Turbulent darf man die Vorgänge rings um die Bürgermeister/-innen-Wahl von Frau Dr. Martina Münch schon jetzt nennen. Am 14. September 2022 hatte es für die ehemalige Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur im Land Brandenburg nicht gereicht, ihre Wahl scheiterte knapp. Schon das ein Novum, welchem OB Burkhard Jung mit einem weiteren Novum entgegnete: heute die Wahl im Stadtrat einfach noch einmal zu machen.
Eine Entscheidung mit gleich mehreren Folgen. Folge eins: Die Fraktion der B90 / Die Grünen wurden beschuldigt, ein falsches Spiel gespielt und auch noch mit der AfD gemeinsam gegen die Kandidatin der SPD gestimmt zu haben. Mehrfach erklären seither die Grünen und zuletzt Fraktionschef Tobias Peter auch gegenüber LZ und öffentlich, sie hätten bereits in der Findungsphase ihre Bedenken geäußert, stünden also schon lange nicht hinter der Personalie Münch.
Gleichzeitig stand die nicht nur theoretische Frage im Raum, wieso dann nicht eine einfache Mehrheit (36 Stimmen) von Linken (17), CDU (13) und SPD (9), also aus hier bereits 39 möglichen Stimmen für die Kandidatin entstand. Selbst ohne die Freibeuter-Fraktion (4), aus welcher man zumindest drei weitere Ja-Stimmen vermuten darf, hätte man eine neue Sozialdezernentin gewählt, die Grünen und auch die AfD wären unwichtig gewesen.
Schon hier war also klar: auch in den Fraktionen, die gemeinsam bei voller Anwesenheit über 43 Stimmen verfügen, kamen die 36 Stimmen nicht, weil es offenkundig auch hier Bedenken gab.
Besetzung first, Bedenken second
Mag sich OB Jung gedacht haben und setzte eine zweite Wahl für heute an. Was zu einer Flut an internen Debatten in den Fraktionen und in der Belegschaft des Sozialdezernates führte. Und einen anonymen Offenen Brief aus der Belegschaft der Verwaltung gebar, der seither von einigen bejubelt, von anderen vehement als unseriös bekämpft wird.
Das „Problem“ der Anonymität des ersten Schreibens, welches die LZ auch veröffentlichte, wurde jedoch von einer Reihe an Vorwürfen gedeckt, die schon lange bekannt sind. Dass nach den Jahren des stetigen Wachstums Leipzigs auch das finanziell größte Dezernat der Stadt ächzte und stöhnte, Personalmangel erlebte und somit wohl auch Frust über die eigenen Arbeitsbedingungen besteht, konnte man wissen. Dass es nicht nur das Sozialdezernat betraf, auch.
Schon zur Oberbürgermeisterwahl im Frühjahr 2020 geisterte durchs Leipziger Rathaus, dass es wohl eine steigende Zahl von Sebastian Gemkow-Sympathisanten gäbe. Und nicht nur einmal musste Verwaltungsbürgermeister Ulrich Hörning einräumen, dass die Krankenstandszahlen in Verwaltung und angeschlossener Eigenbetriebe nicht gerade niedrig sei.
Nicht grundlos wurden auch Aufgaben des überlasteten Sozialdezernates von Thomas Fabian weg auf ein neu geschaffenes Dezernat unter Bürgermeisterin Vicki Felthaus (Grüne) übertragen und längst sucht nicht nur die Privatwirtschaft händeringend neues Personal. Der Personalmangel und die damit einhergehenden Überstunden hat längst auch die nicht zwingend schlecht bezahlten Arbeitsstellen der Verwaltung erreicht: Überstunden und Mehrbelastung für die Beschäftigten inklusive.
Es stehen also ausreichend neue Herausforderungen vor einer neuen Sozialdezernentin und Martina Münch machte nach Aussagen, welche die LZ erreichten, nicht unbedingt den Eindruck, sich dessen bewusst und innovativ annehmen zu wollen.
Dagegen stünde ihre Erfahrung im Umgang mit Verwaltungen aus ihrer Zeit als Ministerin. Im Gesamtpaket gesehen, lagen also offenkundig Gründe vor, die am 14. September 2022 zu einer Nichtwahl von Frau Münch führten.
