Was da heute in der Stadtratsdigitalsitzung ablief, kann man durchaus als ein Rรผckzugsgefecht eines Leipziger Oberbรผrgermeisters bezeichnen, der ganz genau weiร, was er seiner Stadt mit einem ab dem 23. November stattfindenden Weihnachtsmarkt einbrocken dรผrfte. Erst schilderte Burkhard Jung die dramatische Lage der fehlenden ITS-Betten in ganz Sachsen mit โnur noch 38 freiโ und appellierte an die Bevรถlkerung zu erkennen, dass es sich um eine echte Katastrophe handelt, die sich hier anbahnt. Um anschlieรend auf die Frage des AfD-Stadtrates Tobias Keller, ob man bei der geltenden 2G-Regelung โ40 Prozent Ungeimpfte aus der Innenstadt fernhaltenโ wolle, zu antworten, es wรผrde โStichproben des Ordnungsamtes und der Polizei gebenโ. Und: noch kรถnne das Land Sachsen das Treiben ja untersagen.
Tobias Keller ist den LZ-Leser/-innen insofern kein Unbekannter โ fiel er bisher als AfD-Mitglied doch nur mรครig negativ auf und auch sonst hatte er nicht viel im Leipziger Stadtrat beizutragen. Doch heute leistete er wahrhaft Groรes.Indem er mitten hinein in die lauernde Frage, dass derjenige, der jetzt den am kommenden Dienstag startenden Weihnachtsmarkt absagen wรผrde, sowohl Volkes โข Zorn auf sich ziehen und wohl auch noch die ausgefallenen Umsรคtze der Hรคndler/-innen ersetzen dรผrfte, den leicht verschmitzten Hinweis platzierte, dass sich der bunte Jahresend-Rummel schlieรlich durch die ganze Leipziger Innenstadt ziehe.
Was logisch mit sich bringt, dass man hier wohl kaum wirksame Zรคune ums Stadtzentrum legen kรถnnte, also โ40 Prozent Ungeimpfte aus der Innenstadt fernhaltenโ kรถnne, um die von OB Burkhard Jung prรคferierte 2G-Regel abzรผglich Alkoholausschank wirksam werden zu lassen. Dass sich Keller hierbei der Opferperspektive der armen Ungeimpften bediente, gehรถrte zum Parteigeschรคft, sichtliche Sorge รผber die Ausgegrenzten trieb ihn um.
รbers Saufenkรถnnen zumindest wollte er nicht polemisieren, denn schon hier hatte er den Fisch ja an der Angel, wie die Reaktion zeigte.
Burkhard Jung verstieg sich in einer in normalen Zeiten richtigen Replik, dass es an den Buden aber wohl harte Kontrollen von Ordnungsamt und Polizei geben werde, Buรgelder gar und fragte dann, ob es vielleicht fรผr Ungeimpfte irgendwie ok wรคre, selbst im Falle eines Falles darunter leiden zu mรผssen, dass die Krankenhรคuser langsam aber sicher รผberquellen.
Ein Appell an die Vernunft, mit sattem Pathos vorgetragen, oft wirksam in normalen Zeiten. Doch haben wir normale Zeiten?
Umschweife
In der griechischen Dramenkultur gehรถrt Kassandra ganz sicher nicht zur Riege der beliebten Figuren. Das hat sich gehalten, die alten Griechen waren weitsichtig genug zu wissen, dass wer die Tragรถdie voraussagt, auch bei deren Eintreffen keine Liebe vom Volk zu erwarten hat. Bleibt das Unheil hingegen aus, wird man bestenfalls bemitleidet, die Grรผnde fรผr die Warnung sind schnell vergessen. Nicht selten ist auch Hรคme im Spiel.
Das Gegenteil dazu ist โder Fluch der guten Tatโ, das vorsorgliche Handeln, welches die Katastrophe rechtzeitig antizipiert und verhindert, abmildert oder gar in eine positive Entwicklung zu lenken vermag. Hier folgt, nachdem das Drama ausgeblieben war, regelmรครig die anschlieรende Auseinandersetzung mit der sich gern mutig und draufgรคngerisch gebenden โWas-wรคre-wennโ-Fraktion.
