Die Zeiten ändern sich. Und die Einstellungen zum Zirkus auch. Das hatte Leipzigs Marktamt genauso gesehen und deshalb Gespräche mit einem niederländischen Zirkusunternehmen aufgenommen, das künftig den Weihnachtszirkus auf dem Kleinmessegelände abhalten sollte. Doch dann gab es einen Sturm der Entrüstung, einen Stadtratsantrag und eine Petition. Und noch ein bisschen Stadtratszirkus.
Unter anderem zu der Frage, ob sich die Ratsversammlung auch noch die Auswahl desjenigen Zirkus auf den Tisch ziehen soll, der dann künftig in Leipzig Weihnachtszirkus sein darf. Oder ob das Marktamt in Eigenregie erledigen darf. Ein Thema, das FDP-Stadtrat Sascha Matzke dezidiert ansprach, in der Diskussion, die sich am 19. April um die Frage entspann, ob jetzt der Zirkus Aeros wieder dauerhaft den Zuschlag für den Leipziger Weihnachtszirkus bekommt.
Tradition oder mal was Neues?
Denn eigentlich wollte das Marktamt genau diese Tradition beenden.
Und wenn es um Tradition geht, wird es ganz schnell operettenhaft und rührselig, was SPD-Stadtrat Christian Schulze launig anmerkte, der noch mit dem Gedanken spielt, sich auch 2024 noch einmal zur Wahl als Stadtrat zu stellen – aber die Installation von immer mehr Entscheidungsgremien, die die Stadtratsarbeit immer mehr in detailliertes Verwaltungshandeln einbinden, macht ihm – berechtigterweise – Angst.
Sollte denn nicht ein Marktamtsleiter in Leipzig in eigener Verantwortung entscheiden können, welcher Zirkus in Leipzig gastieren darf? Es ist ja nicht so, dass das Leipziger Marktamt keine Kriterien aufgestellt hätte.
Im Verwaltungsstandpunkt zur Petition listet er 15 Punkte auf, die ein Zirkus aus Sicht des Marktamtes erfüllen sollte, wenn er in Leipzig gastieren möchte.
Die Beschlussvorlage des Petitionsausschusses mit der Zuarbeit des Marktamtes.
Und speziell zu Zirkus Aeros liest sich der Verwaltungsstandpunkt wie eine Generalkritik: „Das Marktamt arbeitete bereits seit einiger Zeit daran, das seit vielen Jahren nahezu unveränderte Gastspiel eines Weihnachtszirkus in eine moderne, zeitgemäße und damit zukunftssichere Konzeption zu überführen. Ein solcher Versuch wurde bereits 2016 unternommen, wurde auch Aeros damals so kommuniziert.“
Tierwohl nicht so wichtig?
Doch Aeros tut sich damit augenscheinlich schwer, wie das Marktamt feststellt: „Aeros hat in den vergangenen Jahren dem Marktamt keinerlei Vorschläge für eine neue, moderne und zukunftsweisende Ausrichtung des gesellschaftlich viel diskutierten Themas Zirkus vorgelegt. Auch aus diesem Grund erhielt Aeros nur einen jährlich neu abzuschließenden Pachtvertrag.
Das Marktamt hat im Übrigen die Tradition des Namens Aeros in Leipzig und auch die Gastspiele des gleichnamigen Zirkus durchaus respektiert, indem es einen Alternativtermin für das Frühjahr auf Basis einer mehrjährigen Vereinbarung vorschlug. Das hat Aeros abgelehnt.“
Zu diesem „gesellschaftlich viel diskutierten Thema Zirkus“ gehört nun einmal auch das Thema Tierwohl, das am 19. April besonders diskutiert wurde. Die Grünen hatten es mit einem Änderungsantrag zu einem Antrag der Linksfraktion formuliert: „Zur künftigen Vergabe des Leipziger Weihnachtszirkus wird beschränktes Vergabeverfahren durchgeführt, das neben einer höheren Qualität der Zirkusdarbietung gleichermaßen auch soziale Aspekte (z. B. Preisgestaltung, Inklusion, Vergütung) sowie Fragen der Nachhaltigkeit (z. B. Klimabilanz, regionale Wirtschaftskreisläufe) und des Tierwohls einbezieht.“
Doch dieser Vorstoß fand im Stadtrat keine Mehrheit. Augenscheinlich sitzt der Wunsch nach Tradition mit Tierdressuren tief in der Seele der meisten Stadträtinnen und Stadträte. Sie lehnten den Grünen-Vorstoß mit 25:37 Stimmen ab.
Den noch viel weitergehenden Antrag von Thomas Kumbernuß (DIE PARTEI), auf jegliche Tierschau im Zirkus zu verzichten, lehnte dann eine noch viel größere Mehrheit ab. Auch wenn mit Kumbernuß immerhin acht Stadtratsmitglieder bereit waren, Zirkus auch einmal ohne Elefanten, Löwen, Affen und Pferde zu denken.
