Eigentlich war es nur eine Informationsvorlage, die der Stadtrat am 20. April ganz am Ende der Stadtratssitzung noch zur Kenntnis nehmen konnte, durfte oder sollte. Je nachdem, wie man die Sache betrachtet. Das Amt für Umweltschutz hatte nichts anderes gemacht, als einfach mal das Verhältnis von Kosten und Nutzen für verschiedene Lärmschutzmaßnahmen ausrechnen zu lassen. Doch die Autofahrer im Saal befürchteten sofort das Schlimmste: Tempo 30 auf den Hauptverkehrsstraßen.
Dabei hatte das Amt für Umweltschutz sehr deutlich formuliert, worum es bei dieser Informationsvorlage eigentlich ging: „Ziel ist es, einen umfassenden Überblick über die Kosten, die Wirksamkeit und den Nutzen von Lärmminderungsmaßnahmen zu erhalten und auf dieser Basis eine Priorisierung der Maßnahmen vorzunehmen.
Kosten-Nutzen-Analyse und Kosten-Wirksamkeits- Analyse werden dabei auch als Instrument verstanden, um Diskussionen über die Priorisierung der Lärmschutzmaßnahmen anzuregen.“
So hatte sich das Umweltdezernat auch im März schon in einer Pressemitteilung geäußert.
Die auch damals schon von einigen Parteien missverstanden wurde. Man hörte nur „Tempo 30“ und „mehr Platz für den Radverkehr“ – und schon gingen alle Alarmsirenen an, denn das sind ja nun die Schreckgespenster für die Leipziger Autofahrernation. Da tauchen sofort Worte wie Stau und Chaos auf.
Dass Verkehr auch bei Tempo 30 flüssig fließen könnte, ist dann kein Thema mehr.
Gibt es dann Schleichverkehr an der Georg-Schumann-Straße?
Am 20. April war es dann auf einmal die Georg-Schumann-Straße, die zum verbalen Pingpong-Feld wurde, als SPD-Stadtrat Andreas Geisler auf den vorhergehenden Redebeitrag von CDU-Stadträtin Sabine Heymann einging, die ihre Befürchtung aussprach, die Autofahrer würden dann, wenn auf einer Hauptstraße wie der Georg-Schumann-Straße Tempo 30 verhängt würde, auf Nebenstraßen ausweichen.
Da fragte dann Geisler schon mal nach, was für ein Handlungsauftrag aus dieser Vorlage eigentlich für Baubürgermeister Thomas Dienberg gefolgt, wenn die so vom Rat entgegengenommen wird? Eine Befürchtung, die durch den CDU-Änderungsantrag geschürt wurde, der forderte: „Die vorliegende Kosten-Nutzen-Analyse wird auf die Nebenstraßen ausgedehnt, um die Wirkung verkehrsorganisatorischer Maßnahmen in ihrer Konsequenz auf die Gesamtstadt zu erfahren.“
Und: „Erst mit dem Vorliegen der unter Beschlusspunkt 2 geforderten Ergebnisse werden neue verkehrsrechtliche Anordnungen (unter Berücksichtigung dieser Ergebnisse) geprüft und in begründeten Fällen vollzogen.“
Ein Antrag, über den sich besonders Umweltbürgermeister Heiko Rosenthal wunderte, denn eine Informationsvorlage ist kein Beschluss. Sie ist schlichtweg dazu da, den Stadtrat zu informieren.
In diesem Fall über etwas, was der Stadtrat selbst bestellt hat. Das ist zwar schon ein bisschen her. Aber dazu kann man ja im Ratsinformationssystem suchen, wenn man es vergessen hat. Am 14. Oktober 2020 beschloss die Ratsversammlung, genau 57.476,84 Euro zur Verfügung zu stellen, damit eine Kosten-Nutzen-Analyse im Rahmen der Lärmaktionsplanung erarbeitet werden konnte.
Dabei hat das beauftragte Büro Hoffmann und Leichter nun einmal exemplarisch für stark lärmbelastete Leipziger Hauptstraßen berechnet, welche Maßnahmen eigentlich den größten Nutzen für den jeweiligen Mitteleinsatz bringen würden.
Oder mit den Worten aus der Vorlage: „Neben der Ermittlung der Kosten der einzelnen Maßnahmen wurden auch Aussagen zur Lärmminderungswirkung sowie zur Wirkung in anderen Bereichen und Zielstellungen (beispielsweise Luftreinhaltung, Förderung des Umweltverbunds, Klimaschutz etc.) getroffen.
