Langsam verändert sich Leipzig. Manchmal so langsam, dass man das Gefühl bekommt, dass alles irgendwie feststeckt. Denn das Tempo lokaler Politik ist ein spürbar anderes als das eines Menschenlebens. Denn als Mensch möchte man eigentlich noch erleben, dass sich wichtige Veränderungen noch im eigenen Leben durchsetzen lassen. So gesehen war am 8. Dezember auch noch einmal zu erleben, wie zwei verschiedene Geschwindigkeiten freundlich aufeinanderprallten zum Thema Chancengleichheit.
Eigentlich ging es eher um eine Anpassung einer wichtigen Fachförderrichtlinie, die der Stadtrat 2017 beschlossen hat, damals so wichtig wie heute. Denn die Wahrheit ist in jedem statistischen Bericht zur Lage von Männern und Frauen zu sehen, in jedem Gremium, in jedem Beteiligungsprozess: Von einer Gleichberechtigung oder gar Chancengleichheit von Frauen und Männern kann in Deutschland keine Rede sein. In Leipzig auch nicht.Und die Corona-Pandemie hat es einmal mehr deutlich gemacht, dass in solchen Krisen die Hauptlast wieder bei den Familien und damit besonders bei den Frauen abgeladen wird. Ganz zu schweigen davon, dass besonders viele Frauen gerade in jenen „systemrelevanten“ Berufen tätig waren und sind, die ihrerseits die Hauptlast der Pandemie-Folgen zu bewältigen hatten.
Der Baufehler steckt tief in unserem Wirtschaftssystem, in nach wie vor funktionierenden patriarchalischen Strukturen und in der Ökonomisierung aller Lebensbereiche.
Das sollte zwar auch die 2017 beschlossene Fachförderrichtlinie für Chancengleichheit ein wenig korrigieren helfen. Aber wo Initiativen immer wieder auf erstarrte Strukturen und ökonomische Mauern prallen, enden die gewollten Veränderungen.
Mit der Einrichtung eines neuen Dezernats ist freilich auch die Verantwortung für die Herstellung von Chancengleichheit für Frau und Mann in eine andere Verantwortung gewechselt. Deswegen musste jetzt auch die Fachförderrichtlinie angepasst werden: „Die gültige Fachförderrichtlinie für Chancengleichheit wurde in der Ratsversammlung am 7. September 2017 beschlossen und im Amtsblatt am 16. September 2017 veröffentlicht“, kann man in der entsprechenden Vorlage lesen, die am 8. Dezember in der Ratsversammlung zur Abstimmung kam.
„Eine Überarbeitung ist aus folgenden Gründen erforderlich: Durch die Neuzuordnung des Referates für Gleichstellung zum Dezernat Soziales, Gesundheit und Vielfalt ergibt sich die Einbindung eines anderen Fachausschusses (Soziales, Gesundheit und Vielfalt). Auf Empfehlung des Beirates für Gleichstellung werden die zuwendungsfähigen Ausgaben um die Position Personalausgaben erweitert. Dabei werden die Erfahrungen bei kommunaler Projektförderung im Kulturbereich berücksichtigt. Die überarbeitete Fassung enthält verschiedene geringfügige (meist redaktionelle) Änderungen und Anpassungen aus Gründen der besseren Praktikabilität.“
Die Diversität der Geschlechterrollen
Eigentlich ein ziemlich trockener Akt, hätte es nicht einen Änderungsantrag gegeben, den ursprünglich die Freibeuter-Fraktion formuliert hatte und den Piraten-Stadtrat Thomas Köhler mit einer kurzen Rede einbrachte. Denn natürlich sind seit 2017 wieder vier Jahre ins Land gegangen und auch in Leipzig hat sich die Diskussion über Geschlechteridentität und Chancengleichheit deutlich erweitert und differenziert.
„Die neu zu beschließende Fachförderrichtlinie für Chancengleichheit von Frau und
Mann erweckt bereits im Titel den Eindruck, dass ausschließlich die Chancengleichheit von Frau und Mann gefördert werden soll. Der Zuwendungszweck der Fachförderrichtlinie hingegen umfasst auch den Abbau geschlechterbezogener Benachteiligungen und damit auch die Förderung von Angeboten für die Chancengleichheit von Menschen aller Geschlechter“, heißt es in der Neufassung des Änderungsantrags, der auch von Linke-Stadträtin Beate Ehms und Die-PARTEI-Stadtrat Thomas Kumbernuß unterstützt wurde.
„Nach Aussagen der Verwaltung gehört die Aufgabe der ‚Gleichstellung von Menschen aller Geschlechter‘ längst zum Verwaltungshandeln, was sich auch in der Neuzuordnung des Referates für Gleichstellung von Frau und Mann zum Dezernat Soziales, Gesundheit, Vielfalt widerspiegelt.“
Eigentlich hatten sie alle drei recht. Das gab Sozialbürgermeister Thomas Fabian in seiner kurzen Stellungnahme auch zu und man habe in der Verwaltung auch intensiv über den Änderungsantrag diskutiert.