Geht es um die Kinder oder um die Erwachsenen?
Wobei CDU-Stadtrat Falk Dossin einen Aspekt ansprach, der vielleicht nicht ganz negiert werden kann, wenn es um Weihnachtszirkus geht.
„Das Zielpublikum Kind soll auch weiterhin im Vordergrund stehen. Angebote künstlerischer Darbietungen für Erwachsenen sind zahlreich in Leipzig vorhanden, gerade in der Weihnachtszeit. Die Fläche am Cottaweg zu vermieten, obwohl diese baurechtlich anders genutzt werden muss, ist arg zweifelhaft“, schrieb er in seinem Antrag, in dem es vor allem darum ging, Zirkus Aeros schon für 2023 eine Zusage zu sichern und die Vergabe für den Zeitraum 2024 bis 2029 zu klären.
Hat die Stadtratsmehrheit also für die Kinder entschieden, die unbedingt Tiere sehen wollen, die fleißig Dressurkunststücke zeigen? Oder war es das Kind im Manne, das hier – aus Tradition – am alten Bild vom Zirkus festhielt?
Denn Kinder waren weder an der Diskussion beteiligt, noch wurden sie vorher befragt. Und in der Regel sind es auch nicht die Kinder, die entscheiden, dass die Familie in den Zirkus geht, sondern die Eltern.
Der Eindruck, dass in dieser Stadtratsdebatte fleißig aneinander vorbeigeredet wurde, dürfte nicht trügen. Genauso wenig wie der Eindruck, dass mit der Absage des niederländischen Zirkus Stardust auch eine Chance vergeben wurde, es einfach mal anders auszuprobieren.
Leipzig hätte es schon mal ausprobieren können
Das Marktamt hatte dazu formuliert: „Das Unternehmen Stardust International ist bereits im Sommer 2021 an das Marktamt herangetreten und hat ein sehr konkretes und ausgefeiltes Angebot gemacht, in Leipzig einen Weltweihnachtszirkus zu etablieren. Das Unternehmen Stardust International betreibt seit über 20 Jahren einen Weltweihnachtszirkus in Amsterdam und nahezu ebenso lange einen Weltweihnachtszirkus in Stuttgart.
Sowohl die Bonitätsdaten als auch die persönlichen Referenzen sind sehr gut, auch ein direktes Gespräch mit den Kollegen in Stuttgart ergab ausschließlich positiven und zuverlässigsten Leumund. Es gab vorbereitende Besuche und Gespräche im Dezember in Stuttgart. In Anbetracht der persönlichen Situation des Zirkus Aeros (der langjährige Direktor und Vater der jetzigen Betreiber, Herr Schmidt sen. verstarb 2020) hat das Marktamt die Verhandlungen mit dem neuen Partner noch um ein Jahr ausgesetzt und erst für den Start 2023 geführt.
Der mit diesem neuen Partner Stardust International absehbare Erfolg hätte sowohl touristisch, wirtschaftlich, medial als auch gesamtstädtisch einen bedeutenden Mehrwert für die Stadt Leipzig erzielt.
Aufgrund der kontroversen Diskussion in Öffentlichkeit und Politik und des nicht geklärten Zeitrahmens für eine Entscheidung verfolgt das Unternehmen Stardust International seine Pläne für Leipzig nicht mehr weiter und hat dem Marktamt abgesagt.“
Und das Ergebnis? Kein einziger Antrag aus dem Stadtrat fand an diesem 19. April eine Mehrheit. Der ursprüngliche Linke-Antrag schon deshalb nicht, weil von Linke-Stadtrat Volker Külow selbst der Verwaltungsstandpunkt zur Abstimmung gestellt wurde. Falk Dossins Antrag scheiterte mit 30:31 Stimmen knapp.
Das Marktamt behält recht
Beschlossen wurde:
„1. Der Stadtrat nimmt zur Kenntnis, dass das Unternehmen Stardust International BV die Verhandlungen zur Durchführung des künftigen Leipziger Weihnachtszirkus abgebrochen hat.
2. Zur künftigen Vergabe des Leipziger Weihnachtszirkus wird beschränktes Vergabeverfahren durchgeführt, das neben einer höheren Qualität der Zirkusdarbietung gleichermaßen auch soziale Aspekte (z. B. Preisgestaltung, Inklusion, Vergütung) sowie Fragen der Nachhaltigkeit (z. B. Klimabilanz, regionale Wirtschaftskreisläufe) einbezieht.
3. Über die Vergabe entscheidet eine Jury. In der Jury sind Vertreter aller Fraktionen sowie des Marktamtes und der LTM GmbH vertreten; die Vergabematrix wird vorab in der Jury abgestimmt. Es werden darüber hinaus die Fachausschüsse Kultur sowie Wirtschaft und Arbeit einbezogen.
