oekom Verlag hatte 2017 schon den richtigen Riecher, als er Alexander Schiebels Buch „Das Wunder von Mals“ mit dem Untertitel versah: „Wie ein Dorf der Agrarindustrie die Stirn bietet“. Auch wenn es jetzt ein Südtiroler Landesrat und 1.600 Südtiroler Obstbauern zu sein scheinen, die neben Alexander Schiebel auch Karl Bär, Agrarreferent im Umweltinstitut München, vor Gericht gezerrt haben. Nun wollen sie auch noch oekom-Verleger Jacob Radloff anklagen lassen. Deutlicher kann die ach so stille Agarindustrie gar nicht zeigen, wie sehr ihr dieser Münchner Verlag ein Dorn im Auge ist.

Ein Ärgernis, ein rotes Tuch, ein Stein des Anstoßes – egal, wie man es nennen will. Denn in den vergangenen Jahren hat sich oekom genau mit solchen Buchtiteln bei den Konzernen der Agrarindustrie gnadenlos unbeliebt gemacht. Denn Buch um Buch zeigen dort Autorinnen und Autoren, wie sehr die industrialisierte Landwirtschaft dazu beiträgt, unsere Erde zu zerstören.

Massiv trägt sie zur Klimaerwärmung bei, ist die Ursache für die Zerstörung der großen Tropenwälder, für gravierende Bodenverluste und – befeuert durch einen massiven Pestizideinsatz (nicht nur im Obstanbau) – wohl auch zu einem gehörigen Anteil am Insektensterben.

Und das Verblüffende ist: Schiebel und Bär sind nicht angeklagt, weil sie die Wahrheit geschrieben haben oder falsche Fakten genannt hätten.

Ihnen wird Rufmord vorgeworfen, was eigentlich völlig entlarvt, worum es tatsächlich geht: Um den Erhalt der von massivem Chemieeinsatz forcierten Obstlandwirtschaft in Südtirol. Wobei es hier nicht nur um Südtirol geht, sondern um die ganzen Produktionsketten billiger Agrarprodukte, in denen die großen Agrarkonzerne eine zentrale Rolle spielen, auch wenn es hier erst einmal nur um die von ihnen produzierten Pestizide geht und Obst-Monokulturen, die ohne diesen massiven Einsatz von Pestiziden so nicht funktionieren würden.

Die Obstbauern müssten wieder zu anderen, nachhaltigen Produktionsmethoden zurückkehren. Eine Umstellung, die übrigens allen derzeit industriell produzierenden Agrarbetrieben bevorsteht, denn ein Weiterso würde ein endgültiges Aus für die Artenvielfalt bedeuten.

Da hat es eine gewisse Logik, wenn jetzt mit Jacob Radloff quasi der oekom Verlag selbst vor Gericht gezerrt wird.

Ein direkter Angriff auf die Meinungsfreiheit, wie es der oekom Verlag selbst bezeichnet. Am Donnerstag, 22. Oktober, wird am Bozner Landesgericht darüber verhandelt, ob auch gegen den Geschäftsführer des Münchner oekom verlag, Jacob Radloff, Anklage erhoben wird. Radloff verlegte im Jahr 2017 Alexander Schiebels Buch „Das Wunder von Mals“, wegen dem Schiebel im Januar 2021 vor Gericht gestellt wird. Der Vorwurf gegen Radloff lautet „Mittäterschaft beim Verbrechen der üblen Nachrede“.

Alexander Schiebel: Das Wunder von Mals. Cover: Oekom Verlag
Alexander Schiebel: Das Wunder von Mals. Cover: Oekom Verlag

Neben Schiebel ist auch Karl Bär, Agrarreferent im Umweltinstitut München, wegen übler Nachrede zum Schaden der Südtiroler Obstwirtschaft angeklagt. Der Prozess gegen Karl Bär begann bereits im September. Schiebel und Bär hatten den hohen Pestizideinsatz in der größten zusammenhängenden Apfelanbau-Region Europas öffentlich kritisiert. Initiator der insgesamt über 1.600 Anzeigen ist der Südtiroler Landesrat für Landwirtschaft, Arnold Schuler.