Jene Maulhelden also, die am Schutz der Vorsicht teilhaben und ihn gleichzeitig im Namen der โFreiheitโ verteufeln.
Weihnachtsmarkt 2021 in Leipzig
Doch das war 2020, nun sind wir ja ein Jahr weiter und klรผger. Und da gilt es, aus Vergangenem zu lernen und wissend um die reife Natur des Menschen, der parallel noch ein bisschen am Klima seines Heimatplaneten herumexperimentiert, in die Zukunft zu schauen.
Dazu gehรถrt โ jetzt mal ganz unepidemisch und pandemiefrei betrachtet โ eine Besucherzahl von รผber 2,5 Millionen Besucher/-innen, die fรผr gewรถhnlich innerhalb von 30 Tagen durch die Leipziger City hasten, um sich mit Bratwurstsenf einzusauen, Glรผhwein zu verschรผtten und den Rest als wohliges bis erschlagendes Gefรผhl auf den nรคchsten Abort oder vorzeitig aufs Trottoir zu transportieren.
Nein! Um genau das fรผr die Liebsten zu Hause zu kaufen, was es online nicht gibt natรผrlich.
Unterstellen wir also realitรคtsfern, das Saufen fรคllt aus und wird nicht ersetzt durch qualifiziertes Vorglรผhen bei der maskenfreien Zug-Anreise oder das Mitbringen von alkoholisch aufgepepptem Zimt- und Orangenwasser in handelsรผblichen Thermogefรครen mit Schraubverschluss. Dann bliebe noch die Zahl von rund 2,5 Millionen oder besser 83.000 Besucher/-innen am Tag zu filetieren.
Ginge man nun von der durchaus richtigen Annahme aus, dass es sich beim Leipziger Weihnachtsmarkt um eine touristische Attraktion handelt โ also bis auf After-Work-Glรผhweingezeche und ein paar neue Socken kaum Leipziger/-innen anzieht โ kommen wohl traditionell jede Menge Reisebewegungen aus nahe Leipzig gelegenen Gebieten in Gang, wenn sich der Bretterverschlag an den Bรผdchen รถffnet.
Anreisen also bis hinein aus jenen Landstrichen, wo die Todeszahlen gerade frรถhlich steigen und die Intensivstationen nach Personal rufen. Eingedenk der Tatsache, dass Tote fรผr gewรถhnlich nicht viel verreisen, blieben die anderen mit einer durchschnittlichen Impfquote von 42,3 Prozent oder eben 35.109 ungeimpfte Weihnachtsmarktbesucher/-innen. Am Tag, nicht dass hier noch jemand die Zugkraft des Leipziger Marktes kleinredet.
Die ja โ so will es die Leipziger Regel zum Weihnachtsmarktglรผck, dass nur Geimpfte und Genesene Zugang zu den breiter gestreuten Ess- und Trinkbuden erhalten sollen โ da nicht hindรผrfen, wo sie aber nach zwei Jahren Pandemie hinwollen. Was das Ordnungsamt Leipzig und die Polizei auch prรผfen und natรผrlich sanktionieren werden, โan den Budenโ, wie Burkhard Jung angesichts der fehlenden Zรคune meint.
Zumindest kann man (Achtung Thermokanne und Vorglรผhen) getreu dem Motto, dass Hoffnung die Waffe der Machtlosen ist, noch hoffen, dass die alkoholbedingte Renitenz nicht allzu hoch sein wird, wenn dann so ein eingefleischter Impfgegner unter lautem Geschrei erst seinen gefรคlschten Impfpass abgeben und anschlieรend friedlich aber plรถtzlich die Innenstadt verlassen soll. Unter Wahrung des Sicherheitsabstandes von 1,5 Metern und mit Maske versteht sich.
Hofft man nicht, darf man sich bereits jetzt auf kuriose Szenen einstellen. Denn 30 Tage sind lang und die darstellerische Freude am Provozieren vor laufenden Livestream-Handys ist groร in der Szene der โQuerdenkerโ und โImpfkritikerโ. Und so ein Video, wo man ein Kind vom Schoร des Weihnachtsmanns zerrt, dรผrfte pures YouTube-Gold in der Szene der Diktaturbekรคmpfer und ihrer Opferanwรคlte sein.
