So richtig konnte sich am Ende niemand freuen. Die SPD hatte am 26. September zwar die Bundestagswahl gewonnen, aber nicht mit einem so groรen Abstand, dass nun klar wรคre, dass Olaf Scholz der nรคchste Bundeskanzler wird. Die Grรผnen lagen vor einigen Monaten in Umfragen noch bei rund 30 Prozent, stรผrzten nun jedoch auf knapp 15 Prozent ab โ was immer noch das mit Abstand beste Ergebnis bei einer Bundestagswahl darstellt. Und die FDP lag am Ende bei 11,5 Prozent โ also wieder zweistellig, aber auch nicht auรergewรถhnlich hoch.
Andererseits kam es fรผr die drei โWahlverliererโ nicht zum Worst-Case-Szenario. Die Linkspartei bleibt trotz ihres Scheiterns an der Fรผnf-Prozent-Hรผrde dank dreier Direktmandate im Bundestag, die AfD verliert Zuspruch, bleibt aber zweistellig und dominiert im Osten manche Gegenden, und die Union stรผrzt im Vergleich zur vorangegangenen Wahl erneut um fast zehn Prozentpunkte nach unten, landet letztlich aber nicht bei 19 Prozent โ wie es Umfragen kurz vor der Wahl in Aussicht stellten โ, sondern โimmerhinโ bei 24.Fรผr die Parteien ergaben sich aus dem Wahlergebnis bislang teils unterschiedliche Konsequenzen, doch eines folgte โ Stand Mittwoch, 29. September โ noch nicht: ein hochrangiger Rรผcktritt. Selbst beim grรถรten Wahlverlierer โ der CDU โ klammert sich der Spitzenkandidat noch immer an die Hoffnung, am Ende doch als Sieger, also als Kanzler in einer Jamaika-Koalition, vom Platz zu gehen. An Rรผcktrittsforderungen mangelt es dabei nicht.
So sollen laut Medienberichten in der ersten Fraktionssitzung nach der Wahl mehrere Abgeordnete genau das gefordert haben. Auch der Leipziger CDU-Direktmandatssieger Jens Lehmann dรผrfte sich so etwas vorstellen, wenn er gegenรผber der LZ von einem โpersonellenโ Neustart spricht. Der sรคchsische Landesverband der Jungen Union formulierte es hingegen eindeutig: Laschet soll zurรผcktreten. Hier hofft man vermutlich auf eine Zukunft mit Friedrich Merz an der Spitze.
Generell steht in der sรคchsischen Union einiges auf dem Prรผfstand. Die Zeiten, in denen im Freistaat erst die CDU kam und dann lange nichts mehr, scheinen vorbei. So kamen die Christdemokraten in Sachsen nicht nur erneut hinter der AfD ins Ziel, sondern diesmal sogar hinter der SPD. In den ersten Tagen nach der Wahl deutete sich an, dass die CDU mit einem Rechtsruck auf dieses Ergebnis reagieren kรถnnte โ was unter anderem die Koalition auf Landesebene mit SPD und Grรผnen vor neue Herausforderungen stellen kรถnnte.
Vor solchen steht auch Marco Wanderwitz, der Spitzenkandidat der sรคchsischen CDU bei der Bundestagswahl. Dieser wurde โ angeblich auf Anweisung des Ministerprรคsidenten Michael Kretschmer โ nicht erneut zum Vorsitzenden der sรคchsischen Landesgruppe im Bundestag gewรคhlt. Wanderwitz hatte sich im Wahlkampf nicht nur von der AfD klar abgegrenzt, sondern auch von deren Wรคhler/-innen.
In einem Interview mit der LVZ kurz nach der Wahl sagte Kretschmer dazu: โEs haben sich Menschen von Herrn Wanderwitz stigmatisiert und angegriffen gefรผhlt. Das war mit Sicherheit nicht so gemeint, aber das gehรถrt zu dieser Geschichte des Wahlkampfs mit dazu.โ In den sozialen Medien solidarisierten sich daraufhin viele Personen aus dem Mitte-Links-Lager mit Wanderwitz oder kritisierten zumindest, dass die sรคchsische CDU ausgerechnet jenen Mann ins Abseits stelle, der โ mit teils drastischen Worten โ auf Probleme im Freistaat hingewiesen habe.
