In den beiden großen Leipziger Kirchgemeinden St. Nikolai und St. Thomas kocht der Ärger. Die Vorstände der beiden Kirchgemeinden erhielten überraschend kurz vor der Sommerpause im Juli 2021 einen Bescheid des Landeskirchenamtes. Dieser forderte beide Gemeinden auf, zum 1. Januar 2022 eine „Strukturverbindung“ einzugehen. Gemeint ist damit entweder ein sogenanntes „Schwesternkirchverhältnis“ oder mittelfristig sogar eine Fusion der beiden überregional bekannten und unterschiedlich geprägten Kirchgemeinden.
Die amtliche Weisung hätte gravierende Folgen für beide Gemeinden, die das Leben in der Stadt ja seit über 800 Jahren prägen – und zwar sehr unterschiedlich. Gefragt, ob sie überhaupt zusammengehen wollen, wurden sie nicht. Im Gegenteil. Schon 2018 haben sie deutlich gemacht, dass sie ihre Eigenständigkeit bewahren wollen.Schon ein „Schwesternkirchverhältnis“ zieht nach sich, dass es nur noch ein Pfarramt und eine Pfarramtsleitung gibt und nur noch eine der beiden Gemeinden wäre Anstellungsträger für die Mitarbeitenden im Verkündigungsdienst, also Pfarrern, Kantoren, Gemeindepädagogen und gegebenenfalls weiteren das jeweilige Profil prägenden Mitarbeitenden.
Der Bescheid aus dem Landeskirchenamt schlägt ohne Begründung als Sitz des Pfarramtes und als anstellende Gemeinde St. Thomas vor. Die Nikolaigemeinde würde ihre Eigenständigkeit verlieren.
Vertreter/-innen des Kirchenvorstandes von St. Nikolai befürchten nun wahrscheinlich zu Recht, dass die Nikolaikirchgemeinde damit ihren eigenständigen Charakter verlieren würde: „Die rechtliche Verortung von Pfarrer, Kantor und Gemeindepädagogen in einer anderen Gemeinde würde die Bindung an St. Nikolai schwächen und künftige Stellenbesetzungsverfahren könnten nicht mehr von unserem Kirchenvorstand gesteuert werden“.
Und Vertreter/-innen des Kirchenvorstandes von St. Thomas weisen darauf hin, dass sie „angesichts der vielfältigen Aufgaben in beiden Gemeinden eine solche Strukturverbindung für völlig unangemessen“ halten.
„Beide Kirchen haben eine über 800-jährige Tradition und sind als Heimatstätte des Thomanerchors bzw. als Ort der Friedlichen Revolution weltbekannt. Beides miteinander zu vermischen bzw. organisatorisch zu vereinen, würde der Arbeit beider Kirchen massiv schaden. Hier wird ohne Not versucht, eine Strukturveränderung ‚auf Teufel komm raus‘ durchzudrücken, obwohl sich noch nicht einmal (finanzielle) Vorteile daraus ergeben und das Strukturgesetz der sächsischen Landeskirche selbst Ausnahmen vorsieht.“
Beide Kirchenvorstände haben daher jeweils Widerspruch gegen den Bescheid eingelegt. Noch hoffen sie, das Landeskirchenamt zu überzeugen, eine bereits 2018 von der Leipziger Bezirkssynode getroffene Entscheidung endlich zu genehmigen. Denn die Leipziger Bezirkssynode hat bereits 2018 einen Beschluss für einen Struktur- und Stellenplan, der zwei weiterhin eigenständige Gemeinden mit je eigenem Pfarramt vorsieht, gefasst. Aber der Beschluss schmort seitdem im Landeskirchenamt. Und statt ihn zu genehmigen, hat dieses nun die Anweisung zur Verschmelzung der beiden Kirchgemeinden verschickt.
