Auch bei der Diskussion um das Leipziger Freiheitsdenkmal wird meist nur auf einen Tag fokussiert: den 9. Oktober 1989. Und dabei wird gern vergessen, dass die Friedliche Revolution einen langen Vorlauf hatte und ihren Ursprung in der Friedensdekade der evangelischen Kirche in der DDR hatte. So kamen nรคmlich auch die ersten Kerzen ins Spiel.
Demokratie gibt es nicht zum Nulltarif
Darin erinnert ein Antrag von Linke-Stadtrรคtin Mandy Gehrt und Thomas Kumbernuร (Die Partei), der am 15. Mรคrz im Stadtrat Thema wurde. Es war eher Zufall, dass es parallel zur Ukraine-Vorlage war, mit der der Stadtrat die 9-Millionen-Euro-Unterstรผtzuung fรผr die Ukraine-Hilfe absegnete. Aber thematisch geht es um den gleichen Komplex โ hier ein autokratisches Regime, das anderen mit Gewalt seinen Willen aufzwingt, dort der Mut der Menschen, sich gegen Bevormundung und Unterdrรผckung aufzulehnen. Und das zumeist schutzlos mit Einsatz ihrer Freiheit oder gar ihres Lebens.
Was viele leider nur zu gern vergessen, die die Demokratie fรผr etwas Selbstverstรคndliches halten. Aber Demokratie gibt es nicht ohne den Mut der Wehrlosen, derer, die auch fรผr symbolische Akte wie eine Kerzendemonstration zum Dokfilm-Festival ihre Unversehrtheit und Freiheit riskieren.
Mandy Gehrt und Thomas Kumbernuร war sehr wohl bewusst, dass die Kette der Ereignisse, die ihren Hรถhepunkt im Herbst 1989 fanden, den meisten Leipziger/-innen gar nicht bekannt ist.
1983: DDR-Volkspolizei mit voller Hรคrte gegen Leipziger Friedensaktivisten
โNach Abschluss der Friedensdekade der evangelischen Kirche (6. bis 16. November 1983) wurde am 18. November 1983 die Internationalen Dokumentar- und Kurzfilmwoche erรถffnet. Nachdem bereits wรคhrend der Friedensdekade Dutzende Jugendliche mit Kerzen auf dem Markt, vor dem Bachdenkmal und am Gedenkstein der ehemaligen jรผdischen Synagoge in der Gottschedstraรe ihrer Forderung nach Abrรผstung und Frieden Ausdruck verliehen, eskalierte die Situation an diesem Freitag.
Dutzende meist junge Menschen versammelten sich vor dem damaligen Kino โCapitolโ mit Kerzen und lila Tรผchern, dem Symbol der unabhรคngigen Friedensbewegung. In nicht fรผr mรถglich gehaltener Hรคrte ging die Polizei gegen die Demonstrierenden vor und verhaftete sie. Gegen acht von ihnen wurde ein Verfahren eingeleitet und sieben verurteilte man wegen โZusammenrottungโ zu z. T. hohen Haftstrafen von bis zu zwei Jahrenโ, erinnern sie in ihrem Antrag an diese mutige Aktion.
Wie der Mut der Wenigen das Aufstehen gegen das Regime befeuerte
โDiese Demonstration und das brutale Eingreifen der Staatsmacht bildete eine Zรคsur in der Geschichte der oppositionellen Bewegungen in den 1980er Jahren in Leipzig. Durch die mediale Aufmerksamkeit der internationalen Gรคste konnte die SED diese Aktion nicht vertuschen. Viele der damals Beteiligten wurden zur Ausreise in den Westen gedrรคngt.
Es folgte eine Zeit der Apathie, bis sich Mitte der 1980er Jahre verschiedene Oppositionsgruppen konstituierten. Im kollektiven Gedรคchtnis der oppositionellen Szene bildete die โKerzendemoโ ein Meilenstein in ihrem Selbstverstรคndnis nach Mitsprache und selbstbestimmten Rรคumen.
Dieser Antrag soll an die couragierten Menschen erinnern, die sich damals gegen das System stellten. Der Mut der Wenigen befรถrderte eine Dynamik massenhaften Aufbegehrens. Es soll an die lange Vorgeschichte der Ereignisse vom Herbst 1989 in Leipzig erinnert werden.โ
Die AfD hat ihre eigene Sicht
Was diese mutige Aktion von 1983 mit den Ereignissen heute in der Ukraine und Russland zu tun hat, betonte in der Diskussion auch SPD-Stadtrat Christian Schulze, der zu jenen Stadtrรคten gehรถrt, die sich in der Leipziger Bรผrgerbewegung engagiert haben. Und die es auch nach 1989 als politische Verpflichtung betrachteten, sich gesellschaftlich einzubringen. Denn natรผrlich ist Demokratie eine Herausforderung und ein hartes Stรผck Arbeit und selten so eindeutig, wie das rigide Vorgehen eines autoritรคren Staates, der seine Bรผrger entmรผndigt.
Da wirkte es schon sehr seltsam, dass dann auch noch AfD-Stadtrat Udo Bรผtow meinte, sein Engagement beim Kirchentag 1989 betonen zu mรผssen und gleichzeitig zu verkรผnden, dass er sich von der Politik der demokratischen Parteien nicht vertreten fรผhlte. Vielleicht als Retourkutsche, denn dass die AfD vom Verfassungsschutz als Gefahr fรผr die Demokratie beobachtet wird, hatte Thomas Kumbernuร erwรคhnt. Genauso, wie er die falsche Einvernahme der Friedlichen Revolution durch die rechtspopulistische Partei kritisch anmerkte.
Was noch viel deutlicher macht, dass sich Leipzig viel stรคrker mit der Vorgeschichte der Friedlichen Revolution beschรคftigen muss und mit dem Bรผrgermut, der notwendig war, um einem autoritรคren System tatsรคchlich die Stirn zu bieten und fรผr einen mutigen Kerzen-Protest mit langen Haftstrafen rechnen zu mรผssen. So gehen russische Instanzen auch heute wieder gegen jeden Protest gegen den Krieg Putins in der Ukraine vor.
Veranstaltungsreihe ab November 2023 geplant
โUm an die Ereignisse in den 1980ern im Vorfeld der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 zu erinnern, wird ein Konzept fรผr eine Veranstaltungsreihe vom 18. November 2023, dem 40. Jahrestag der Kerzendemonstration, bis zum 9. Oktober 2024 entwickelt. Die Veranstaltungen sollen sich an ein breites Publikum richten. Deshalb werden neben รถffentlichen Veranstaltungen auch Formate fรผr Bildungseinrichtungen entwickeltโ, hatten Mandy Gehrt und Thomas Kumbernuร beantragt.
Vom Kulturamt gab es dafรผr Zustimmung โ nur mehr Geld, als im Haushalt eingestellt, soll es dafรผr nicht geben.
Aber dieser Verwaltungsstandpunkt stand dann nicht zur Debatte, sondern der neu gefasste Antrag von Gehrt und Kumbernuร, der sowieso schon auf die Finanzierung aus Mitteln des Themenjahres 2024 โKunst im Gebrauch/Leipzig โ Stadt der Friedlichen Revolutionโ verwies.
Am Ende gab es fรผr die Vorlage zwar einige Enthaltungen in der Abstimmung, aber nur eine Gegenstimme. Das Kulturamt hat jetzt also einen Arbeitsauftrag.
Die Debatte vom 15. Mรคrz
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