Es war ein langer Weg mit vielen Diskussionen im Leipziger Stadtrat, um das alte, vormundschaftliche Denken nach und nach aufzulösen, das bis ungefähr 2018 auch Politik und Verwaltung noch beherrschte, was den Umgang mit wohnungs- oder obdachlos gewordenen Menschen betraf. 2018 zeichnete sich mit dem Fachplan Wohnungsnotfallhilfe ein erstes Umsteuern an. Am 10. November gab es dann tatsächlich den Paradigmenwechsel. Und Prof. Thomas Fabian durfte ihn zum Abschied vorstellen.
Und das tat der scheidende Sozialbürgermeister gut gelaunt und auch sichtlich stolz. Denn zum Ende seiner Amtszeit als Sozialbürgermeister schafft er damit sogar eine kleine Revolution in einem Thema, in dem sich jahrelang scheinbar wenig bewegte und vieles nicht möglich schien.
Was auch am falschen Blick auf die scheinbar hilflosen Menschen lag, die ihre Wohnungen verloren haben und nun oft auf der Straße und in Obdachlosenunterkünften versuchen, über die Runden zu kommen.
Als wäre Obdachlosigkeit ein Zeichen persönlicher Schwäche und nicht das Ergebnis einer gnadenlosen Gesellschaft, die auch Wohnraum zur Ware macht und wenig Spielraum für persönliche und finanzielle Katastrophen lässt.
Es ist im Grunde dasselbe Denken, das auch heute noch den Umgang konservativer Parteien zum Beispiel mit Langzeitarbeitslosen und „Hartz IV“-Empfängern prägt. Paternalistisch ist er, vormundschaftlich und letztlich immer wieder entmündigend.
Den Betroffenen zuhören
Aber inzwischen haben auch die von Obdachlosigkeit Betroffenen im Leipziger Diskurs deutlich mehr Gehör bekommen, werden nicht nur als Opfer behandelt, sondern als Menschen, die sehr wohl souveräne Entscheidungen treffen können und in der Regel besser wissen als ihre „Vormünder“, was sie brauchen, was sie wünschen und was ihnen tatsächlich hilft.
Der Entscheidung in der Ratsversammlung zum „Fachplan Wohnungsnotfallhilfe 2023–2026“, liegt ein Paradigmenwechsel zugrunde, den die Grünen-Fraktion schon 2018 beantragt hat. Auch die Linksfraktion versuchte hier immer wieder Druck zu machen. Und entsprechend bekam Thomas Fabian in der Ratsversammlung sogar Lob von Linke-Stadträtin Juliane Nagel für das vorgelegte Papier.
Der Fachplan unterscheidet sich deutlich von den vorhergehenden Hilfeplänen. In seinen Inhalten und Maßnahmen verabschiedet sich der Plan von einer bevormundenden Fürsorge und wird zu einem Instrument der akzeptierenden und emanzipativen Sozialpolitik, so drücken es die Grünen aus, die trotzdem noch einmal ein dickes Paket von Änderungsanträgen zur Vorlage des Sozialdezernats geschrieben haben.
„Den Paradigmenwechsel des Fachplanes möchten wir ausdrücklich loben“, sagte Katharina Krefft, sozialpolitische Sprecherin der Fraktion und Mitglied in der Arbeitsgruppe Recht auf Wohnen.
„Mehr Wohnungen für das Housing-First-Konzept, ganztägige Öffnung von und mehr Barrierefreiheit in Übernachtungshäusern, Prävention und Qualität ausbauen, mit den Nutzer/-innen der Gemeinschaftsunterkünfte und Tagestreffs sprechen und viel mehr auf individuelle Bedürfnisse eingehen sind der richtige Weg.“
Kälteschutz für Frauen, Unterstützung für Ärzt/-innen, Angebote für EU-Bürger
Zu den Änderungen, die die Grünen-Fraktion über die Vorlage der Stadt hinaus gewünscht hatten, gehörte eine zusätzliche Stelle in der Abteilung Wohnungsnotfallhilfe, eine „kostenfreie Nutzung des ÖPNV für wohnungslose Menschen, um sie vor unbilligen Härten, insbesondere Ersatzfreiheitsstrafen wegen Fahrens ohne Fahrschein zu bewahren“, ein „Kälteschutz auch für Frauen, denn der bisherige ist lediglich im Übernachtungshaus für Männer angesiedelt.“
„Darüber hinaus wollen wir schützende Orte schaffen, wo insbesondere Menschen ohne Sozialleistungsanspruch vor Gefahren sicher schlafen können. Zunehmend schwindet Raum für Menschen ohne Obdach in der wachsenden Stadt – wir wollen daher feste Orte schaffen. Beispiele aus anderen Städten wollen wir dazu diskutieren“. So Katharina Krefft.
