Wir haben uns entschlossen, im Wahlkampf zur Stadtratswahl 2024 den Fokus auf Kandidierende, die zum ersten Mal in den Stadtrat wollen, zu legen. Der Sinn der Sache: Wir wollen die Menschen, die hinter einer Kandidatur stehen, vorstellen, mit ihren Biografien, ihren Motivationen und Zielen. Oft sind diese nicht so in Wahlprogrammen verankert.
Zu diesem Zweck wurden acht Erstkandidierende kontaktiert und im persönlichen Gespräch wurden fünf Fragen gestellt, die den Kandidierenden vorher nicht bekannt waren. Zu Beginn der Gespräche wurden die Kandidierenden gefragt, ob sie die „Sie“ oder „Du“ Anrede bevorzugen, entsprechend der Antwort wurden die Fragen gestellt. Also, lernen Sie Menschen hinter den Kandidierenden kennen.
Wer bist Du und was motiviert Dich?
Ich bin Pia Heine, bin 38 und wohne in Leipzig-Lindenau, zusammen mit meinem Freund und unseren beiden Kaninchen, Mila und Lumi, unseren beiden Mitbewohnern, wie wir immer so schön sagen. Ich bin Historikerin und Stadtführerin. Eigentlich habe ich mal auf Lehramt Geschichte, Deutsch und Französisch studiert, bin aber gerade in der Zeit fertig geworden, als es gefühlt keinerlei Referendariatsplätze gab, und habe mich dann umorientiert.
Ich bin dann in die außerschulische Bildungsarbeit gegangen, habe lange im Gedenkstätten- und Museumsbereich gearbeitet. Das mach das auch bis heute noch freiberuflich, zum Beispiel Führungen im Zeitgeschichtlichen Forum.
Ja, was motiviert mich? Ich bin vor elf Jahren in die SPD eingetreten, 2013 war das, da habe ich in Berlin gewohnt und dort gerade mein wissenschaftliches Volontariat in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen im ehemaligen Stasi-Gefängnis gemacht und bin sehr weit unter dem später eingeführten Mindestlohn bezahlt worden. Als wissenschaftliche Volontärin, Du kennst das Prinzip der schlechten Bezahlung.
Das lag nicht an der Gedenkstätte, das lag an den Vorgaben des Senats, die damals für dieses Ausbildungsverhältnis noch da waren. Das hat mich einfach super wütend gemacht, immer wieder auch mit Menschen in Kontakt zu kommen, die Vollzeit gearbeitet haben und davon nicht leben konnten und aufstocken, also trotzdem aufs Amt gehen mussten, wie ich selber auch.
Deswegen dachte ich dann, okay, ich kann mich irgendwie von der Seitenlinie her aufregen, aber ich kann auch irgendetwas tun und habe dann beschlossen, mich in einer Partei zu engagieren. Deswegen bin ich dann in die SPD eingetreten, weil ich der am ehesten zugetraut habe, dass sie den Mindestlohn auch politisch durchsetzen wird, was sie ja auch später getan hat und wovon ich dann auch profitiert habe. Ich habe das dann in der Gedenkstätte durchgeboxt, und dann mussten auch die Volontäre und Volontärinnen entsprechend dieser Kriterien bezahlt werden.
Das ist so ein Punkt, der mich antreibt, soziale Gerechtigkeit, gerade weil ich in Sachsen aufgewachsen bin, gerade wenn man die Transformationszeit in den 90ern miterlebt hat. Ich bin Jahrgang 1986, ich war damals zwar noch ganz klein, aber das schleppte sich ja über die 90er Jahre hinaus bis heute. Arbeitslosigkeit fand sich ja in fast allen Familien, überall gab es Brüche, man hat das als Kind auch schon miterlebt, und das macht natürlich auch etwas mit einem.
Zu sehen, wie gerecht geht es denn in der Demokratie zu, in unserem wiedervereinigten Land, und wo können wir noch ran, wo muss es besser werden. Das ist es, was mich antreibt.
