Wer hätte gedacht, dass die Vertreter und Vertreterinnen der Leipziger Stadtgesellschaft im Stadtrat die Vorlage zur Gründung eines Beteiligungsrates „Gemeinwohl in Leipzig“ dazu nutzen würden, noch einmal ausführlich über ihre unterschiedlichen Vorstellungen von Gemeinwohl zu diskutieren? Erhellend war das schon, weil da so mancher Redner deutlich machte, dass ihn das Gemeinwohl der anderen nicht sonderlich interessiert. Aber genau darum geht es ja in diesem – befristeten – Projekt.
Die Fördergelder der sächsischen Staatsregierung sind gesichert, konnte Bürgermeisterin Vicky Felthaus noch einwerfen. Bei der Einbringung der Vorlage durch die Stadt war das noch nicht so klar.
Aber das Gefühl, dass sich da einige – insbesondere konservative – Stadträte übergangen fühlten, war durchaus gegenwärtig. Nur, dass es diesmal wirklich nicht um sie geht. Auch wenn Oberbürgermeister Burkhard Jung wieder deutlich darauf hinweisen durfte, dass die gewählten Stadträtinnen und Stadträte eigentlich das Gemeinwohl der ganzen Stadt im Sinn haben sollten.
Die Vorlage zum Beteiligungsrat „Gemeinwohl in Leipzig“.
Eine sehr schöne Ermahnung, die Burkhard Jung auch noch mit dem gedanklichen Ausflug in die zurückliegenden Jahrzehnte in Deutschland verband, in denen sich die im Grundgesetz verankerten Vorstellungen vom Gemeinwohl immer weiter individualisiert haben, wie immer mehr Bürger bei Gemeinwohl vor allem an „mein Wohl“ dachten und denken und den Staat wie einen Pizzadienst betrachten, der bitteschön zu liefern habe, wenn der Bürger bestellt.
Genau das, so Jung, müsste endlich wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden.
Und das wünscht er sich eigentlich auch vom „Beteiligungsrat Gemeinwohl“, der im zweiten Quartal 2023 eingerichtet werden soll, angeregt durch die Arbeit des Runden Tisches „Gemeinwohl in Leipzig“.
Gerade die politisch Unterrepräsentierten erreichen
„Ziel ist es, eine möglichst heterogene Gruppe von 60 bis 70 Teilnehmenden zur Beteiligung zu gewinnen (50 Erwachsene und 20 Kinder und Jugendliche)“, heißt es in der Vorlage. „Es gilt, insbesondere auch solche Menschen zu erreichen, die bei Beteiligungsverfahren bspw. aufgrund von mangelnden Ressourcen oder fehlendem Vertrauen in das demokratische System gemeinhin weniger präsent sind.
Zur Rekrutierung der Teilnehmenden kommen zwei Rekrutierungsformen zum Einsatz:
1. Das aufsuchende Losverfahren
2. Das direkte Aufsuchen politisch unterrepräsentierter Gruppen.“
Gerade über den letzten Punkt wurde dann am 20. April in der Ratsversammlung emsig hin und her diskutiert, weil über das, was „politisch unterrepräsentierte Gruppen“ sind, völlig unterschiedliche Ansichten bestehen.
Wobei die Kategorie Unterrepräsentation vor allem auf jene Bevölkerungsgruppen zielt, die in der Regel nicht im Stadtrat repräsentiert sind, weil sie entweder kein Wahlrecht haben oder aus anderen Gründen nicht zur Wahl gehen: „Zur Rekrutierung werden außerdem politisch unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen über ihre Selbstorganisation oder Organisationen, die mit ihnen arbeiten, direkt aufgesucht und zur Teilnahme eingeladen. Dabei handelt es sich um Zielgruppen, die über die Kategorien des Melderegisters nicht gezielt erreichbar sind, bspw. obdachlose Menschen, und politisch unterrepräsentiert sind.“
Denn der Gedanke, den der Runde Tisch ja dabei hatte, ist eben genau der: Dass der Stadtrat eben nur einen Teil der Stadtgesellschaft abbildet. Manche Bevölkerungsgruppen sind überrepräsentiert, andere gar nicht. Von den Berufen der Stadträtinnen und Stadträte ganz zu schweigen. Denn auch politische Arbeit kann man sich im Grunde nur leisten, wenn man entweder gut genug verdient oder jemand einem den Rücken frei hält.
Politik mit Barrieren
Welche Gründe viele Menschen daran hindern, sich politisch einzubringen, wird auch beim Passus zur Barrierefreiheit des Bürgerrats deutlich: „Der Gesamtprozess wird inklusiv und diversitätssensibel gestaltet. Dazu trägt bei der Rekrutierung das aufsuchende Losverfahren bei. Darüber hinaus werden durch Maßnahmen – wie z. B. Aufwandsentschädigung, Kinderbetreuung, Sprachmittlung – erleichterte Beteiligungsbedingungen geschaffen. Die Menschen werden außerdem gefragt, ob sie weitere Unterstützung benötigen, um möglichst gut an dem Prozess teilhaben zu können.“
Die Grünen hatten dann gleich noch ein Änderungspaket mit drei Antragspunkten geschrieben. Aber so detailliert wollte es die Stadtratsmehrheit dann doch nicht haben.
Sie stimmte nur dem Grünen-Antragspunkt zu, der da lautete: „Nach Abschluss des Beteiligungsrats ‚Gemeinwohl in Leipzig‘ wird aus den Empfehlungen der Teilnehmenden in Richtung Politik, Verwaltung und Stadtgesellschaft, koordiniert durch das Referat Demokratie, ein Empfehlungskatalog erstellt und durch die Vertretung des Beteiligungsrats in einer öffentlichen Sitzung des Stadtrates an den Oberbürgermeister und den Stadtrat übergeben.“
Ein konservatives „Nein“
Wobei es hier dieselbe Konstellation wie bei der Gesamtvorlage gab: Die konservativen Fraktionen lehnten ab, die progressiven stimmten zu. Womit auch schon im Abstimmungsergebnis deutlich wurde, wie recht Burkhard Jung hat, wenn er bezweifelt, dass zahlreiche Menschen tatsächlich noch ans Allgemeinwohl denken, wenn sie von Gemeinwohl reden.
Der Mehr Demokratie e. V. hatte im Vorfeld noch Kritik am genauen Prozedere geübt, insbesondere daran, dass die Umsetzung der Vorschläge aus dem Bürgerrat durch die Stadt nicht benannt wurde. Aber mit Jungs Worten im Ohr ist wahrscheinlich der wesentlichste Punkt, den der Bürgerrat jetzt klären sollte, was denn in einer Stadt wie Leipzig tatsächlich als Gemeinwohl verstanden werden sollte.
Was alles dazu zählt und damit – bitteschön – auch auf den Arbeitstisch von Verwaltung und Stadtrat gehört. Denn wenn Partikularinteressen Politik immer wieder in eine Richtung zu zerren versuchen, bleiben immer genau jene auf der Strecke, die in der Leipziger Politik keine Stimme haben und kaum mal Gehör finden.
Und das sind oft nicht nur kleine Außenseitergruppen.
Da jetzt mit den Stimmen von Linken, Grünen und SPD das „Ja“ zu diesem Beteiligungsrat vorliegt, kann man auf dessen Arbeitsergebnisse gespannt sein.
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