„Über die Gefahrenabwehr hinaus wollen wir neue Wohnungen schaffen, wo Menschen temporär mehr als eine Nacht unterkommen. Die Notschlafstellen sind dafür in der Regel nicht konzipiert. Wir wollen im Planzeitraum Clusterwohnstätten schaffen, wo Menschen längere Zeit bleiben, zur Ruhe kommen und sich organisieren können, unterstützt durch Sozialarbeit.“
Außerdem sollen die Beteiligten im Hilfesystem honoriert werden – konkret Ärzt/-innen, die sich am Projekt mobile medizinische Versorgung ehrenamtlich und bislang unentgeltlich beteiligen und sogar ihr eigenes Fahrzeug mitbringen.
„Gemeinsam mit der Linken beantragen wir außerdem, eine eigenständige aufsuchende Gesundheitsversorgung dauerhaft zu schaffen“, zählt Krefft auf.
„Gemeinsam wollen wir integrative Angebote für wohnungslose EU-Bürger/-innen aufsetzen und ihnen insbesondere auch eine kostenfreie Übernachtung gewähren. Darüber hinaus beantragen wir gemeinsam, das Konzept der Fallkonferenz für Hard to Reach-Personen im Fachplan zu implementieren“.
Mehrheiten auch für die Änderungsanträge
Und wer dachte, dass es dazu noch eine große Diskussion im Stadtrat geben würde, sah sich eines Besseren belehrt, auch wenn CDU-Stadtrat Karsten Albrecht wieder den großen Mahner spielte. Als wenn nun ausgerechnet ein gut ausgebautes Hilfeprogramm für Menschen, die von Wohnungs- und Obdachlosigkeit bedroht sind, den Leipziger Haushalt gefährden würde.
„Zusammenfassend müssen wir flexibel und viel konkreter auf individuelle Problemlagen eingehen“, ging Katharina Krefft auf den entscheidenden Punkt ein. „Auch obdachlose Menschen mit Pflegebedarf dürfen nicht vergessen werden. Außerdem müssen wir dringend aufhören, das Hilfesystem auszubeuten. Aus einem leeren Krug kann man nicht schöpfen. Hier müssen wir gezielt nachbessern.“
Die meisten Änderungsanträge übernahm die Verwaltung freilich ohne großen Kommentar in die eigene Vorlage oder machte Alternativvorschläge, die von den Grünen fast alle akzeptiert wurden. Sodass am Ende nur noch über wenige Änderungsanträge abgestimmt werden musste.
So etwa über einen Antragspunkt aus einem von Linken und Grünen gemeinsam gestellten Antrag: „Perspektiven für wohnungslose EU-Bürger/-innen: Die Stadt prüft ein integratives Projekt für die Zielgruppe von EU-Bürger/-innen. Dieses soll die Möglichkeit zur eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts und begleitendem Spracherwerb umfassen.“
Ein Punkt, der dann trotzdem mit 28:27 Stimmen eine knappe Mehrheit bekam.
Tatsächlich mehr Geld kosten wird ein anderer Änderungsantrag, den die Grünen-Fraktion eingebracht hatte: „Der East-Park, das Jahrtausendfeld und weitere selbstgenutzte Orte werden geöffnet oder mit Nutzungsvereinbarungen belegt und jeweils um ein wetterfestes Notangebot im Sinne der Gefahrenabwehr ausgestattet. Die Zusammenarbeit mit lokalen Akteur/-innen ist zu nutzen“, hatten die Grünen beantragt.