Aus dem Verhältnis der Maßnahmenkosten auf der einen Seite und dem zu erwartenden Nutzen bzw. der zu erwartenden Wirksamkeit auf der anderen Seite ließen sich Kennziffern ableiten (Nutzen-Kosten-Verhältnis), welche die Effizienz der Maßnahmen beschreiben.
Aufbauend darauf wurde eine Priorisierung der Maßnahmen vorgenommen, wobei auch sinnvolle Maßnahmenbündel in Hinblick auf eine stufenweise Umsetzung der Lärmminderungsmaßnahmen gebildet wurden. Ziel war es zu ermitteln, von welchen Maßnahmen die größte Wirksamkeit bei gleichzeitig vertretbaren Kosten zu erwarten ist, damit diese bevorzugt umgesetzt und die Ziele der Lärmaktionsplanung erreicht werden können.“
Asphalt oder Tempo 30?
Dabei wurden vor allem drei Maßnahmen berechnet: das Aufbringen vom Lärmoptimiertem Asphalt (LOA), die Verhängung von ganztätig Tempo 30 und von Tempo 30 in der Nacht, die drei Maßnahmen, mit denen Kfz-Verkehr nun einmal lärmgemindert werden kann. Es gibt dann auch noch einen Anhang mit zusätzlichen Maßnahmen wie dem Ausbau des Radverkehrs.
Da musste Heiko Rosenthal die debattierfreudigen Stadträte schon daran erinnern, dass es in dieser Vorlage überhaupt nicht um die Verhängung von Tempo 30 auf der Georg-Schumann-Straße ging, auch wenn AfD-Stadtrat Kriegel dann gleich vorpreschte und beklagte, dann würde ja auch noch der ÖPNV ausgebremst.
Das war wirklich nicht Thema. Sondern, wie Rosenthal den Stadträten geduldig erklärte: dem Stadtrat etwas in die Hand zu geben, was es zur 2. Fortschreibung des Lärmaktionsplans 2022 noch nicht gab. Nämlich genau so eine Berechnung von Kosten und Nutzen für einzelne Lärmschutzmaßnahmen, die die Stadt sowieso per Gesetz umsetzen muss.
Dafür gibt es alle zwei Jahre eine Fortschreibung der Lärmaktionsplanung mit jeweils neu festgesetzten Maßnahmen auf Grundlage der Lärmkartierung.
Diese Lärmkarten kann jeder auf der Website der Stadt einsehen und wird dort auch sehen, dass es bei Verkehrslärm nicht um Nebenstraßen geht, sondern um das Hauptstraßennetz.
Bisher gab es die Lärmschutzmaßnahmen ohne Kosten-Nutzen-Berechnung. Die nächste Fortschreibung – wahrscheinlich 2025 – wird es dann zum ersten Mal mit so einer Berechnung geben.
Womit die Stadträte, so Rosenthal, auch erstmals ein Instrument in die Hand bekommen, anhand dessen sie sehen, welche Lärmschutzmaßnahme was kostet und welchen Nutzen sie hat.
Gibt es das auch für Nebenstraßen?
Den CDU-Antrag übernahm OBM Burkhard Jung am 20. April quasi als Protokollnotiz. Prüfen könne man das Thema Nebenstraßen ja mal.
Wobei schon ein Blick in die Informationsvorlage zeigt, dass die Ergebnisse dort ganz ähnlich ausfallen werden: Für Tempo 30 genügen ein paar Verkehrsschilder für ein paar tausend Euro, haben aber sofort lärmmindernden Effekt.
Die Kosten-Nutzen-Rechnung für Lärmoptimierten Asphalt fällt sofort viel schlechter aus – aber aus einem simplen Grund: Das Auftragen von neuem Asphalt ist um ein Vielfaches teurer als die mögliche Nutzensumme.
Aber wie berechnet man eigentlich den Nutzen?
Eine Frage, die man nach dem Blick in die Vorlage durchaus stellen darf. Denn da formulieren die Auftragnehmer: „Bei den externen Kosten des Verkehrslärms handelt es sich um Gesundheitskosten und Belästigungskosten (darin enthalten sind beispielsweise auch Mietminderungen aufgrund von Lärm). Für die vorliegende Untersuchung wurde der Kostenansatz für externe Kosten durch Verkehrslärm nach Becker herangezogen.“
Wie hoch ist eigentlich der Schaden für die Lärmbetroffenen?