Ein weiterer Offener Brief
Während man bei Brief Nummer 1 vom 10. Oktober 2022 nicht genau wissen sollte, wer und wie viel ihn schrieben, gibt es nun seit dem gestrigen Abend einen weiteren, von Verwaltungsmitarbeiter/-innen unterzeichneten Offenen Brief. In diesem nun wird eher Sorge darüber geäußert, welchen Eindruck wohl die erneute Nichtwahl von Frau Münch hinterließe. Die besondere Situation ihres Amtsantrittes wird hingegen negiert, der Hinweis auf ihre möglicherweise nur einmalige Amtszeit als Altersdiskriminierung zurückgewiesen.
Unterschrieben und damit anders beglaubigt, als der anonyme Brief, dessen Schreiberinnen mit dem Problem zu tun hatten, eventuell später namentlich bekannt unter ihrer neuen Chefin arbeiten oder nicht mehr arbeiten zu dürfen, betont dieser nun die fachliche Kompetenz der Bewerberin, da sie die Findungskommission überzeugt habe.
Livebericht: Die Wahl
Die AfD beantragt die Absetzung der Wahl. Christian Kriegel (AfD) beantragt für seine Fraktion, die nun nach gerade einmal vier Wochen wiederholte Ansetzung der Wahl abzusetzen. Sven Morlok (FDP, Freibeuter) entgegnet, dass es sich hierbei um einen normalen demokratischen Vorgang handele, der auch rechtlich nicht zu beanstanden ist.
In einer Abstimmung dazu lehnt der Rat den AfD-Absetzungsantrag der Wahl mit 11 Ja- zu 47 Nein-Stimmen zu 1 (Enthaltung) ab.
Bevor es zur neuen Wahl kommt, ist ein anderer wichtiger Schritt in der heutigen Sitzung geplant. Channa Gildoni soll für Ihre Verdienste nach 190 Jahren als erste Frau überhaupt die Ehrenbürger/-innen-Würde der Stadt Leipzig erhalten. Dazu wird ein Film zum Leben der jüdischen Leipzigerin gezeigt, über ihr Leben und Wirken haben wir hier bereits berichtet.
Die Würde wird Frau Gildoni soeben einstimmig verliehen, Leipzig hat damit seine erste Ehrenbürgerin überhaupt. Da Frau Gildoni selbst nicht anwesend sein kann, bittet Burkhard Jung darum, sie umgehend anzurufen und über die Abstimmung zu informieren.
14:45 Uhr: Nun geht es zur Wahl
Diese sei rechtlich keine Fortsetzung der Wahl vom 14.09. so Burkhard Jung, sondern eine neue Wahlansetzung. Anwesend sind 61 Stadträt/-innen mit Stimmrecht. Bevor es zur Wahl kommt, ergreift nochmals die AfD mit Siegbert Droese das Wort.
Er erklärt überraschend seine eigene Kandidatur für die Position der neuen Dezernentin für Soziales, Gesundheit und Vielfalt.
Anschließend korrigiert Burkhard Jung die Stimmenanzahl von 63 in dieser geheimen Wahl und erklärt die Befangenheit von Siegbert Droese. Dieser könne nicht selbst an der Wahl teilnehmen, weshalb nunmehr nur noch 62 Stadträt/-innen ihre Stimme abgeben werden.
Der Wahlvorgang hat begonnen, bei welchem in extra vorbereiteten Räumen außerhalb des Saales abgestimmt wird.
15:05 Uhr: Während des ersten Wahlgangs
Während die Wahl läuft, stellt sich natürlich die Frage, ob die AfD eventuell mehr vorhat, als durch die Eigennominierung von Droese die Kandidatin Münch abzuwerten. In seiner Kurzbewerbung hatte der gelernte Hotelkaufmann betont, nicht minder für die Bürgermeister-Position geeignet zu sein, als die Medizinerin und Ex-Ministerin Martina Münch.
Gleichzeitig liegt natürlich hinter der Bewerbung auch das Signal, dass die AfD eigentlich mit 11 Sitzen im Rat eine Bürgermeisterposition beansprucht. Zu diesem Anspruch hat sich jedoch bereits Jung vor langer Zeit positioniert: bei einer solchen (unwahrscheinlichen) Wahl würde er sein persönliches Veto einlegen.
Die Stadträt/-innen kehren vom ersten Wahlvorgang in den Ratssaal zurück. Erwartet wird, dass so oder so ein zweiter fällig wird, weil dann die einfache Mehrheit genügt. Bei diesem könnte die AfD auch für Kandidatin Münch stimmen, um sich anschließend darüber zu belustigen, sie ins Amt gehoben zu haben. Dass der Partei bei solchen Vorgängen manches egal ist, hat sie bei der Wahl Thomas Kemmerichs 2020 zum Ministerpräsidenten Thüringens hinlänglich bewiesen.
