Wem die Kampagne des sächsischen Innenministers gegen den zum Popanz aufgeblasenen Linksextremismus in Sachsen nutzt, das wurde am 5. Juli in der Ratsversammlung bei einer Anfrage der AfD-Fraktion deutlich. Denn am Ende ist es die Politik der rechtsextremen Partei, die durch das immer neue Fingerzeigen der sächsischen CDU auf die Linksextremisten gestärkt wird. Von denen gibt es – laut Verfassungsschutz – ungefähr 800 bis 850 in ganz Sachsen.

Davon ungefähr 400 bis 450 in Leipzig. Genaue Zahlen hat auch der Verfassungsschutz nicht. Es sind nur Schätzungen. Von den 850 seien rund 650 gewaltorientiert, meint der Verfassungsschutz. Unter den von Verfassungsschutz gezählten 4.350 Rechtsextremisten sind es übrigens rund 1.500.

Die AfD-Fraktion orakelte in ihrer Anfrage dann auch gleich mal von linksextremistischen Parallelgesellschaften.

Antwort des Leipziger Ordnungsdezernats auf die AfD-Anfrage zum 3. Juni.

Aber das ist dann nur die Fantasie der AfD-Stadträte, stellte das Leipziger Ordnungsdezernat fest, nachdem es reihenweise den ganzen AfD-Fragen attestiert hatte, dass diese Fragen nicht an die Stadt zu stellen sind, weil diese dafür gar nicht zuständig ist.

Lauter Parallelgesellschaften

„In Leipzig existieren keine linksextremistischen Parallelgesellschaften und deren Entwicklung ist nicht absehbar. In keinem Leipziger Stadtbezirk sind die von der Soziologie beschriebenen Charakteristika von Parallelgesellschaften erfüllt (freiwilliger und bewusster sozialer Rückzug im Lebensalltag, Vorliegen sozialräumlicher Segregation, weitgehende wirtschaftliche Abgrenzung und Doppelung staatlicher Institutionen)“, geht das Ordnungsdezernat auf eins der beliebtesten Bilder rechter Meinungsmache ein.

„Ferner schätzt das Sächsische Landesamt für Verfassungsschutz das linksextremistische Personenpotenzial in Leipzig auf 400–450 Personen, was bei rund 610.000 Leipzigerinnen und Leipzigern lediglich rund 0,0738 Prozent der Bevölkerung entspricht (Stand: 2021). Schließlich lässt die im gesamtstädtischen Vergleich überdurchschnittlich hohe Wahlbeteiligung in den Stadtteilen Connewitz, Südvorstadt, Reudnitz-Thonberg, Schleußig und Plagwitz keine Anzeichen für die Ablehnung von Demokratie und rechtsstaatlichen Werten erkennen.“

In den genannte Ortsteilen wird eben auch nicht die AfD besonders häufig gewählt, sondern es sind die Parteien, gegen die die AfD im Leipziger Stadtrat besonders gern polemisiert: Grüne, Linke und SPD. Auch am 5. Juli tat es AfD-Stadtrat Christian Kriegel, der dann auch gleich mal ein Plakat der Demonstration vom 3. Juni mit der Aufschrift „Exekutive zerschlagen“ skandalisieren wollte.

Ihm genügte nicht, dass das Ordnungsamt bestätigte, dass diese Parole von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Auch OBM Burkhard Jung bestätigte das. Lieben oder bejahen muss man sie deshalb nicht. Aber Kriegels Beharren auf diesem Punkt zeigte auch, dass auch die martialischen Sprüche auf solchen Plakaten Munition liefern für Leute, die das Fingerzeigen zur Politik gemacht haben.

Grenzen der Versammlungsfreiheit?

Dass sich die Dinge am 3. Juni vermischten, weil alle Demonstrationen, die sich direkt auf das Urteil im Lina-E.-Prozess bezogen, verboten wurden, war abzusehen.

Nicht ganz grundlos wählte der Say it loud e. V. für seine Demonstration das Motto „Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig“. Denn genau das hat auch das Leipziger Ordnungsamt missachtet – dass Demonstrationen auch ein Ventil sind, bei denen Menschen zeigen dürfen, wenn sie mit staatlichen Maßnahmen oder richterlichen Entscheidungen nicht einverstanden sind. Dass dann 2.500 Menschen für Versammlungsfreiheit demonstrierten, war ihr gutes Recht.