Dabei wird die Zahl der potenziell von Lärm Betroffenen an der Straße ermittelt und mit den von Thilo Becker („Sozialräumliche Verteilung von verkehrsbedingtem Lärm und Luftschadstoffen am Beispiel von Berlin“, Dissertation, Dresden 2016) ermittelten Gesundheits- und Belästigungskosten multipliziert. Wobei diese Kosten viel zu niedrig angesetzt scheinen. Denn es geht hier nicht nur um Mietminderung, sondern um eine erhebliche Belastung der Gesundheit durch Lärm.
Und damit auch Folgen für das Arbeitsleben, um Arbeitsausfall, Fehltage und Minderung der Arbeitsleistung. Auch Beckers Arbeit scheint diese Folgekosten permanenter Lärmbelastung nicht wirklich abzubilden.
Selbst bei einem Lärmpegel über 75 dbA setzt das beauftragte Büro nur Kosten von 535 Euro je Betroffene pro Jahr an. Eine Summe, die ganz bestimmt zu niedrig angesetzt ist.
Weil Wohnungen an Hauptstraßen wegen des Lärms etwas billiger sind, betrifft es bestimmte Bevölkerungsgruppen stärker, wie das Umweltbundesamt feststellt: „Die Auswertung der Deutschen Umweltstudie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen IV (GerES IV), die das Umweltbundesamt in den Jahren 2003 bis 2006 durchführte, ergab, dass nach Angaben der Eltern, 3- bis 14-jährige Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus häufiger an stark befahrenen Haupt- oder Durchgangsstraßen wohnen als Kinder aus Familien mit mittlerem und hohem Sozialstatus.“
Also die Menschen, die sich am schlechtesten wehren können und so gut wie keine Lobby haben. Wie schnell und gründlich sie ausgeblendet werden, machte die Diskussion am 20. April, ja deutlich. Da war auf einmal das Leid der Autofahrer, die bei Tempo 30 sofort Stau und verstopfte Straßen befürchten, auf einmal wieder wichtiger.
Es geht nicht nur um die Georg-Schumann-Straße
Aber die Georg-Schumann-Straße war nur eines von dutzenden Rechenbeispielen in der Vorlage.
Sie steht in der ersten Tabelle mit „Kosten-Nutzen-Analyse für die Maßnahmen aus dem Lärmaktionsplan“ nun einmal gleich ganz oben. Was Zeichen dafür ist, dass die debattierfreudigen Stadträte gar nicht viel weiter gelesen haben.
Ein Tempo 30 zwischen Linkelstraße und Lützowstraße hätte natürlich sofort einen lärmmindernden Effekt. Genau das zeigen die beiden Spalten.
In der Lützowstraße, in der Zschocherschen Straße, in der Industriestraße, der Schnorrstraße, der Erich-Zeigner-Allee und in der Eisenbahnstraße wäre der Effekt noch um einiges größer, kann man in der Tabelle auch lesen. Aber über diese Straßen redete an diesem Tag niemand.
Und selbst das Gejammer um den ÖPNV war völlig fehl am Platz. In der Vorlage gibt es auch eine Tabelle zu Lärmminderungen bei der Straßenbahn, die auf Teilen der Georg-Schumann-Straße auch separiert und auf Rasengleisen geführt werden kann. Die kosten natürlich eine Stange Geld – aber nicht wirklich mehr als Gleise auf fester Fahrbahn.
FWeil aber Gleisbau viel Geld kostet, kommen die Berechner hier nur auf einen geringen Nutzen. Was natürlich Unfug ist, denn die Gleise müssen sowieso gebaut werden. Und wenn sie lärmmindernd gebaut werden, hat das sofort Nutzen für die Anwohner.
Und da die Bahnen schon heute bei allen Ampelschaltungen auf der Georg-Schumann-Straße priorisiert sind, schleichen sie auch nicht hinter dem Kfz-Verkehr hinterher, wie ein sichtlich ÖPNV-unerfahrener AfD-Stadtrat behauptete.
Gerade in Verkehrsdiskussionen wird zunehmend mit Fiktionen argumentiert, die nichts mit dem realen Verkehrsgeschehen zu tun haben. Was an diesem 20. April wieder gut zu beobachten war.
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