Braucht Leipzig ein Denkmal, das โ€žan die Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation infolge des Zweiten Weltkriegsโ€œ erinnert, wie die CDU-Fraktion im Leipziger Stadtrat beantragt hat? Eine nicht ganz einfache Frage, fast 80 Jahre nach dem Ende des von den Nationalsozialisten angezettelten Zweiten Weltkriegs. Und eine hochemotionale, wie am 24. Januar auch Anna Kaleri fรผr die Grรผnen und Marco Gรถtze fรผr die Linken deutlich machten.

Denn Fluchtgeschichten gehรถren in vielen Leipziger Familien zur Erinnerung. Oft waren es die eigenen GroรŸmรผtter und Mรผtter, die damals Hals รผber Kopf und mit dem bisschen Habe, das sie tragen konnten, Richtung Westen flohen und eben auch in Leipzig und Umgebung landeten. Und hier und in anderen Teilen Deutschlands nicht unbedingt auf Liebe und Willkommen stieรŸen.

Doch Gรถtze und Kaleri machten auch deutlich, dass der eng gefasste CDU-Antrag so nicht stehen bleiben konnte. Denn Flucht und Vertreibung sind eben nicht nur die Erfahrung vieler Familien, die am Ende des Zweiten Weltkrieges aus OstpreuรŸen und Schlesien fliehen mussten, sondern ein Merkmal des ganzen 20. Jahrhunderts, das fรผr viele Vรถlker ein Jahrhundert der Vertreibungen und der Flucht war.

Es geht auch um heutige Konflikte

Angedeutet hatte das die CDU-Fraktion in ihrem Antrag durchaus schon ein bisschen, in dem zu lesen steht: โ€žInfolge des Zweiten Weltkrieges wurden allein 12 bis 14 Millionen deutsche Staatsbรผrger aus ihrer Heimat vertrieben, an andere Orte oder zur Zwangsarbeit deportiert oder mussten ihre Heimat ohne Chance auf Wiederkehr fluchtartig verlassen. Gleiches traf Angehรถrige der seit Jahrhunderten in Ost- und Sรผdosteuropa lebenden, deutschen Minderheiten.

Vorausgegangen war dem bekanntlich der von deutscher Seite mit nie gekannter Brutalitรคt und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verbundene Zweite Weltkrieg.

Mehrere Zehntausend Flรผchtlinge und Vertriebene fanden in Leipzig eine neue Heimat und leisteten ihren Beitrag zu Wiederaufbau und Fortentwicklung unserer Heimatstadt. Bis in die Gegenwart finden Betroffene und Nachfahren der von Deportationen in Ost- und Sรผdosteuropa in Leipzig eine neue Heimat und integrieren sich erfolgreich in unsere Gesellschaft. Die Erfahrungen von Flucht und Vertreibung sind Teil der Geschichte eines GroรŸteils der in Leipzig lebenden Familien.

Ein Ort, der an das Leid und die Leistung dieses groรŸen Personenkreises erinnert, aber auch assoziiert, dass Flucht, Vertreibung und Deportation leider auch Themen der Gegenwart sind, wie uns der Konflikt im Kaukasus zwischen Armenien und Aserbaidschan, aber auch zahllose, andere Konflikte in aller Welt vor Augen fรผhren, ist in Leipzigs breiter Erinnerungs- und Gedenkstรคttenlandschaft noch nicht vorhanden.โ€œ

Das Leid der heute Flรผchtenden verstehen

Aber die logische Folge ist dann eben, dass man nicht einfach einen Gedenkstein hinstellt, der nur an โ€ždie Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation infolge des Zweiten Weltkriegsโ€œ erinnert. Dann wird der genau zu dem, was Anna Kaleri zu Recht anmerkte: einem Anfang fรผr Fehldeutungen.

Eine Position, die Thomas KumbernuรŸ (Die PARTEI) in seinem Redebeitrag noch viel deutlicher aussprach: Die CDU-Fraktion sei damit der AfD auf den Leim gegangen.

Aber Marco Gรถtze sprach es nicht umsonst an, dass die Fluchterfahrungen, die in der eigenen Familie bewahrt werden, eben auch helfen kรถnnen, das Leid der Menschen nachzuempfinden, die heute auf der Flucht ganz รคhnliche Erfahrungen machen. Und im Ankunftsland meist genau dieselbe Abwehr erleben.

Nur spielt das auch im Vorschlag der Stadtverwaltung keine Rolle โ€“ was natรผrlich die geharnischte Rede von Thomas KumbernuรŸ erklรคrt. Dort heiรŸt es nur: โ€žIn Bezug auf die kommunale Erinnerungskultur ist aber eine Betrachtung der Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation infolge des Zweiten Weltkrieges wichtig. Deshalb wird von der Stadtverwaltung vorgeschlagen, ein wissenschaftliches Gutachten zu beauftragen, das u.a. untersucht, wie andere (sรคchsische) Kommunen mit dem Thema auch vor dem Hintergrund der aktuellen Kriege und Fluchtbewegungen umgehen, welche Gedenkpraxen oder Gedenkorte es dort gibt bzw. wie diese gestaltet sind.