4. Sollte der dadurch entstehende zeitliche Verzug für die Bespielung des nächsten Weihnachtszirkus 2023/2024 problematisch sein, wird ein neuer Vertragsabschluss mit Zirkus Aeros für das Jahr 2023 an die Bedingung geknüpft, dass Zirkus Aeros ein Konzept zu den unter 2. der Begründung angeführten Auswahl- und Zuschlagskriterien als Anforderungen an einen modernen, zukunftsträchtigen Zirkus bis spätestens 30.9.2023 erstellt und dem Marktamt zur Prüfung vorlegt.“
Der beschlossene Verwaltungsstandpunkt.
Das wurde (bis auf Punkt 1) punktweise angestimmt. Das Vergabeverfahren kommt nun, denn dafür stimmten 45 der Anwesenden, 16 stimmten dagegen. Auch die Jury und die Vergabematrix gibt es. Dafür stimmten 30 der Anwesenden, 29 dagegen.
Und auch Punkt 4 (der mit 42:20 Stimmen votiert wurde) hat es in sich, denn wenn man die Stellungnahme des Marktamtes liest, tut sich der Zirkus Aeros unheimlich schwer damit, ein entsprechendes Konzept für einen „modernen, zukunftsträchtigen Zirkus“ vorzulegen.
Womit die Ratsmehrheit hier eindeutig die Haltung des Marktamtes unterstützt, dass Leipzig einen modernen und zukunftsfähigen Weihnachtszirkus bekommen sollte. Und ob das die Kinder dann toll finden, ist völlig offen. Denn dass Kinder unbedingt dressierte Tiere sehen wollen, ist durch keinerlei belastbare Erhebung gestützt.
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Erstunlich, dass R.Julke die Vorlage des Marktamtes kaum interessiert
Da sind Veranstaltungen für Firmen allemal wichtiger als für Familien, es geht mal wieder um höherwertige, also gleich höherpreisige Verköstigung, eine schöne Verwaltungsmaschine bedarf es vor allem, damit man wohl auf Augenhöhe mit der in den letzten Jahren hochgejazzten Leipziger Verwaltung mithalten kann ohne dieser allzuviele Umstände zu bereiten, Bonität wird ganz groß geschrieben, ein Hohn auf die ganze Branche nach den Coronajahren und ganz am Ende stehen dann auch noch faire Löhne (Klar für die SPD brauchts ne ordnetliche Lohnbuchhaltung mit allem drum und dran). Mich macht es da schon etwas baff, dass kinderfreundlicher Zirkus, für den all das bis auf das letzte nicht unbedingt nötig ist, vielleicht sogar kontraproduktiv ist, dann hier im Artikel so ablehnend kommentiert wird. Lieber noch eine schnike Veranstaltung von irgendwo eingekauft, zu der man dann alsbald auch nur noch irgendwo abgelegen irgendwo in der Stadt mit einem SUV hinkommen kann, damit endlich die RBler auch Ihre SUVs auf dem Kleinmessegelände abstellen können? Da geht die L-IZ hier aber voll mit!
Sogar mit Pommes und Popcorn kann man ein ordentliches Zirkusprogramm bieten. Bonität im Schaustellergewerbe nach den letzten Jahren abzufragen ist schon steil. So ist, neben der derzeitigen weitgehend faktenfreien und eher auf 101DalmatinerEmotionen begründeten Tierzirkusdebatte vielmehr auch bezeichnend, wie eben noch viel weitgehender Zirkus, Artistik und Schaustellerei ‘auf marktreife Linie’ gebracht werden soll. Das Tiernummern, die man sich mit normalen Verstand noch gern angucken möchte, auch nur zu enormen Kosten und damit Preisen geht, bleibt hier mal unbenommen.
(Gute Darstellung zu diesem Thema: https://taz.de/Wildtiere-im-Zirkus/!5764063/
Da am Cottaweg gerade allzu deutlich wird, wie die Stadtverwaltung allein den Devisen kapitalkräftiger “Vereine” und Produzenten, wohl wegen Aufmerksamkeitsdefizit, gehorcht und das bar jeder Wahrnehmung lange etablierter Veranstatungsformate, die wohl noch am ehesten an die quirligen Traditionen Leipziger Messe- und Marktreibens anknüpfen können, ist schon bezeichnend. Klar könnten auch diese manches dazu beitragen, dass sie sich besser in heutige Verwertungs- und Marketingkanäle pressen lassen könnten, aber die Verwaltungsvolage und die ganze RB-Parkplatzgeschichte spricht doch Bände, dass vor allem die Stadt daran gar kein Interesse hat. Dahingehende Sensibilität würde der L-IZ auch gut anstehen.