Was willst Du für Leipzig und Deinen Wahlkreis bewegen?
Ich habe drei große Themenschwerpunkte. Der eine ist Kultur, der zweite ist Inklusion und Barrierefreiheit, und der dritte ist Gleichstellung und Sicherheit, insbesondere für Frauen und marginalisierte Gruppen. Ich fange vielleicht mal bei Kultur an. Ich komme selbst aus dem erinnerungskulturellen Bereich, deswegen ist Erinnerungskultur für mich ein ganz wichtiges Thema.
Auch die Subkultur, also Hochkultur ist schön, die konsumiere ich auch total gern, aber wir haben hier generell eine vielfältige Kulturszene, gerade im Leipziger Westen. Ich denke da an Orte wie das Neue Schauspiel, an den Westflügel, die vielen Galerien in der Spinnerei, das Tapetenwerk und so weiter und so fort.
Es gibt so viele kulturelle Orte hier allein schon im Leipziger Westen, die aber immer wieder um Finanzierung kämpfen müssen, die immer wieder um ihre Existenz kämpfen müssen, die sich immer wieder behaupten müssen und nachweisen müssen, dass sie wichtig sind. Die möchte ich gern unterstützen in dieser Arbeit. Wir rühmen uns immer als bunte, vielfältige Stadt, aber das muss sich dann auch in solchen Orten niederschlagen.
Und gerade diese Orte, auch soziokulturelle Orte, sind Begegnungsorte. Das KAOS zum Beispiel, das ist ein ganz wichtiger Ort für junge Menschen, für Kinder und Jugendliche, um sich auszuprobieren. Das ist für mich ein ganz wichtiger Punkt. Genauso wie die Erinnerungskultur, zum Beispiel das Erich-Zeigner-Haus, da bin ich schon lange Vereinsmitglied. Wir haben viele andere Orte, im Westen das Capa-Haus und auf ganz Leipzig betrachtet z.B. die Gedenkstätte für Zwangsarbeit, die Stiftung Friedliche Revolution.
Wir haben also eine bunte und vielfältige Erinnerungslandschaft. Die kommt ja nicht von allein, die muss auch wieder erkämpft und tatsächlich auch immer wieder verteidigt werden, gerade gegen rechte Parteien in dieser Stadt. Da möchte ich eine starke Stimme sein, damit die Erinnerungskultur entsprechend auch breit aufgestellt bleibt.
Was weißt Du über Stadtratsarbeit?
Natürlich beobachte ich das schon lange von der Seitenlinie. Ich kenne das politische Geschäft ein Stück weit, als langjährige Mitarbeiterin von einem früheren Landtagsabgeordneten, jetzt Bundestagsabgeordneten. Ich war vier Jahre lang Büroleiterin im Abgeordnetenbüro von Holger Mann. Darüber hinaus kenne ich grundsätzlich das politische Geschäft und auch die Stadtratsarbeit.
Ich bin schon lange im Ehrenamt hier in der SPD aktiv, war vier Jahre lang Ortsvereinsvorsitzende in Mitte. Da arbeitet man auch mit der Fraktion zusammen, man bekommt das Tagesgeschäft da sehr nah mit. Also ich habe grundsätzlich Einblicke, ich weiß auch, was ein Haushaltsplan ist und wie man einen Antrag schreibt.
Ich weiß auch, dass kommunale Arbeit nochmal ein bisschen anders läuft als auf Landesebene oder auf Bundesebene. Das sind natürlich unterschiedliche Paar Schuhe. Und man muss eben auch fraktionsübergreifend mit den demokratischen Parteien zusammenarbeiten.
Was sagen Freunde, Familie und Kollegen zu Deinem Engagement?
Also, dass ich mich politisch engagiere, ist ja nichts Neues, das kennen die schon lange. Viele aus meinem engeren Freundeskreis sind tatsächlich keine Parteimitglieder, das ist auch manchmal ganz gut. Also: Ich mag meine Parteikolleginnen und -kollegen total gern. Mit vielen bin ich mittlerweile persönlich befreundet. Aber es ist auch gut, den Blick von außen immer mal wieder gespiegelt zu kriegen, das erdet einen natürlich auch ein Stück weit.