Dass es diese Probleme gibt, zeigt auch das aktuelle Wahlergebnis. Erneut wurde die AfD stรคrkste Kraft in Sachsen, verlor jedoch einige Prozentpunkte. Am Ende reichte es fรผr zehn Direktmandate in 16 Wahlkreisen. Die restlichen Direktmandate teilten CDU (4) sowie SPD und Linke (jeweils 1) untereinander auf. Jenes fรผr die Linke verortete sich erneut im Leipziger Sรผden, wo Sรถren Pellmann gewinnen konnte (Anm. d. Red.: Mehr zu AfD und Linkspartei gibt es in unserer Titelstory sowie auf den Seiten 7 und 8).
Knapp 23 Prozent der Stimmen reichten Pellmann fรผr den Sieg in Wahlkreis 153. Danach folgten Paula Piechotta (Grรผne), Nadja Sthamer (SPD) und Jessica Heller (CDU) mit jeweils geringem Abstand zueinander. Neben Pellmann konnten sich auch Piechotta und Sthamer den Einzug in den Bundestag sichern โ รผber die Landesliste. Verliererin des Wahlabends im Sรผden war somit eindeutig Heller. In einem Wahlkreis, den die CDU vor nicht allzu langer Zeit noch gewinnen konnte, reichte es nun nur noch fรผr Platz 4. Vor allem auf die Wรคhler/-innen im Sรผden und Innenstadt-nahen Osten konnte sich Pellmann verlassen.
Es gab somit auch nicht den auf anonymen Flyern behaupteten Zweikampf zwischen Pellmann und Heller, mit dem dafรผr geworden wurde, dem Linke-Kandidaten die Erststimme zu geben, um das CDU-Direktmandat zu verhindern. Dass am Ende sogar die SPD-Kandidatin vor Heller landete, dรผrfte viele รผberrascht haben. Als Stadtrรคtin ging Heller eigentlich mit einem Bekanntheits-Bonus ins Rennen.
Im Gegensatz zum Sรผden war es im Leipziger Norden lange Zeit offen, wer das Direktmandat gewinnt. CDU-Kandidat Jens Lehmann hatte es mit rund sieben Prozentpunkten Vorsprung vor der AfD vor vier Jahren gewonnen und galt auch dieses Mal als klarer Favorit. Doch bis in die spรคten Abendstunden lag sein Vorsprung vor SPD-Kandidat Holger Mann nur bei wenigen hundert Stimmen. Dabei sollte es auch bis zum Ende bleiben. Lehmann holte 20,5 Prozent der Stimmen, Mann 20,2 Prozent. Im Bundestag sind beide โ Mann war als Spitzenkandidat der sรคchsischen SPD mit Listenplatz 1 quasi abgesichert. Der AfD-Kandidat Christoph Neumann landete dieses Mal nur auf dem dritten Platz.
Fรผr ihn und den AfD-Sรผd-Kandidaten Siegbert Droese war es kein schรถner Wahlabend. Dass sie die Direktmandate nicht gewinnen wรผrden, war klar. Doch mindestens Droese dรผrfte sich mit Listenplatz 3 sicher im Bundestag gesehen haben. Ihm und Neumann wurden jedoch die vielen Direktmandate der AfD in Sachsen zum Verhรคngnis. Die Listenplรคtze kamen somit gar nicht erst zum Einsatz. Statt zwei AfD-Bundestagsabgeordneten aus Leipzig ist es nun gar keiner mehr.
Was die Direktkandidat/-innen zum Wahlausgang sagen:
Die LZ hat die wichtigsten Direktkandidat/-innen in den beiden Leipziger Wahlkreisen am Tag nach der Bundestagswahl um eine kurze Einschรคtzung zum persรถnlichen Ergebnis, zum Abschneiden der Partei und zu den anstehenden Koalitionsverhandlungen gebeten.