„Orte für Menschen ohne Obdach verschwinden in der wachsenden und sich verdichtenden Stadt Leipzig. Die Einrichtung eines neuen Parks in der Schulze-Delitzsch-Straße wurde beginnend mit der Errichtung eines Zaunes verschlossen. Das in Privateigentum befindliche Jahrtausendfeld wird regelmäßig beräumt. Doch diese Maßnahmen erschweren die Situation für Wohnungslose und helfen nicht bei der Lösung. Örtlich auffindbare Menschen sind besser für Straßensozialarbeit erreichbar, ihnen kann besser geholfen werden, wenn sie feste Orte haben, wo sie sein dürfen. Daher schlagen wir die Errichtung von einfachen ‚Wetterhäusern‘ mit Sanitärangebot vor.“
Hier bekam dann der Alternativvorschlag der Stadt, der sich noch nicht so konkret bindet, die nötige Mehrheit von 43:1 Stimmen bei acht Enthaltungen.
Es geht um mehr als nur ein paar Notschlafstellen
Dass man trotzdem aufs Geld achten müsse, betonte auch der Fraktionsvorsitzende der SPD-Fraktion, Christopher Zenker: „Alle Maßnahmen können aber nur im Rahmen des Möglichen geschehen: Der Wohnungsmarkt und die finanzielle Lage lassen eben nur einen gewissen Spielraum zu. Deshalb stimmen wir dem vorliegenden Fachplan zu.“
Er betonte auch: „Denn Wohnungsnotfallhilfe ist deutlich mehr als das Bereitstellen von Notschlafstellen. Der Fachplan Wohnungsnotfallhilfe enthält präventive Maßnahmen, ebenso wie Angebote zur Notversorgung, darunter die Notunterbringung, die aber eben nur ein Baustein ist und auch Maßnahmen zur Nachsorge. Man merkt diesem Fachplan auch an, dass er mit den Akteuren bis hin zu direkt Betroffenen erstellt wurde. Der herausstechende Erfolg des letzten Fachplans ist sicher das Projekt ‚Eigene Wohnung‘ zur Erprobung des Housing-First-Ansatzes, bei dem der Hilfeansatz zunächst tatsächlich über die Wohnung erfolgen soll und anschließend die anderen Bedarfe/Probleme angegangen werden.“
Und er würdigte, wie sich der neue Fachplan gerade durch die Einbindung der verschiedenen Akteure zu einem wirklich hilfreichen Projekt entwickelt hat:
„Die vorgelegten Maßnahmen versuchen von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen – immer mehr Familien und junge Menschen gehören inzwischen leider zu dieser Gruppe – noch frühzeitiger zu erreichen, bei der Notversorgung und Krisenintervention noch differenzierter auf die Bedürfnisse einzelner Gruppen einzugehen und bei der Nachsorge mehr Möglichkeiten zu schaffen für die dauerhafte Wiedereingliederung der nun nicht mehr obdachlosen Menschen. Zudem sollen alle Betroffenen – Stichwort Qualitätssicherung – regelmäßig die Möglichkeit haben, in ihren Belangen und Sorgen gehört zu werden.“
Der richtige Zeitpunkt
Und es könnte gerade der richtige Zeitpunkt sein, den neuen Fachplan jetzt zu beschließen.
Denn, so Zenker: „Es ist leider davon auszugehen, dass drohende bzw. Wohnungslosigkeit ein Problem ist, was zunimmt, da Mieten weiter steigen, parallel die sogenannte zweite Miete – Nebenkosten – und der Zuzug und damit die Konkurrenz um Wohnraum weiter anhält. Wir sind daher froh, dass wir um Frau Kador-Probst und Herrn Hübner so ein starkes Team haben, was auch immer für neue Ideen und Ansätze offen ist. Sei es die ganztägige Öffnung von Einrichtungen oder wie bereits umgesetzt der Housing-First Ansatz oder Angebote für Obdachlose mit Tieren.“
Und die Stadtratsmehrheit steht hinter dem Paradigmenwechsel. Nur neun Stadträtinnen und Stadträte enthielten sich am Ende der Stimme, 45 stimmten dem Fachplan mit den übernommenen Änderungen zu.
Und damit ist Leipzig einen großen Schritt weiter bei der Erfüllung der „Lissabonner Erklärung“, wie auch Thomas Fabian betont: „Mit der Unterzeichnung der ‚Erklärung von Lissabon zur Europäischen Plattform zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit‘ arbeitet die Bundesrepublik Deutschland daran, bis 2030 Obdachlosigkeit zu beenden. Das ist auch ein Ziel der Stadt Leipzig. Denn niemand soll auf der Straße schlafen oder zu lange in Notunterkünften leben müssen.“
Keine Kommentare bisher