Verbürgt in Artikel 8 unseres Grundgesetzes, in dessen erstem Satz es heißt: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“

Und da sind wir bei der Exekutive, die dieses Grundrecht immer öfter nur nach Satz 2 interpretiert: „Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“

Das ist nicht nur ein Hintertürchen, sondern ein gewaltiges Tor.

Erst recht, nachdem die Leipziger Ordnungsbehörde auf eine sehr weitreichende Art das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit einschränkt. In der Antwort des Ordnungsdezernats so nachzulesen: „Die von der Stadt Leipzig erlassene Allgemeinverfügung sieht unter Ziff. 1 Satz 1 vor, dass es unter Einschränkung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit gem. Art. 8 Abs. 2 Grundgesetz i. V. m. § 15 Abs. 1 Sächsisches Versammlungsgesetz jedermann untersagt ist, an dem Samstag und Sonntag (03. und 04.06.2023) nach der Urteilsverkündung im sogenannten Antifa-Ost-Verfahren (Staatsschutzverfahren gegen Lina E. u. a., Az. 4 St 2/21 vor dem Oberlandesgericht Dresden), öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel zu veranstalten oder daran teilzunehmen, welche sich inhaltlich auf den Antifa-Ost-Prozess bzw. dessen Angeklagte beziehen und nicht bis zum Mittwoch, dem 31.05.2023, 24:00 Uhr, angezeigt worden sind.

Allerdings ist Ziff. 1 Satz 2 der Allgemeinverfügung zu entnehmen, dass Ausnahmeentscheidungen von Satz 1 der Versammlungsbehörde oder dem Polizeivollzugsdienst im Einzelfall vorbehalten bleiben.“

Jeder sein eigener Liktor?

Die Frage ist wirklich: Wo dürfen Bürger sich dann zu solchen öffentlichen Vorgängen äußern, wenn nicht auf öffentlichen Versammlungen?

Die andere Frage steht natürlich auch im Raum, denn begründet wurden die Verbote auch mit der befürchteten Gewalt. Was dann am 5. Juli noch eine literarische Wendung nahm, nachdem Grünen-Stadtrat Jürgen Kasek die Meinungsfreiheit auch im Fall von „Exekutive zerschlagen“ verteidigte.

Was dann CDU-Stadtrat Michael Weickert an Heine denken ließ. Oder zumindest eine Verszeile, die er sich gemerkt hatte: „… ich bin / Die Tat von deinem Gedanken.“

Die stammt aus Caput VI von Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“, in dem der Dichter nächtens durch Köln spaziert und sich von einer unheimlichen Gestalt verfolgt sieht, die er dann zur Rede stellt. Und der Bursche ist – man glaubt es kaum – ein weitschweifiger Redner, der erst einmal ganz weit ausholt: „Ich bitte dich, exorziere mich nicht, / Und werde nur nicht emphatisch! / Ich bin kein Gespenst der Vergangenheit, / Kein grabentstiegener Strohwisch, / Und von Rhetorik bin ich kein Freund, / Bin auch nicht sehr philosophisch. / Ich bin von praktischer Natur, / Und immer schweigsam und ruhig. / Doch wisse: Was du ersonnen im Geist, / Das führ ich aus, das tu ich. …“

Das geht noch vier Strophen so weiter bis zu dem Satz, den sich Michael Weickert gemerkt hat.

Natürlich ist es peinlich, wenn man in Heines „Wintermärchen“ nur bis zu dieser Stelle kommt. Denn die Geschichte geht natürlich weiter. Bei Heine gibt es immer Pointen, die das brave Missverstehen der braven Bürger auf den Kopf stellen.

Denn der Dichter landet mit seinem Liktor im nächsten Kapitel im Dom, wo die Heiligen Drei Könige liegen. Und hier schreitet der stumme Geselle dann zur Tat: „Er nahte sich, und mit dem Beil / Zerschmetterte er die armen / Skelette des Aberglaubens, er schlug / Sie nieder ohn’ Erbarmen. / Es dröhnte der Hiebe Widerhall / Aus allen Gewölben, entsetzlich! – / Blutströme schossen aus meiner Brust, / Und ich erwachte plötzlich.“

Eine doppelte oder gar dreifache Pointe, wenn man genau liest.

Ein eindeutig falsch gesetztes Zitat in einer eher abwegigen Diskussion um eine AfD-Anfrage, die eigentlich nur genau dafür da war: Wieder mal völlig schräg am Thema vorbei zu diskutieren.

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