Wenn nötig, sind beide Gemeinden nun entschlossen, weitere rechtliche Schritte gegen den Bescheid des Landeskirchenamtes zu unternehmen. In ihrer Antwort an das Landeskirchenamt haben beide Kirchenvorstände deutlich gemacht, dass sie keine Strukturverbindung zur Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben und auch nicht zur Zusammenarbeit benötigen. Dort, wo sinnvoll und möglich, gebe es bereits Felder der Zusammenarbeit. Der Wegfall eines der beiden Pfarrämter – wahrscheinlich das von St. Nikolai – würde die Aufgabenerfüllung sogar behindern.
Thomaskirchenpfarrerin Britta Taddiken betont: „Neben vielem anderen ist die Thomaskirche vor allem Heimatstätte des Thomanerchors. Neben ihrem geistlichen Auftrag hat die Gemeinde Musik und Bildung zu den Schwerpunkten ihrer Arbeit gemacht.“
Und ihr Kollege Pfarrer Martin Hundertmark ergänzt: „In der nach einer Gemeindefusion vor einigen Jahren zur Kirchgemeinde St. Thomas dazugekommenen Lutherkirche bauen wir seit längerer Zeit ein geistliches Zentrum für den Bildungscampus forum thomanum auf“.
Nikolaipfarrer Bernhard Stief kann aus seinem Wirkungsbereich Ähnliches berichten: „Die Nikolaikirche wird vor allem als Ort der Friedlichen Revolution von 1989 und Ort der montäglichen Friedensgebete wahrgenommen. Sie ist mit über 850 Jahren die älteste und größte Kirche in unserer Stadt und hat eine besondere Tradition als Stadtkirche. Seit der Reformation ist sie durchgehend bis heute Sitz des Superintendenten, eine Tradition, die durch die geforderte Strukturverbindung beendet würde. Zur NikoÂlaikirche gehört seit sieben Jahren auch die Heilig-Kreuz-Kirche im Leipziger Osten, wo sie vor allem an Benachteiligte, Migrant/-innen und junge Menschen gewiesen wird.“
Seit den 1980er Jahren lädt die Nikolaikirche mit dem Slogan „offen für alle“ ein.
Und beide Kirchenvorstände betonen: „Die Nikolaikirche und die Thomaskirche sind Markennamen. Durch ihre je eigenen SchwerÂpunkte haben St. Nikolai und St. Thomas eine breite Wirkungskraft. Diese durch eine unnötige Verkomplizierung der Verwaltungsarbeit durch die Strukturverbindung zu schmälern, kann weder im Interesse der Menschen vor Ort noch der Gesamtkirche sein. Beide Gemeinden würden darunter leiden. Voraussichtlich die Nikolaigemeinde würde mit ihren Schwerpunkten auf der Strecke bleiben.“
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Keine Kommentare bisher
Das Absinnen der Landeskirche ist völlig absurd. Sie kann wahrhaft “stolz” darauf sein, in einer Stadt zwei so prägnante Kirchen mit ganz ganz eigener Prägung zu haben. Ich glaube, das gibt es in Deutschland kein zweites Mal.
Natürlich, Nikolai ist die Armenkirche und dediziert politisch. Wenn irgendwo in der Welt etwas Schreckliches passiert ist, kann ich am selben Tag um 17 Uhr zum spontan angesetzten Friedensgebet gehen.
Ja, die Thomasgemeinde ist elitär – ein offenes Geheimnis. Letztes Jahr habe ich gesehen, wie ein Mitarbeiter (für die Samstagsmotette) einen an der Kirchenwand (und deutlich neben der Eingangstür) sitzenden Obdachlosen weggescheucht hat. Jawohl. Dass sowas an St. Nikolai passieren könnte… undenkbar.
Die Thomasgemeinde ist zu Recht weltberühmt mit ihrer Musikpflege, die auch nicht mit der an St Nikolai zu vergleichen ist. Dort wird einfach Kirchenmusik auf Normalgroßstadtniveau gepflegt.
Ist das wieder so ein Dresden-hasst-Leipzig-Ding, was die Kirchenleitung sich da ausmalt?