„Und drittens, Herr Droese, ich kann nicht akzeptieren, dass Sie die Situation heute in einer demokratischen Gesellschaft mit den Protesten von '89 auch nur in Verbindung bringen.“ Das sagte Oberbürgermeister Burkhard Jung am 9. Februar, als AfD-Stadtrat Siegbert Droese noch einmal versuchte, eine Anfrage seiner Fraktion zu den sogenannten „Spaziergängen“ öffentlich zu machen. Dazu bietet die Nachfragemöglichkeit im Stadtrat natürlich Gelegenheit. Aber Burkhard Jung parierte mit sehr präziser Klinge.

Denn beantwortet hatte sein Büro die Fragen der AfD-Fraktion schon schriftlich. Fragen, die jedes Kind dem Märchen vom „Wolf und den sieben Geißlein“ zuordnen würde. Hier versucht eine sehr rechte Partei schlichtweg, die zunehmend aggressiveren „Spaziergänge“ von „Querdenkern“ und „Impfverweigerern“ in die Tradition der Montagsdemonstrationen von 1989 zu stellen.Das klingt dann so: „Sehen der Oberbürgermeister und die Stadtverwaltung die Zunahme der Anzahl der friedlichen Spaziergänger und die Regelmäßigkeit als Ausdruck von lebendiger Demokratie in Leipzig, gerade mit Blick auf das Vermächtnis der friedlichen Montagsdemonstrationen des Jahres 1989?“

Ein Recht zur freien Meinungsäußerung auf Demonstration haben alle Bürger der Bundesrepublik. Das muss eigentlich nicht extra bestätigt werden.

„Eine lebendige Demokratie äußert sich fortlaufend in Wahlen, Stadtratssitzungen sowie in zahlreichen Vereinen, Elternräten oder auch bei Demonstrationen der verschiedenen Bünd­nisse in den vergangenen Wochen“, ließ der OBM schriftlich antworten.

Machte dann aber auch deutlich, wo die Grenze ist: „In Anbetracht von regelmäßigen Gewaltausbrüchen durch Teilnehmende der coronakriti­schen Versammlungen kann jedoch nicht von friedlichen Spaziergängen gesprochen wer­den. Erst kürzlich am 29.01.2022 kam es zu Ausschreitungen. Zudem warnt das Sächsische Landesamt für Verfassungsschutz vor einer zunehmenden Radikalisierung und einer Verein­nahmung durch rechtsextreme Gruppen. Ein Vergleich mit den friedlichen Montagsdemonstrationen ist unlauter.“

Und nur zur Erinnerung: 1989 wurde nicht nur skandiert „Wir sind das Volk!“, sondern auch „Keine Gewalt!“ Davon kann bei den heutigen „Spaziergängen“ schlicht keine Rede sein. Schon gar nicht, wie Jung anmerkt, wenn namhafte Rechtsradikale mitmarschieren und die Aggressionsbereitschaft bei diesen Demonstrationen erhöhen.

Und auch die zweite Frage der AfD-Fraktion klang wie das Kreide-Gezwitscher des Wolfs aus dem Märchen: „Respektieren der Oberbürgermeister und die Stadtverwaltung die Anliegen der friedlichen Spaziergänger (u. a. die Sorge um die Einführung einer bundesweiten Impfpflicht)?“

„Die Stadtverwaltung wird bei Demonstrationen als Versammlungsbehörde tätig. Hierbei ist sie an geltendes Recht gebunden. Der Oberbürgermeister äußert sich regelmäßig zum aktuellen Pandemiegeschehen und zu den geltenden Corona-Maßnahmen, dies muss an dieser Stelle nicht wiederholt werden“, lautete die Antwort.

Die Burkhard Jung am 9. Februar noch erweiterte, denn natürlich respektiere die Stadt das Recht der Bürger, sich auf Demonstrationen frei zu äußern. Dieses Recht ist auch nirgendwo beschnitten worden.

Die Frage zielte also auf etwas, was so schlicht nicht erlebbar war.

Und auch Frage drei gehört in die Kreidekategorie – was Siegbert Droese mit seiner Nachfrage noch deutlicher machte, in der er schlichtweg suggerierte, die „Spaziergänge“ könnten genauso gravierende gesellschaftliche Umwälzungen bewirken wie die Montagsdemonstrationen von 1989. Da wird es nämlich sehr brisant, denn damals errangen die DDR-Bürger die Demokratie. Aber was bekommt man, wenn man – wie die AfD – die Demokratie umwälzen will?

„Haben der Oberbürgermeister und die Stadtverwaltung geplant, mit der immer größer werdenden Anzahl friedlicher Spaziergänger ins Gespräch zu kommen? Wenn ja, wann? Wenn nein, ab welcher Anzahl von friedlichen Spaziergängern wird das geschehen?“, lautete diese Frage, die ja auch noch darauf zielte, die fast immer nur wenige hundert Teilnehmer zählenden „Spaziergänge“ auch noch arithmetisch auf die Dimension der Montagsdemonstrationen aufzublasen, zu denen Hunderttausende auf den Ring gingen.

Logisch, dass es an der Stelle gewaltige Unmutsbekundungen im Tagungssaal in der Kongresshalle gab.

Das OBM-Büro hatte sich vorher denkbar zurückgehalten: „Entsprechend dem Sächsischen Versammlungsgesetz § 14 Absatz 1 ist eine Versammlung oder Aufzug unter freiem Himmeln der zuständigen Behörde anzuzeigen. In diesem Rahmen werden Kooperationsgespräche (s. Absatz 5) geführt. Stellt das Ordnungsamt einen unangemeldeten Aufzug fest, wird zunächst eine Ansprech­person ermittelt, die als Versammlungsleiter fungiert. Ist dies nicht möglich, wird ein weiter­gehendes Ordnungsverfahren eingeleitet, das mit dem Verbot der Versammlung und der Auflösung enden kann. Leider zeigen die Erfahrungen der letzten Monate, dass vermehrt kein Ansprechpartner gefunden wird. Weitergehende Gespräche sind nicht geplant.“

Warum auch? Genau an der Stelle geht es um das Rückgrat der Demokratie. Wer wirklich Sorgen um seine Gesundheit hat und sich nicht impfen lassen will, kann die Beratungsangebote des Gesundheitsamtes in Anspruch nehmen. Und niemand kann eine Stadtverwaltung dazu verpflichten, ausgerechnet mit Leuten in Verhandlung zu treten, die die Demokratie und ihre Institutionen so offen ablehnen.

„Klare Kante gegen Rechtsextremismus“, betonte Jung. Und ließ sich dann logischerweise die Gelegenheit nicht nehmen, zur Anmaßung der AfD Stellung zu nehmen, die „Spaziergänge“ ausgerechnet mit der Friedlichen Revolution gleichzusetzen.

Eine Gleichsetzung, die bei den in Sachsen aktiven Rechtsextremen nun seit einigen Jahren Tradition hat. Man erinnere sich nur, wie sie sich sogar den Slogan „Wir sind das Volk“ markenrechtlich schützen lassen wollten. Und friedlich – da hat Jung nun einmal recht – sind die „Spaziergänge“ schon lange nicht mehr.

Die Debatte vom 9. Februar 2022

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