Von Gleichberechtigung der Frau kann noch keine Rede sein
Trotzdem bat er darum, den Antrag abzulehnen, denn in der Fachförderrichtlinie gehe es nun einmal um die soziale Rolle der Frau und eben nicht um sexuelle Identität. Und Fakt ist eben auch vier Jahre nach Beschluss der Fachförderrichtlinie, dass kein Teil dieses Papiers seine Gültigkeit verloren hat. Frauen sind in unserer Gesellschaft nach wie vor benachteiligt und Kommunen brauchen zwingend Förderangebote für Projekte, die die soziale und ökonomische Benachteiligung von Frauen zum Thema machen.
Von einem Ende dieser Benachteiligungen kann ja keine Rede sein. So gesehen prallten an diesem Tag wirklich zwei Entwicklungen aufeinander – die zunehmende gesellschaftliche Diskussion über die Diversheit der Menschen, die sich nicht einfach auf die klassischen Rollenbilder von Mann und Frau reduzieren lässt, und die Tatsache, dass der lange Kampf um die Chancengleichheit für Frauen auch im Jahr 2021 noch nicht viel weiter ist als 2017.
Insofern ist die Befürchtung von Thomas Fabian, dass dieses noch immer drängende Thema eher verwässert wird, wenn man es mit der Diversitätsdebatte vermengt, auch berechtigt.
Aber andererseits machte der Änderungsantrag eben auch deutlich, dass auch diverse Menschen oft unter den gleichen oder ähnlichen Benachteiligungen leiden wie die Frauen in ihrer sozialen Rolle. Thomas Köhler verwies dabei auf die noch in Bearbeitung befindliche neue Hauptsatzung der Stadt, wo ein Beschluss der Ratsversammlung von 2020 endlich ihren Niederschlag auch in einer Formulierung wie „Chancengleichheit für Menschen aller Geschlechter“ finden soll. Es wäre also nur logisch, auch die Fachförderrichtlinie so zu benennen.
Ein Frauenbild aus Kaisers Zeiten, schön traditionell
Und das hätte auch die eigentliche Diskussion bleiben können, hätte nicht die AfD-Stadträtin Sylvia Deubel die Gelegenheit genutzt und das Uralt-Frauenbild ihrer Partei zum Podium getragen, um dann von Frauen zu reden, die sich „in ihren tradierten Rollen“ wohlfühlen. Die mag es geben. Aber wie eigentlich bei fast jedem AfD-Vortrag in der Leipziger Ratsversammlung hatte auch dieser nichts mit dem Thema der Vorlage zu tun.
Denn wenn sich diese Frauen in ihrer Rolle so wohlfühlen, werden sie wohl auch nicht den Weg zu den Leipziger Frauenverbänden und Frauenvereinen suchen, die über die Fachförderrichtlinie gefördert werden und Ziele verfolgen wie die „Benachteiligungen von Frauen abzubauen“, „die Teilhabe von Frauen am gesellschaftlichen und kulturellen Leben sowie deren Mitwirkung in entsprechenden Gremien zu fördern“ und „Initiativen und Aktionen zur praktischen Durchsetzung der Chancengleichheit zu entwickeln und durchzuführen“.
Wenn man das liest, merkt man, dass die AfD eigentlich nur eine Frauenrolle propagiert, in der Frauen weder Chancengleichheit fordern noch Gleichberechtigung wünschen. Was ja durchaus legitim ist. Wenn sie sich darin wohlfühlen, ist das ihre Sache. Aber das hat nun einmal nichts mit der Fachförderrichtlinie zu tun, die die städtische Förderung von Fraueninitiativen und -projekten unterstützt, in denen Chancengleichheit das Ziel ist.
In diesem Fall ging freilich keine weitere Rednerin auf die altbackenen Vorstellungen von Sylvia Deubel ein. Einen eigenen AfD-Antrag gab es auch nicht, weil Chancengleichheit nun wirklich kein Thema für diese Fraktion ist.
Da hatte eher der Änderungsantrag von Köhler, Ehms und Kumbernuß eine Chance, der immerhin 21 Ja-Stimmen bekam bei 33 Gegenstimmen. Was zumindest ahnen lässt, dass das Nachdenken über Diversität künftig auch diese Fachförderrichtlinie verändern könnte.
Die geänderte Fachförderrichtlinie selbst bekam mit 46-Ja-Stimmen dann das erwartete Votum. Nur die neun Vertreter der „guten alten Zeit“ stimmten dagegen. Auch weil sie – wie Sylvia Deubel anmerkte – Chancengleichheit eher für die „Bevorzugung einer Minderheit“ halten.
Die Debatte vom 8. Dezember 2021 im Stadtrat
Video: Livestream der Stadt Leipzig
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