Dicht gefolgt von einer ordentlichen Massenprรผgelei mit einem Polizeibeamten (werden es zu viele Polizisten, kommen dann die Rufe โFreiheitโ und โLiebeโ).
Antiker Hรถhepunkt
Noch schwieriger wรผrde die vorweihnachtliche Virenlage in Leipzigs Budenstadt natรผrlich nur, wenn nun nach einem Aufbaustopp fรผr den Chemnitzer Weihnachtsmarkt (80 Kilometer Anreise) auch noch andere Weihnachtsmรคrkte im Umland abgesagt wรคren.
Doch in der griechischen Tragรถdie als โansteigende Handlungโ auf den Hรถhepunkt zustrebend bezeichnet: Das sind sie ja lรคngst. Bad Dรผben, Delitzsch, Eilenburg, Taucha, Markkleeberg โ alle die und noch mehr Stรคdte wollen es lieber bleiben lassen mit dem Versuch, auf die Vernunft zu setzen, wo ein Virus den Takt vorgibt. Und ein gerรผttelt Maร der Sachsen angesichts der 42,3 Prozent Ungeimpfter bereits bewiesen haben, dass mit ihrer Einsicht nicht zu rechnen ist, wenn es um die Eindรคmmung eines potenziell tรถdlichen Erregers geht.
Was also soll nun angesichts der erneuten Bekrรคftigung Burkhard Jungs, am Versuch festzuhalten, ab Dienstag kommender Woche tรคglich ein ganzes RB Leipzig-Stadion an Ungeimpften aus der Leipziger City zu zerren, Kassandra noch sagen?
Na, schรถne Weihnachten natรผrlich.
Denn dann wird das Geschenk der ersten drei Wochen Leipziger Weihnachtsmarkt bei den Familien unterm Baum liegen. Und die, die dann nicht da sein kรถnnen, besucht man รผber die Feiertage in der ITS in Brandenburg. Zumindest aktuell sollen da noch Betten mit Beatmungsgerรคt und Herz-Lungenmaschine frei sein.
Die anderen liegen dann nรคher: Noch ist genug Platz auf den Friedhรถfen.
Was fรผr ein Glรผck, dass wohl morgen zur โWeihnachtsmarktfrageโ noch eine Sitzung der Landesregierung Sachsen ansteht. Es scheint fast so, als ob sich doch noch jemand finden kรถnnte, der die Rechnung fรผr die Absage des Leipziger Weihnachtsmarktes zahlen und doch lieber den โFluch der guten Tatโ auf sich laden mรถchte.
Nachtrag der Redaktion: Die Regierungskoalition beschloss am 19. November 2021 die vollstรคndige Aussetzung aller Weihnachtsmรคrkte in Sachsen im Rahmen des Maรnahmenplans zur Bekรคmpfung der Corona-Pandemie in Sachsen.
Hier geht es zum Bericht auf L-IZ.de dazu.
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Es gibt 2 Kommentare
@J Und bis die von Ihnen beschriebene Notlage (โgesellschaftliche Spannungenโ etc.) gelรถst ist, werden Sie sich keine Lebensfreude gรถnnen (gutes Glas Wein oder ein leckeres Abendessen)? Sie wissen schon, der โMoralโ wegen. Sehr lรถblicher protestantischer Genussverzicht. Das wird sicher unsere Probleme lรถsen.
Also wer jetzt auf einen Weihnachtsmarkt geht, ist ohnehin nicht zu retten. Dabei geht es gar nicht darum, dass man sich anstecken kann oder andere anstecken kann. Selbst wenn ich 20x geimpft und genesen wรคr, wรผrd mir da doch der Lebkuchen im Halse kleben. In anbetracht der Situation (Krankenhรคuser, gesellschaftliche Spannungen uws. usf.) ist das einfach moralisch gesehen widerlich, nun da รผber einen Weihnachtsmarkt zu flanieren. Also zumindest in meinen Augen.