Jacob Radloff, Geschäftsführer des oekom Verlags, erklärt zu dieser neuen Eskalationsstufe: „Der oekom verlag publiziert seit mehr als 30 Jahren zu den Themen Ökologie und Nachhaltigkeit. Neben der Vermittlung von relevantem Wissen für eine zukunftsfähige gesellschaftliche Entwicklung sehe ich es als unsere Aufgabe an, auch auf ökologische Missstände hinzuweisen. ,Das Wunder von Mals‘ von Alexander Schiebel erfüllt diese Aufgabe auf ganzer Linie. Dass ich mich als Verleger des Buches nun in Bozen wegen haltloser Vorwürfe als Verbrecher vor Gericht verantworten soll, ist für mich absolut unverständlich. Berechtigte Kritik, Meinung und offene Diskussion muss erlaubt sein und bleiben, und ich baue auf die italienische Justiz, dass sie das genauso sieht.“

Die Staatsanwaltschaft Bozen hatte zunächst nach zwei Jahren Ermittlungen gegen Jacob Radloff die Einstellung der Anzeige beantragt. Landesrat Schuler legte jedoch Widerspruch ein, weshalb nun am 22. Oktober im Gericht in Bozen darüber verhandelt wird, ob Anklage erhoben wird oder nicht und ob gegebenenfalls weitere Ermittlungen gegen Radloff stattfinden.

„Es darf nicht sein, dass sich haltlose Klagen gegen Publizist/-innen als Mittel etablieren, um unliebsame Kritik zum Schweigen zu bringen“, sagt Radloff.

„Weder Autor/-innen noch unabhängige Verlage wie wir haben die finanziellen Ressourcen für Anwalts- und Prozesskosten, um sich in aufwendigen Verfahren gegen derartige Anschuldigungen zu wehren. Natürlich besteht die Gefahr, dass – allein aus dem ökonomischen Zwang heraus – schon vorher die Schere im Kopf ansetzt und unbequeme Aussagen vermieden werden. Das hätte einen massiven Einschnitt für freiheitliche Demokratien zur Folge.“

Für die Beklagten und ihren vertretenden Rechtsanwalt Nicola Canestrini handelt es sich bei den Klagen und Strafanzeigen um einen klaren Angriff auf die Meinungsfreiheit.

Nicola Canestrini: „Die Meinungsfreiheit ist ein fundamentaler Bestandteil der Demokratie und eine der mächtigsten Waffen im Kampf gegen Tyrannei und Machtmissbrauch. Es ist bedauerlich für die Rechtsstaatlichkeit, dass hier jemand angeklagt wird, weil er von diesem Recht Gebrauch macht.“

Neben der Frage, ob Jacob Radloff angeklagt wird, steht am Donnerstag auch zur Verhandlung, ob gegen weitere Mitglieder des Umweltinstituts München Anklage erhoben wird. Der Verein führte in 2017 eine öffentlichkeitswirksame Kampagne zum Pestizideinsatz in Südtirol, die Anzeigen gegen Agrarreferenten Karl Bär und die Vorstandsmitglieder zur Folge hatten. Auch hier wird über einen Archivierungsantrag aus Mangel an Beweisen entschieden.

Den Betroffenen der „Pestizidprozesse“ in Bozen drohen bei einer Niederlage nicht nur eine Haft- und Geldstrafe, sondern auch mögliche Schadensersatzforderungen von der Landesregierung und den Nebenklägern in Millionenhöhe und damit der finanzielle Ruin.

In seinem Buch „Das Wunder von Mals. Wie ein Dorf der Agrarindustrie die Stirn bietet“ stellt Alexander Schiebel die Vordenker/-innen, Aktivist/-innen und Bio-Landwirt/-innen aus Mals vor und begleitet aus dokumentarischer wie persönlicher Sicht die Geschichte ihres Kampfes für eine pestizidfreie Gemeinde. Bis heute ist ihm eines völlig unverständlich: Warum werden die Menschen in Mals, die pestizidfrei leben und umweltschädigende Produktionsweisen nicht hinnehmen wollen und vor Ort aktiv nach zukunftsweisenden Alternativen suchen, mit so viel Aufwand bekämpft?

Alexander Schiebel Das Wunder von Mals, oekom Verlag, München 2017, 19 Euro.

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