Mit welch seltsamer Philosophie Leipzigs Ordnungsamt die Geschwindigkeitskontrollen in Leipzig und deren Vorab-Veröffentlichung in den Medien begründet, haben wir an dieser Stelle schon mehrfach thematisiert. Eine spannende Frage wäre natürlich gewesen: Was passiert, wen mal keine „Blitzerwarnungen“ veröffentlicht werden? Was ja im vergangenen Winter tatsächlich passierte. Aber als Christoph Meißner, den das Thema seit Jahren umtreibt, bei der Verwaltung anfragte, bekam er ein Paket Watte. Also das Übliche aus dem Ordnungsamt.

Gerade erst lief er nun an, der Prozess um den 2019 an der Leibnizstraße mit mutmaßlich fast 90 km/h von einem Raser überfahrenen 16-jährigen Ruben. Und, wie stets, steht die Frage im Raum, wie man diesen Verkehrstod hätte verhindern, den jetzt vor Gericht stehenden Fahrer wirksam erkennen und aus dem Verkehr hätte ziehen können.Mit welch seltsamer Philosophie Leipzigs Ordnungsamt die Geschwindigkeitskontrollen in Leipzig und deren warnende Vorab-Veröffentlichung vor allem in der LVZ und über Radiostationen begründet, stand bereits zum Jahresbeginn 2021 auf der LZ-Agenda.

Eine spannende Frage musste damals aber offenbleiben: Was passiert, wenn in Leipzig mal eine Weile keine „Blitzerwarnungen“ veröffentlicht werden? Was im vergangenen Winter durch die Corona-Pandemie bedingt tatsächlich stattfand.

Das Ordnungsamt war mit zu vielen Mitarbeitern mit der Durchsetzung der Coronamaßnahmen befasst, konnte neben den fest verbauten Blitzgeräten nur noch mit den anhängerähnlichen „Enforcement“-Messern agieren und veröffentlichte drei Monate lang keine „Blitzermeldungen“ mehr.

Aber als Christoph Meißner, den das Thema seit Jahren umtreibt, bei der Leipziger Stadtverwaltung zu den Ergebnissen anfragte, bekam er erneut ein Paket Watte überreicht.

Die immergleiche Studie ohne Beleg

Auch das Leipziger Ordnungsamt bezieht sich bei seinen Blitzeraktivitäten immer wieder auf die Masterarbeit des Polizeibeamten Mario Sormes vom Juli 2015, mit der Ordnungsbehörden begründen, dass die vorherige Veröffentlichung von Blitzerwarnungen auch einen positiven Effekt im Verkehr hätte.

Oder im Deutsch des Ordnungsamtes Leipzig, wo man „den positiven Effekt der Vorankündigung von Geschwindigkeitsmessungen im Hinblick auf das erfasste Geschwindigkeitsniveau“ als belegt sieht. Und durch die Masterarbeit eine „Präventivwirkung und damit auch die Geeignetheit und Effektivität des Entschlusses, die Einsatzpläne im Tagesmedium veröffentlichen zu lassen“, erkennen möchte.

Was diese Masterarbeit mit all ihren Einschränkungen bei den Messungen im Jahr 2015 schlicht nicht hergibt. Was darüber hinaus den eigentlich erwünschten Langzeit- oder Erziehungseffekt betrifft, sagt die Masterarbeit gar nicht aus.

Aber sie ist dann jedes Mal ein gutes Argument, wenn Bürger tatsächlich wissen wollen, warum die Raser in den Medien gewarnt werden, wenn es mal zu mobilen Verkehrskontrollen kommt. Eine Frage, die allzu berechtigt erscheint, sieht man auf die wissenschaftlich mehrfach begründeten Empfehlungen der Bundesanstalt für Straßenwesen. Diese behauptet nämlich bis heute gültig das Gegenteil.

Der Leipziger „Versuch“

Christoph Meißner wollte nur zu gern erfahren, was das Leipziger Ordnungsamt aus der Zeit gelernt hat, als Anfang 2021 mal drei Monate lang keine Blitzermeldungen in den Medien veröffentlicht wurden.

Doch augenscheinlich fühlt sich also bislang niemand dazu animiert, den Effekt in unabhängigen Messungen zu belegen oder zu widerlegen. Und auch die Chance einer Zusammenstellung der durch die Aussetzung der Blitzer-Warnmeldungen entstandenen Daten bei fortlaufenden Blitzermessungen stationär und via „Enforcement“-Trailer scheint im Ordnungsamt Leipzig niemand zu sehen.

Dabei wurden, so die Beobachtungen Meißners, „die Mitteilungen vom 20.12.2020 bis zum 28.02.2021 ausgesetzt. Die LVZ berichtete erst wieder ab dem 01.03.2021 täglich über die in Leipzig bevorstehenden Geschwindigkeitskontrollen“. Ein Umstand, den das Ordnungsamt bestätigt. Aber Meißner wollte ja auch wissen, inwieweit die Aussetzung der Meldungen die vom Ordnungsamt so steif behauptete These untermauern könnte.

Darauf gab es nur den gnadenlosen Antwortsatz: „Eine inhaltlich evidenzbasierte Antwort auf diese Frage wäre nur dann möglich, wenn die Prämisse, dass zwar Verkehrsüberwachungsmaßnahmen stattfanden, diese aber nicht angekündigt worden sind, zutreffen würde. Dies ist – auch im Kontext der Beantwortung zu Frage 1 – nicht der Fall.“

Machen Blitzermeldungen Autofahrer regeltreu?

