รber Erinnerungskultur kann man sich streiten. Erst recht, wenn man als Partei seinen eigenen Fokus auf Geschichte hat und das, was man daran fรผr wichtig erachtet. Das war am 16. November in der Ratsversammlung sehr schรถn zu erleben, als die Fraktionen dazu anhoben, รผber das nach zwei Jahren Arbeit erstellte Konzept zur Leipziger Erinnerungskultur zu debattieren. Und รผber zwei รnderungsantrรคge, die dann diplomatisch zurรผckgezogen wurden.
Aber natรผrlich lรคdt so ein Konzept geradezu dazu ein, sich am Rednerpult noch einmal zu positionieren und vor aller รffentlichkeit zu sagen, was man wichtig findet und gern noch mit drin gehabt hรคtte.
Aber darum ging es gerade nicht. Denn solche Schwerpunktsetzungen hatte Leipzig in den vergangenen Jahren schon mit ihren Themenjahren. 2021 standen Leipzigs soziale Bewegungen im Fokus, 2022 war das Schwerpunktthema Bildung, 2023 heiรt es โDie ganze Stadt als Bรผhneโ. Die Themenjahre haben sich bewรคhrt, haben immer wieder andere Akteure einbezogen und vor allem viele unterschiedliche Aspekte der Stadtgeschichte sichtbar gemacht.
Aber der Stadtrat hatte die Verwaltung beauftragt, ein richtiges Konzept zu erarbeiten, wie Erinnerungskultur dauerhaft und vor allem themenoffen gestaltet werden soll.
Das kann man in dem Papier, das Kulturbรผrgermeisterin Skadi Jennicke am 16. November zur Abstimmung stellte, durchaus รผberlesen, wenn man รผber die darin dennoch konkret genannten Schwerpunktthemen stolpert.
Der Entwurf: Konzept Erinnerungskultur der Stadt Leipzig
Dann passiert genau das, was an diesem Tag Sascha Matzke (FDP) und Christina Mรคrz (SPD) ansprachen: Jede Fraktion bringt ihre eigenen Wunschthemen vor, von denen sie glaubt, dass sie in der Erinnerung nicht den gebรผhrenden Platz einnehmen โ wie in diesem Fall etwa Karsten Albrecht (CDU), dem der Stalinismus in der DDR zu kurz kam.
Nicht schon wieder Kleinklein
Aber auch darum geht es nicht. Das Konzept fasst diesen historischen Aspekt รผbrigens auch unter der groรen Klammer โUnterdrรผckung, politische Gewalt, Sozialdisziplinierung und Ausgrenzung (epochenรผbergreifend)โ zusammen. Grรถรer geht es einfach nicht. Und wer immer nur auf den Stalinismus in der DDR starrt, รผbersieht die historische Erbschaft von Machtausรผbung, Unterdrรผckung, Ausgrenzung und Gewalt.
Die รผbrigens ein Robert Blum (den Sascha Matzke beilรคufig erwรคhnte) und die 1863 in Leipzig entstehende Sozialdemokratie (die Christina Mรคrz erwรคhnte) genauso erlebten wie die Slawen (auf die Karsten Albrecht hinwies).
Leipzigs Geschichte der Widerstรคndigkeit ist ohne all die Erscheinungen des herrschenden Autoritarismus nicht verstรคndlich. Da gibt es eine Menge zu erinnern.
Auch an die schleppende bis einseitige Aufarbeitung der NS-Verbrechen, auf die Bert Sander fรผr die Grรผnen einging, dem die CDU-Sicht auf den โverordneten Antifaschismusโ in der DDR zu einseitig ist in Betracht der verspรคteten und schleppenden Aufarbeitung in der alten Bundesrepublik. Wรคhrend die DDR-Fรผhrung einseitig den kommunistischen Widerstand gegen das NS-Regime feierte, fokussierte sich die westliche Erinnerung auf den militรคrischen Widerstand des 20. Juli 1944. Und tut es eigentlich bis heute.
Die Sicht der Bรผrger
Und was wollen eigentlich die Leipziger Bรผrger selbst?
Das hatte das Kulturamt in Zusammenhang mit der Erarbeitung des Erinnerungskonzeptes extra abfragen lassen. Und das Ergebnis ist durchaus eindrucksvoll und vielfรคltig. In der Erinnerung der befragten Leipziger dominieren ganz eindeutig der Herbst โ89, die Vรถlkerschlacht und die Geschichte der Messe.
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Etwas anders ist das Bild, wenn man sie fragt, welche Themen stรคrker erinnert werden sollten. Wobei man hier die etwas niedrigeren Prozentzahlen beachten sollte. Tatsรคchlich wird hier sichtbar, wie differenziert die Sicht der Leipziger auf die zu erinnernde Geschichte ist โ auch wenn die DDR-Geschichte, die Geschichte der Ortsteile, die Leipziger Geschichte seit 1989 und der Herbst โ89 Kopf an Kopf die Tabelle anfรผhren.

Diese โWunschlisteโ zeigt aber eben auch, dass es einen wachsenden Bevรถlkerungsanteil gibt, der auch die Jahre nach der Friedlichen Revolution mittlerweile als gelebte Geschichte empfindet. Das werden auch und gerade jรผngere Befragte so angegeben haben, fรผr die (erst vor wenigen Jahren verstorbene) Politiker wie Kurt Biedenkopf, Helmut Kohl oder Leipzigs erster frei gewรคhlter OBM Hinrich Lehmann-Grube lรคngst Gestalten aus dem Geschichtsbuch sind.
Ein diplomatischer Kompromiss
Aber bevor es nun im Stadtrat zu Grundsatzdiskussionen รผber die richtige Erinnerungskultur kam, bot CDU-Stadtrat Michael Weickert den Grรผnen an, den eigenen CDU-Antrag zurรผckzuziehen und einfach als Standpunkt mit zu Protokoll geben zu lassen, wenn es die Grรผnen mit ihrem รnderungsantrag genauso tรคten. Worauf dann Bert Sander fรผr die Grรผnen auch schweren Herzens einging.
Sodass tatsรคchlich die รผber zwei Jahre erarbeitete Konzeption fรผr die Leipziger Erinnerungskultur zur Abstimmung stand, die gerade deshalb offen gestaltet sei, so Skadi Jennicke, um eine โEinladung an die Zivilgesellschaftโ zu sein, รผber die Geschichte ins Gesprรคch zu kommen.
Das Konzept wurde von der Ratsversammlung dann auch mit 44:9 Stimmen bei einer Enthaltung angenommen.
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