Wenn dann jemand sagt: „Das Thema müsst ihr jetzt auch nicht so hochziehen“ oder „Das ist wichtig, geht das mal an!“ Also eine Feedbackkultur um sich herum zu haben. Ich habe sehr viel Unterstützung in meinem Freundes- und Familienkreis. Ich habe einen ganz tollen Partner, der mich da wahnsinnig unterstützt und sehr entlastet.
Ich habe tolle Freunde, die das auch gut finden, aber die sich natürlich auch Sorgen machen. Auch meine Familie macht sich Sorgen. Es ist jetzt zwei Wochen her, dass Matthias Ecke beim Plakatieren überfallen, verprügelt und krankenhausreif geschlagen wurde. Das macht was mit einem, auch mit mir. Das hat auch was mit meinem Umfeld gemacht. Mein Telefon hat danach geklingelt und es hieß: „Pass auf Dich auf!“ Wir haben das auch beim Plakatierauftakt zu den Teams gesagt.
Meine Arbeitskollegen finden das spannend. Ich bin ja Stadtführerin und die Kollegen fahren jeden Tag an meinen Plakaten vorbei mit diesen Stadtrundfahrtbussen. Und es ist total schön für mich, dass ich Nachrichten bekommen habe wie: „Ich habe Dein Plakat gesehen, total cool. Und es ist schön, dass Du uns eine Stimme geben willst im Stadtrat.“
Welche positiven oder negativen Erfahrungen hast Du bisher im Wahlkampf gemacht?
Wahlkampf ist nicht neu für mich, ich habe den früher schon für andere Leute gemacht. Jetzt ist es mein eigener und ich merke einfach im Vergleich, dass das Klima rauer geworden ist. Also ja, gerade bei Plakatzerstörungen, das ist meine Einschätzung. Das zeigen auch die Zahlen, die wir bisher intern erhoben haben.
Es ist ein ganz eigenartiges Gefühl, wenn man das erste Mal sein eigenes Gesicht in kleine Streifen gerissen auf dem Boden liegen sieht. Das macht was mit einem, wie auch der Angriff auf Matthias Ecke. Also das sind so Dinge, da hat man an der einen oder anderen Stelle schon ein mulmiges Gefühl. Und das hatte ich früher nicht in der Form.
Ich bin vor Kurzem ein bisschen weiter in Richtung Stadtrand zu einer Wahlkampfaktion gefahren, war relativ allein in der Bahn und neben mir stand einer, der eindeutig rechts war. Der hat mein Plakat gesehen, hat mich angeguckt, hat wieder aufs Plakat geguckt und hat die Faust geballt. Er ist dann aber Gott sei Dank ausgestiegen. Das sind so Situationen, die begegnen vielen Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfern jeden Tag. Das hindert mich aber nicht daran, das zu tun, was ich tue. Ich werde weitermachen, aber natürlich werden wir alle ein Stück weit vorsichtiger dabei.
Positive Erfahrungen gab es natürlich auch, man erinnert sich immer zuerst an die negativen, das ist so traurig. Ich habe direkt, nachdem ich meine Plakate aufgehängt habe, total freundliche E-Mails bekommen. Auf meinen Plakaten steht meine Homepage auch drauf und mein Instagram-Profil. Und da habe ich total nette Nachrichten bekommen über das Kontaktformular auf der Homepage, auch von Leuten, die ich gar nicht kannte, die mein Plakat gesehen haben, die sich meine Homepage angeguckt haben und das unterstützen.
Ich hatte einen super netten Termin, so einen Tageseinsatz im Inklusionshotel, im Philippus. Das war richtig bereichernd. Und auch die vielen Gespräche, die man im Wahlkampf führt, das gibt mir schon sehr viel Kraft.
Pia, ich danke Dir für das Gespräch und Deine Zeit.
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