Aus dem Rat erreicht uns die Meldung, Burkhard Jung habe gegenüber Stadträten geäußert, wem keiner der Kandidat/-innen passe, der könne ja ungültig stimmen, also seine Stimme entwerten. Interessante Idee: So erhalten die Ja-Stimmen mehr Gewicht, wenn statt Nein eine Ungültigkeit der Stimme gewählt, also diese nicht gezählt wird.
Der „Trick“ hat funktioniert
Wenn es also einen „Trick“ gab, dann war es also dieser. Die Wahl ist entschieden, Dr. Martina Münch ist gewählt. Geschuldet ist es auch den ungültigen Stimmen. Davon gab es 7, bei 32 Stimmen für Münch bei 13 Enthaltungen und 10 Stimmen für Siegbert Droese.
Damit erhält also auch die AfD keine Chance für ein Spielchen in Runde 2, bereits im ersten Wahlgang ist nun die Kandidatin zur Bürgermeisterin geworden.
In einer kurzen Danksagung zur Wahl betont Martina Münch, dass es auch für sie sehr spannend war. Doch sie sei Langstreckenläuferin und würde nun gern mit allen Fraktionen und der Verwaltung gemeinsam die anstehenden Aufgaben gestalten. Damit versucht die frisch gebackene Sozialdezernentin auch jenen den Wind aus den Segeln zu nehmen, welche im Vorfeld anonym auf ihre einmalige Amtszeit jetzigen neuen Chefin hinwiesen.
Siegbert Droese ergreift noch einmal das Wort, um das selbst geschaffene Podium zu nutzen. Ihm ist wichtig zu betonen, dass er nach eigener Zählung mehr Stimmen erhalten habe, als von seiner AfD-Fraktion Stadträt/-innen anwesend gewesen seien.
Auf Nachfrage Christian Kriegels (AfD) erklärt Burkhard Jung nochmals, dass die Nichtteilnahme Dröses an der Wahl rechtsgültig sei, da er hier für einen persönlichen Vorteil für sich selbst hätte stimmen können.
Auftritt Ulrich Hörning (SPD): Man erklärt „Belegschaft“ und „politische Setzung“
Auf Bitte Burkhard Jungs, man sei der „Sache nachgegangen“, solle Verwaltungsdezernent Ulrich Hörning mal erklären, was „Belegschaft“ ist. Das anonyme Schreiben sei „politisch gesetzt“ gewesen, so Hörning. Aus der Personalvertretung heraus haben sich für ihn keine Anhaltspunkte ergeben, dass hier derartige Beschwerden gegen Frau Martina Münch vorgelegen hätten.
Damit erklärt Hörning praktisch einerseits, dass ihm weiterhin unklar ist, woher das Schreiben kam. Andererseits ist für ihn offenbar die Personalvertretung das Gremium, bei welchem sich solche fundamentale Kritik an den Arbeitsbedingungen und der Zukunft in der Verwaltung Bahn brechen solle.
Mit dieser Argumentation kann man auch jede Information, die von „Wistleblowern“ stammt, für null und nichtig erklären. Und gleichzeitig jedes existierende Problem leugnen. Ob also die „politische Setzung“, die hier gleichzeitig all jene ins Auge fasst, die bei der ersten Abstimmung am 14. September mit Nein stimmten, zutrifft, ist gleichfalls unbewiesen.
Der demokratische Kompromiss heute zu widersprechen, lautete also für 20 Stadrät/-innen, die Stimme ungültig zu machen oder Enthaltung anzukreuzen, während Linke, CDU und SPD dieses Mal ihre Reihen geschlossen halten konnten und auf 32 Stimmen kamen. Die sieben ungültigen Stimmen senkten die Gesamtzahl der gültigen Stimmen auf 55 ab, womit dies inklusive der zum Ankreuzen möglichen Enthaltungen für ein sicheres Ergebnis genügte.
Ein „Nein“ war auf dem der LZ vorliegenden Wahlzettel nicht vorgesehen, was neben der AfD auch einige Grüne wunderte.
Richtig ist auch, dass die 32 Stimmen auch so genügt hätten.
Ich kam mir noch nie so verarscht vor wie in diesem Moment. #srle
— Martin Meißner (@DDReudnitz) October 12, 2022
Hinweis der Redaktion: Einen ähnlichen Verlauf hatte es auch bei der Dezernentenwahl von Torsten Bonew (Finanzbürgermeister) gegeben. Insofern ist das Novum in der Einleitung nicht korrekt, es ist die zweite Wahl, welche erneut neu angesetzt wurde.
Keine Kommentare bisher