„Evidenzbasiert“ klingt zwar irgendwie schön wissenschaftlich, ist es aber nicht. Kein Wunder, dass Meißner nach dieser Nicht-Antwort ziemlich sauer war und dem Ordnungsamtschef Helmut Loris einen Brief schickte.

Mit der nun einmal deutlichen Aussage: „Zur Beantwortung der Frage, ob der von Ihnen als bewiesen dargestellte generalpräventive Effekt der Veröffentlichungspraxis tatsächlich existiert, sind ja die Daten aus den stationären Geräten besonders geeignet, da sie sowohl zu Zeiten mit Ankündigungen und während der Unterbrechung der angekündigten mobilen Kontrollen weiterhin Kontrollen durchgeführt haben. Der in Rede stehende ‚generalpräventive Effekt‘ nimmt ja schließlich an, dass eine Maßnahme bzw. ein Mittel einen nicht nur zeitlich und örtlich begrenzten Effekt habe, sondern sich im Gegenteil flächendeckend auf die Regeltreue der Verkehrsteilnehmer/-innen auswirke.“

Aber die Antwort von Helmut Loris erzählt eben von einem Ordnungsamt, das gar nicht wirklich wissen will, ob Verkehrsüberwachung – ob angekündigt oder nicht – irgendeinen Effekt hat.

„Ein wie von Ihnen gewünschter Vergleich kann daher eben nicht erfolgen, denn dies würde voraussetzen, dass beide Zeiträume betreffs der Rahmenbedingungen relative Homogenität aufweisen. Die Verkehrsüberwachung stellte aber gerade dann die Meldung von avisierten Messstandorten gegenüber der Presse zu dem Zeitpunkt ein, als den Außendienstmitarbeitern wegen zu erwartender Verkehrsflussreduktion anderweitige Aufgaben zugewiesen worden sind“, betont Loris noch einmal.

Wenn der „Mikrostandort“ bekannt wird

Und wagt dann einen durchaus respekteinflößenden Eiertanz, wenn er zu erklären versucht, wie die Geschwindigkeitsüberwachung in Leipzig eigentlich funktionieren soll: „Die stationären Anlagen weisen einen gewissen Gewöhnungseffekt auf, der teilweise zu beobachtendem Anpassungsverhalten der Verkehrsteilnehmer vor Ort führt und dem unregelmäßig mittels Einsatz mobiler Verkehrsüberwachungstechnik unweit des weiteren Straßenverlaufs nach Passieren der stationären Anlage begegnet wird.“

Und „bei Bekanntheit des Mikrostandorts einer Geschwindigkeitsüberwachungsanlage wird unmittelbar zuvor die Geschwindigkeit reduziert, um dann im Anschluss zu beschleunigen. Hier bestehen also verschiedene Parameter, da bei ausbleibendem wöchentlichen Wechsel des Standorts der stationären Überwachungsanlagen diese eben nicht mit Messungen mobiler Charakteristik vergleichbar sind.“

Womit er eigentlich auch die Blindheit der Masterarbeit von Mario Sormes selbst bestätigt: Die Raser bremsen nur auf kurzer Strecke ab, dort, wo sie wissen, dass eine Geschwindigkeitsmessung erfolgt.

Fast schon grotesk wird es, wenn Loris dann auf Warnmeldungen im Netz, unter anderem bei Facebook eingeht. Die Veröffentlichung der Messstellen hier führe dazu, dass es zwar zu einem lokal eingegrenzten Effekt kommt – aber das generelle Raserverhalten nicht wirklich mindert: „Bei Bekanntheit des Mikrostandorts einer Geschwindigkeitsüberwachungsanlage wird unmittelbar zuvor die Geschwindigkeit reduziert, um dann im Anschluss zu beschleunigen.“

Fleißige Weihnachtsraser

Wobei die Zahlen, die Loris mitliefert, verblüffen. Denn zwar wurden erwartungsgemäß in der Woche vom 21. bis 27. Dezember nur 798 Verstöße an stationären Messstellen festgestellt (einer Woche ohne Bekanntgabe in der LVZ), in der Augustwoche vom 2. bis 8. August 2021 aber 1.285. Das würde auch zum verminderten Verkehrsaufkommen im Lockdown-Winter passen.

Aber bei den „Enforcement Trailern“ war es regelrecht umgekehrt, da wurden in der Weihnachtswoche 1.616 Geschwindigkeitsüberschreitungen registriert, in der Augustwoche aber nur 1.034. Natürlich kann das am Standort liegen. Wo das Gerät jeweils stand, hat das Ordnungsamt nicht angegeben. Aber da, wo es im Dezember 2020 stand, wurde augenscheinlich trotz des verminderten Verkehrs eifrig gerast.

Und auch wenn Loris auf die „sozialen Medien“ verweist, bedeutet das nicht, dass sie den Standort eines Enforcement Trailers auch im Dezember 2020 veröffentlichten oder gar die Reichweite klassischer Medien haben. Ganz zu schweigen davon, dass es ein Spartenkanal für Leute ist, die bewusst öfter zu schnell fahren.

Was eigentlich auch bedeutet, dass für die Erhöhung der Verkehrssicherheit die Bekanntgabe der Messstellen keinen Sinn ergibt. Die wirklichen Raser reagieren mit Ausweichverhalten. Und die Zahlen zeigen, dass das nicht allzu wenige sind, die eben nicht ganz selbstverständlich im Tempo-Rahmen bleiben.

„Fingerhakeln mit dem Ordnungsamt: Mit angekündigten Blitzern gegen Raser in Leipzig?“ erschien erstmals am 17. Dezember 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 97 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar