Der Eindruck wird immer stärker, dass mit unserer Gesellschaft etwas nicht stimmt. Und zwar gewaltig nicht stimmt. Das wurde deutlich, als am Mittwoch, 18. Mai, die Grünen-Stadträtin Sophia Kraft ans Rednerpult ging und ihre letzte Rede hielt. Ihre letzte Rede als Stadträtin in dieser Legislatur, denn ihr Mandat gab sie an diesem Tag schweren Herzens ab.
Doch überdeutlich wurde schon in den vergangene zwei Jahren, dass Stadtratsarbeit in Leipzig schon lange die Dimensionen eines normalen Ehrenamtes sprengt. Die an Stadtpolitik Interessierten haben es mitbekommen an der wachsenden Zahl von Ratsversammlungen.
In immer mehr Monaten müssen aufgrund der Fülle der Vorlagen und Anträge zwei, in Extrem-Monaten sogar drei Ratsversammlungen stattfinden. Etwas, was gerade die CDU-Fraktion gern kritisiert und auf die Antragsfreude der anderen Fraktionen schiebt. Gern verbunden mit der Aufforderung, weniger Anträge zu stellen.
Doch da verkennt die CDU-Fraktion die Entwicklung, die Leipzig auch mit seinem starken Bevölkerungswachstum genommen hat. Die Stadt ist längst in einer Größenordnung angekommen, in der andere Stadtparlamente semiprofessionell oder gar in Vollzeit arbeiten, weil die Fülle der Aufgaben anders nicht zu bewältigen ist.
In Leipzig hat es auch längst die Ausschusssitzungen gesprengt, sodass viele Grundsatzdiskussionen bis in die Ratsversammlung schwappen. Immer mehr Sonderausschüsse und beratende Begleitgremien flankieren die Arbeit eines Stadtparlaments, das noch immer verbissen versucht, irgendwie ehrenamtlich zu funktionieren, während fast alle Stadträt/-innen noch einem normalen Beruf nachgehen.
Wenn Beruf, Familie und Ehrenamt zu viel werden
Und so war es auch keine Überraschung, als Sophia Kraft feststellte, dass Leipzigs Ratsversammlung die Leipziger Stadtgesellschaft nicht ansatzweise 1:1 abbildet. Da denkt man zwar zuerst an die Leipziger/-innen mit Migrationshintergrund, die in diesem Gremium völlig unterrepräsentiert sind.
Aber es betrifft auch, wie Sophia Kraft feststellte, Frauen mit Kindern. Was ja auch der Grund ist dafür, dass sie ihr Mandat jetzt aufgibt, denn Beruf, Familie und Ehrenamt bekommt sie so nicht mehr unter einen Hut. Dass jungen Müttern die vergangenen zwei Jahre sogar besonders hart gemacht wurden, wissen alle, die monatelang mit geschlossenen Kindertagesstätten und Schulen konfrontiert waren.
Die bundesdeutsche Politik hat die Bewältigung der Krise ziemlich gedankenlos genau bei denen abgeladen, die eh schon doppelte Last zu bewältigen haben: den jungen Familien.
Und das ist symptomatisch und erklärt, warum Frauen mit der Familiengründung fast alle ihre Karrierechancen verlieren, Gehalt einbüßen und auch in der Politik ganz schlechte Karten haben. Wobei es in der Politik nicht nur um Ämter und Mandate geht. Davon solle man sich sowieso nicht beherrschen lassen, betonte Sophia Kraft in ihrer Rede. Aber es geht um Inhalte.
Wer nicht repräsentiert ist, wird vergessen
Denn die Besetzung einer Ratsversammlung möglichst spiegelbildlich zur Zusammensetzung der Stadtgesellschaft hat ja einen Sinn: Hier sollen alle Interessen und Lebenslagen vertreten sein und an der Entscheidungsfindung mitwirken. Wenn das nicht der Fall ist, fallen die Interessen der Nicht-Vertretenen einfach unter den Tisch und keiner merkt es.
Übrigens auch so ein Aspekt in der Quotendebatte, den die Verteidiger des alten Proporzes einfach nicht begreifen: Dass die, die nicht vertreten sind, ihre Interessen auch nicht vertreten können. Ihre Themen fallen unter den Tisch.
Und das hat die deutsche Familienpolitik seit Jahrzehnten schon zur Zumutung gemacht. Was dann auch ein Grund ist für die völlig aus dem Ruder gelaufene demografische Entwicklung, dafür, dass Frauen immer später ihren Kinderwunsch erfüllen, Familien in viel zu kleinen Wohnungen leben und überbezahlte Männer nicht mal begreifen, welche Zumutung ihre Politik für junge Familien ist.
In der Leipziger Stadtratsarbeit muss sich was ändern
Das klang nur indirekt an in Sophia Krafts Rede, die an OBM Burkhard Jung appelliert, die Familienverträglichkeit der Stadtratsarbeit endlich zu verbessern. Anträge gab es in der Vergangenheit genug. Geändert hat sich nur Marginales.
Wenn Leipzig da keine wirklich belastbare Lösung findet, wird die Ratsversammlung immer wieder gerade die jungen, engagierten Frauen verlieren, denen letztlich gar nichts anderes übrig bleibt, als die Grenzen ihrer Belastbarkeit zu akzeptieren und das Mandat niederzulegen.
Burkhard Jung zeigte sich nach dieser tatsächlich beherzten Rede sogar betroffen und einsichtig. Die Frage, die Sophia Kraft hier aufgeworfen hat, braucht eine Lösung. Die Stadtratsarbeit muss sich dringend ändern, damit nicht nur diejenigen dort mitarbeiten, die die Familienarbeit an andere abgeben können.
Denn die Sitzungen kosten nicht nur einen Abend in der Woche, sondern mehrere – und wenn man so engagiert an einem richtig großen Thema arbeitet wie Sophia Kraft, dann noch viel mehr. Und die Leipziger Energiewende war nun einmal in den vergangenen drei Jahren ihr Feld, auf dem sie geackert hat.
Verabschiedet wurde an diesem Tag auch Thomas Köhler, der für die Piraten drei Jahre lang Kommunalpolitik machen konnte. Er muss aus gesundheitlichen Gründen aufhören.
Es gibt 2 Kommentare
Tja, für Frauen gilt eben nach wie vor oft: entweder, oder. Die Verteilung der Sorgearbeit mag mitunter eine private Entscheidung sein (bei z.B. den zahlreichen Alleinerziehenden ist sie das sicher nicht), aber die Binsenweisheit, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind aufzuziehen – mithin die Kinderbetreuung auch eine gesellschaftliche Aufgabe ist – gilt trotzdem. So lange das nicht zufriedenstellend gelöst ist, sind Eltern nicht-erwachsener Kinder – faktisch derzeit vor allem Mütter – auch in Gremien wie dem Stadtrat eher unterrepräsentiert, denn die Sorge für die Familie und der Broterwerb haben verständlicherweise höhere Priorität. Und so lange sie unterrepräsentiert sind, wird die zufriedenstellende Unterstützung in Eltern-spezifischen Lebenslagen durch die Gemeinschaft eben, wenn überhaupt, nur schleppend umgesetzt. Dabei ist das Großziehen von Kindern ja nun keineswegs eine vernachlässigbare gesellschaftliche Randerscheinung, auch wenn das manche politische Entscheider mitunter aus dem Blick verlieren. Angesichts dieser Umstände, wie auch angesichts vieler anderer in politischen Gremien wenig vertretener gesellschaftlicher Gruppen, leuchtet es mir kaum ein, dass unsere Demokratie tatsächlich eine “repräsentative” sein soll.
“Wenn Beruf, Familie und Ehrenamt zu viel werden”, sind es wie so oft Frauen mit emanzipierten Wertevorstellungen und Moral, die uns zeigen wie die Prioritäten des eigen Handelns mit Vernunft zu zu setzen sind: Erst die Familie, dann der Handel mit Emission-Zertifikaten, dann ne Weile Nüscht, und dann das Ehrenamt. Danke Frau Kraft und viel Erfolg im weiteren beruflichen Werdegang!