Seit einigen Jahren haben verschiedenste Ratsfraktionen darum gekämpft, dass das Thema Kolonialismus endlich in den Fokus der Stadtgeschichte rückt. Denn wie marginal die bisherigen Forschungen dazu waren, zeigte sich nur zu deutlich – etwa als es um die Völkerschauen im Zoo ging oder die Frage, welche Leipziger Unternehmen vom Kolonialismus profitierten. Am 23. Oktober kam nun die Vorlage zu einem 27-monatigen Forschungsprojekt auf den Tisch der Ratsversammlung, welches das endlich aufarbeiten soll.

Das Thema Kolonialismus ist auch ein Gradmesser dafür, wo sich Fraktionen eigentlich politisch verorten, das wurde am 23. Oktober allzu deutlich. Denn Redebedarf hatte ausgerechnet die BSW-Fraktion angemeldet, für die dann der Übersetzer Ralf Pannowitsch sprach und auf einmal anfing, vom „woken Zeitgeist“ zu fabulieren und suggerierte, die Vorlage entspränge lediglich einer Meinungsblase.

Dass er mit seinem Redewunsch auch noch der eigentlichen Rechtsaußenpartei im Stadtrat die Tür öffnete, machte dann der AfD-Stadtrat Roland Ulbrich deutlich, der tatsächlich meinte, hier (indirekt) wieder mal die Formel vom „Vogelschiss“ unterbringen zu können.

Es seien ja nur 30 Jahre gewesen. Und die Beschäftigung mit der kolonialen Geschichte Leipzigs lenke ab von den Problemen der Gegenwart, die Ulbrich aber nun ausgerechnet in einem heutigen US-Imperialismus sehen wollte. (Nicht in der Klimakatastrophe, dem Artensterben oder dem kolonialen Krieg Russlands gegen die Ukraine.)

Wofür er mehr als deutlichen Widerspruch von Juliane Nagel und Marco Götze aus der Linkspartei bekam.

Das noch immer lebendige koloniale Denken

Aber beide Redebeiträge machten letztlich deutlich, wie sinnlos Debatten in der Ratsversammlung werden, wenn die Redner am Pult die komplette Vorgeschichte der Vorlagen einfach vom Tisch wischen und Geschichte genauso interpretieren, wie es AfD und augenscheinlich auch BSW tun: Was man nicht hören und sehen will, wird ignoriert, für unwichtig erklärt oder gar einem „woken Zeitgeist“ zugeschrieben.

Obwohl allein schon die kleineren Forschungsbeiträge der vergangenen Jahre (von denen einige in der Vorlage erwähnt sind) gezeigt haben, dass Leipziger auf unterschiedliche Weise sehr wohl in die Kolonialgeschichte des deutschen Kaiserreiches involviert waren. Manche haben mit kolonialer Ausbeutung richtig viel Geld verdient. Und nicht nur das Grassi-Museum für Völkerkunde verfügt über etliche Bestände, die ohne die koloniale „Sammelwut“ der Kaiserzeit nicht in Leipzig wären.

Tatsächlich haben die Debatten der letzten Jahre überhaupt erst einmal deutlich gemacht, dass die koloniale Vergangenheit sehr wohl ein historisches Forschungsthema für Leipzig sind. Und es ist – anders als Ulbrich unterstellte – eben nicht davon auszugehen, dass am Ende eine Art Gefälligkeitspapier dabei entsteht, das irgendwelchen Parteien nach dem Munde geschrieben ist.

Denn beauftragt werden genau die Leute, die sich um Geschichte von Berufs wegen kümmern, wie auch Ulbrich meinte: Historiker. Genauer: Historiker der Universität Leipzig und der Fernuni Hagen. Da habe Ulbrich die Vorlage wohl überhaupt nicht gelesen, meinte Marco Götze.

Zeit für richtige Grundlagenforschung

Der Anspruch des Projekts ist tatsächlich sehr hoch: „Wie ausgeführt, liegen bislang für wenige deutsche Städte Untersuchungen zu den Verbindungen zwischen der Stadtgeschichte und den deutschen Kolonien vor. Dabei handelt es sich oftmals um Einzelfunde oder Oberflächenphänomene. Eine systematische Durchsicht größerer und serieller Quellenbestände steht oftmals aus. Auch für Leipzig als maßgebliche Gewerbe- und Messestadt sind die kolonialen Bezüge bislang erst in Ansätzen als exemplarische ‚Spurensuche‘ bekannt“, heißt es in der Vorlage.

Und: „Um über eine eklektizistische Spurensuche hinauszukommen, wird im angestrebten Projekt Grundlagenforschung betrieben, welche die Stadtgesellschaft Leipzigs insgesamt als analytisches Feld begreift, indem koloniale Diskurse und Verflechtungen in der Zeit zwischen 1871 und 1918 identifiziert werden. Unter der Leitfrage kolonialer Verstrickung werden durch die systematische Auswertung von einschlägigen Archivalien und zeitgenössischen Publikationen die konkreten Netzwerke von Einzelpersonen, Milieus und Institutionen greifbar.

Deren Rückwirkungen in die Stadtgesellschaft stehen dabei im Fokus. Mit dem Ziel eines Gesamtbildes wird forschungspraktisch zunächst von ausgewählten Bereichen ausgegangen. Die von ihnen ausstrahlenden Beziehungen stellen die Grundlage für das Geflecht dar, das die Präsenz des Kolonialismus in der Stadt Leipzig und ihrem unmittelbaren Umland repräsentiert.“

Das Stichwort „Rückwirkung“ ist dabei wichtig. Denn gerade die Reden von Pannowitsch und Ulbrich zeigten ja, dass sich selbst Stadträte verweigern, die Langzeitfolgen des Kolonialismus wahrzunehmen. Denn der steckt – auch als Rassismus und Überlegenheitsdenken – bis heute in den Köpfen vieler Deutscher. Im Grunde ist es diese tief verwurzelte Verweigerung, die eine wissenschaftliche Aufarbeitung tatsächlich notwendig macht.

Wer hat da eigentlich ein Problem mit der kolonialen Vergangenheit?

Ulbrich waren auch die 172.000 Euro zu viel, welche die Stadt für dieses Projekt bereitstellt. Aber das sind Gelder, die nun einmal 27 Monate Forschung mehrerer Historiker/-innen finanzieren sollen, die sich einmal gründlich in die Archive knien. Und an der Stelle wird eben auch deutlich, was für eine obskure Drehung Ulbrich in seiner Rede eigentlich vollzogen hat.

Denn der Tenor war letztlich nicht, dass dieses Forschungsprojekt von den tatsächlichen Problemen der Gegenwart ablenken kann (wie sollte es das tun?), sondern dass die AfD das Thema Kolonialismus tatsächlich unter der Decke lassen will. Da müsste man ja tatsächlich über – heutigen – Rassismus reden und über das imperialistische Deutschland und seine Nachwirkungen. Das gehört beides zusammen.

Mit dem Finger auf die USA zu zeigen, hilft nicht die Bohne dabei, dieses Thema zu beleuchten. Und Thomas Kumbernuß (Die PARTEI) stellte die durchaus naheliegende Frage, wie weit rechts eigentlich das BSW steht, wenn es hier so ähnlich argumentiert wie die AfD. Die BSW-Fraktion enthielt sich dann wenigstens der Stimme, während die AfD ganz im Geiste des kolonialen Denkens gegen die Vorlage stimmte.

Diese bekam mit 42:12 Stimmen bei acht Enthaltungen dennoch eine klare Mehrheit. Es wurde auch Zeit. Nur wer sich den dunklen Stellen der eigenen Stadtgeschichte stellt, bekommt auch eine Vorstellung davon, was diese Vergangenheit für Folgen hat – bis in das Denken der Gegenwart hinein.

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