SPD: Erwartungsgemรคร begeistert sind Holger Mann und Nadja Sthamer. Letztere sei โtotal รผberwรคltigtโ davon, in den Bundestag einzuziehen, und sieht die Ausgangslage fรผr die Koalitionsverhandlungen โextrem offenโ. Fรผr Mann sei aber klar, dass die Union nun in die Opposition gehen mรผsse. Besonders freue ihn, dass die SPD in Sachsen beim Zweitstimmenergebnis sogar noch vor der CDU gelandet ist. Im Wahlkampf habe sich seine Partei โnicht beirren lassenโ.
Grรผne: Marie Mรผser und Paula Piechotta zeigen sich sehr zufrieden mit dem persรถnlichen Ergebnis. Im Nordwahlkreis hรคtten die Grรผnen sowohl bei Erst- als auch bei Zweitstimme ihr Ergebnis jeweils verdoppelt, betont Mรผser. Piechotta spricht von einem โmassiven Zuwachs mit einer neuen Kandidatinโ im Sรผden. In Anbetracht des besten Zweitstimmenergebnisses mรผsse in vier Jahren im Sรผden das Direktmandat das Ziel sein. Beide kรถnnten sich eine Koalition mit der CDU kaum vorstellen; fรผr Piechotta wรคre Rot-Grรผn die beste Variante gewesen. Laut Mรผser sind die Grรผnen im Bund โunter den Mรถglichkeiten gebliebenโ.
FDP: Renรฉ Hobusch und Peter Jess freuen sich, dass die Liberalen auf Bundesebene erneut ein zweistelliges Ergebnis erzielt haben. Es hรคtte allerdings โnoch etwas stรคrker sein kรถnnenโ, meint Hobusch, der zudem sein persรถnliches Ergebnis nicht bewerten mรถchte. Er sei angetreten, โum der FDP ein Gesicht zu gebenโ. Jess verweist darauf, dass das Erststimmenergebnis in seinem Wahlkreis besser als vor vier Jahren ist. Er habe sich dennoch โmehr erhofftโ. Bei den Koalitionsverhandlungen hofft er auf eine โAmpelโ, in der alle Parteien ihre Schwerpunkte (Soziales, Klima, Wirtschaft) einbringen kรถnnen.
Linke: Nordkandidatin Nina Treu ist mit dem 4. Platz bei den Erststimmen โmittel zufriedenโ. Was immerhin noch besser ist als das Abschneiden der Linken auf Bundesebene, das sie als โdesastrรถsโ bezeichnet. Sowohl in Bezug auf einen laut Treu guten Wahlkampf als auch fรผr linke Krรคfte auรerhalb des Parlaments, die eine starke Linksfraktion brรคuchten, sei das Ergebnis โerschreckendโ. Sรถren Pellmann, der erneut das Direktmandat im Sรผden gewinnen konnte, blickt mit einem โlachenden Augeโ auf das Ergebnis in seinem Wahlkreis und mit einem โweinenden Augeโ auf jenes im Bund.
CDU: Jens Lehmann, der das Direktmandat im Leipziger Norden knapp verteidigen konnte, zeigt sich โsehr zufriedenโ. Die Wรคhler/-innen hรคtten den โEinsatz, den ich gebracht habeโ, anerkannt. Das Ergebnis der CDU auf Bundesebene sei jedoch โenttรคuschendโ und mรผsse Konsequenzen haben. Nรถtig seien โklare Worteโ sowie ein โinhaltlicher und personeller Neuanfangโ in der Opposition. Jessica Heller, Direktkandidatin im Leipziger Sรผden, antwortete trotz mehrfacher Nachfrage nicht.
โBundestagswahl 2021: Niemand verliert oder gewinnt so richtigโ erschien erstmals am 1. Oktober 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 95 der LZ finden Sie neben Groรmรคrkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehรคndlern.
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