Es soll auch darauf eingehen, dass sich unterschiedliche Gedenkpraxen in der DDR und BRD zu diesem Thema entwickelt haben. Die Ergebnisse des Gutachtens werden aufzeigen, ob und in welcher Form die Gestaltung der Erinnerungspraxis der Stadt Leipzig in diesem Bereich anzupassen ist. Mit der Beauftragung eines wissenschaftlichen Gutachtens setzt die Stadtverwaltung zudem eine MaรŸnahme des Konzeptes Erinnerungskultur der Stadt Leipzig um.โ€œ

Das Wort โ€žDeutschstรคmmigeโ€œ hat da nichts verloren

Dass das Thema noch viel grรถรŸer ist, selbst wenn man nur die Vertreibungen nur im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg nimmt, hatten die Grรผnen in ihrem ร„nderungsantrag thematisiert: โ€žIn Folge des Zweiten Weltkrieges wurden Millionen Menschen zu Geflรผchteten und Vertriebenen. Viele Geflรผchtete und Vertriebene fanden auch in Leipzig eine neue Heimat. Die ausschlieรŸliche Fokussierung auf โ€šDeutschstรคmmigeโ€˜, auf die der Ursprungsantrag abstellt und die der Verwaltungsvorschlag nicht korrigiert, wird der Problematik nicht gerecht und trรคgt die Gefahr in sich, dass man die Folgen des Zweiten Weltkrieges auf die deutschen Vertriebenen verengt.

Dies ist vor allem vor dem Hintergrund problematisch, dass die NSDAP nicht durch einen Staatsstreich, sondern durch Wahlen an die Macht gelangte und durch die Mehrheit der deutschen Bevรถlkerung, insbesondere in den ehemaligen deutschen Ostgebieten mit mehrheitlich deutscher Abstammung, bis zum Abschluss getragen wurde.

Daher ist die Begrenzung auf โ€šdeutschstรคmmigeโ€˜ Bรผrger*innen zu streichen und das Augenmerk auf alle Vertriebenen und Geflรผchteten zu legen, die in Leipzig eine neue Heimat fanden und die Stadt mit aufbauten. Dazu gehรถren unter anderem Jรผd*innen (deutscher und nicht-deutscher Herkunft) und polnischstรคmmige Menschen. Nach 1945 sind mindestens 250 jรผdische Personen aus verschiedenen Konzentrationslagern, besonders Theresienstadt, nach Leipzig gekommen.

Ein prominentes Beispiel ist etwa Eugen Gollomb, der Auschwitz รผberlebt hat und von 1967 bis 1988 Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde in Leipzig war.โ€œ

Bรคumchen wechsel dich

Den Grรผnen-Antrag รผbernahm dann Michael Weickert fรผr die CDU-Fraktion und lieรŸ den Verwaltungsstandpunkt als eigene CDU-Position abstimmen. Was dann AfD-Stadtrat Christian Kriegel dazu animierte, den ursprรผnglichen CDU-Antrag als AfD-Antrag zu รผbernehmen. Ein regelrechtes Bรคumchen-wechsel-Dich. Mit dem Ergebnis, dass dieser nun zum AfD-Antrag gewordene CDU-Antrag trotzdem mit 11:39 Stimmen bei acht Enthaltungen abgelehnt wurde.

Angenommen wurde dann der Verwaltungsstandpunkt mit dem รผbernommenen Grรผnen-Antrag mit 47:10 Stimmen bei zwei Enthaltungen. Es wird also erst einmal ein wissenschaftliches Gutachten geben.

Womit das Thema ja noch nicht zu Ende diskutiert ist. Denn die Aufstellung eines Gedenksteins hatte die Verwaltung ja eigentlich abgelehnt und das auch begrรผndet: โ€žAus Sicht der Stadtverwaltung wird bisher angemessen an Flucht, Vertreibung und Deportation der deutschen Bevรถlkerung in Folge des Zweiten Weltkrieges erinnert. Die Aufstellung eines Gedenksteins wird vor diesem Hintergrund sowie der bereits hohen Inanspruchnahme des รถffentlichen Raums mit erinnerungskulturellen Zeichen kritisch gesehen.

Auch sollte es fรผr ein รถrtliches Gedenken nach Mรถglichkeit einen authentischen Ort geben, den man in Leipzig jedoch schwer bestimmen kann. Zudem greift eine singulรคre Betrachtung einer bestimmten Opfergruppe gerade in Bezug auf aktuelle Kriege sowie Krisen mit Millionen Flรผchtlingen weltweit fรผr eine Wรผrdigung im รถffentlichen Raum zu kurz.โ€œ

Es ergibt also Sinn, das Thema Flucht und Vertreibung grรถรŸer zu denken und seine Dimensionen wahrzunehmen, die bis heute Millionen Menschen betreffen, die ihre Heimat aus lauter Grรผnden verlassen mussten, die sie selbst nicht verschuldet haben. Und die eben im Ankunftsland oft wieder nur Ausgrenzung und Ablehnung erfahren.

Da wรคre ein Erinnerungskult allein fรผr die 1945 fliehenden Menschen schlicht unangemessen und ungenรผgend. Vor allem, weil er auch nicht die Erfahrungen erlebbar macht, die in vielen Leipziger Familien ja tatsรคchlich noch lebendig sind, weitergegeben von Generation zu Generation.

Und die Dramatik zunehmender Kriege in der Welt und des sich verschรคrfenden Klimawandels wird das Thema Flucht noch viel brisanter machen. Und zu einer echten Herausforderung auch fรผr Gesellschaften wie die unsere, die immer so gern glaubt, dass sie das alles nicht (mehr) betrifft.

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