Die kommende Bundestagswahl dürfte spannend werden – auch in den beiden Leipziger Wahlkreisen. Etwas mehr als zwei Monate vor der Wahl hat sich die Leipziger Zeitung (LZ) mit Kandidat/-innen aus dem nördlichen Wahlkreis 152 zum Gespräch getroffen. Im zweiten Teil des Interviews mit Nina Treu spricht die Kandidatin der Linkspartei über den von ihr gegründeten Verein Konzeptwerk Neue Ökonomie, über ihre Kritik an konservativer Klimapolitik und darüber, wie konkret ein Systemwandel ablaufen könnte.
Sie haben 2011 das Konzeptwerk Neue Ökonomie in Leipzig mitgegründet. Was genau machen Sie dort?
Wir sind ein gemeinnütziger Verein, der für eine soziale, ökologische und demokratische Wirtschaft kämpft. Ich habe in den ersten zehn Jahren dort viel Verantwortung übernommen in sehr zentraler Rolle, aus der ich dann letztes Jahr heraus bin, um den bereits besprochenen Brückenschlag in die Politik zu machen.Der Fokus des Konzeptwerks liegt auf Bildungsarbeit – und zwar auf einer Bildungsarbeit, die nicht nur die Denkweise beeinflusst, sondern auch die Handlungs- und Fühlweisen. Wir besuchen beispielsweise eine Solidarische Landwirtschaft oder ein Repair-Café, also Orte von sozial-ökologischem Wandel. Außerdem organisieren wir Großveranstaltungen, beispielsweise Degrowth-Sommerschulen auf Klimacamps, wo Menschen aus der Bildungsarbeit, aus der Wissenschaft und aus sozialen Bewegungen zusammenkommen.
Wir versuchen, Leute dazu zu befähigen, das jetzige System zu hinterfragen. Zu mir kommen jetzt noch Leute, die an unseren Veranstaltungen teilgenommen haben, und sagen zu mir: Das hat damals mein Leben verändert!
Es geht Ihnen darum, das kapitalistische System abzuschaffen. Diese Umwälzung soll laut Ihren Vorstellungen friedlich und unter Beteiligung aller Gesellschaftsschichten stattfinden. Wie genau soll das ablaufen, wenn laut aktuellen Umfragen zwei Drittel der Menschen in Deutschland Parteien wählen, die das kapitalistische System beibehalten oder gar stärken wollen?
Erstmal: Wahlberechtigung und Wahlbeteiligung ist nicht gleich Bevölkerung. Es gibt Statistiken, die sagen, dass die Linke einen viel größeren Anteil hätte, wenn alle Menschen, die in Deutschland leben, wahlberechtigt wären. Ich denke da an Menschen mit Migrationshintergrund, jüngere Menschen, Menschen mit psychischen Krankheiten und so weiter. Das ist naheliegend, weil die Linke sich ja genau für die Menschen einsetzt, die benachteiligt sind.
Außerdem sind viele Menschen, die tendenziell die Linke wählen würden, Nichtwähler/-innen. Das sind Menschen, die total benachteiligt sind, aber denken, es lohnt sich nicht mehr, für Gerechtigkeit zu kämpfen.
Ich glaube nicht, dass zwei Drittel der Menschen nicht bei dem mitmachen wollen, was ich machen will. Ich glaube, dass die meisten Menschen ein anderes System wollen. Die haben bloß keine Ahnung, wie der Systemwandel ablaufen soll, weil unsere Vorschläge nicht durchdringen. Da müssen wir auch über die deutsche Medienlandschaft sprechen. Linke Themen sind in den meisten größeren Medien unterbelichtet.
Wenn ich an den Spiegel denke, sehe ich schon eine Standard-Palette linker Themen.
Ja, aber der Spiegel ist ja auch keine sehr linke Zeitung. Die Frage ist auch, wie gut sind Leute informiert, wer liest überhaupt noch Zeitung.
Dass die Linke es schwer hat, ist eher dem Erfolg der Rechten, also der Konservativen, geschuldet. Dieser Erfolg zeigt sich in allen Bereichen: Wir leben in einem neoliberalen, intransparenten System, in dem die Macht des Marktes ausgebaut wird und der Staat zurückgebaut wird. Es ist total schwierig, als Linke dagegenzuwirken.
Um auf Ihre Frage zu Theorien vom Umbau oder Umsturz zurückzukommen: Ich glaube, die klassische Revolution, wie Lenin es gemacht hat – ins Exil gehen und Schlachtpläne schmieden –, wird es heutzutage bei uns nicht mehr geben. Wir leben schon in einer Demokratie, in der viele Menschen mitentscheiden können.
Wenn es innerhalb dieses Umbaus dann Nazi-Aufmärsche oder andere faschistische Tendenzen gibt, kann es natürlich passieren, dass Leute dagegen Widerstand leisten. Oder sich auch anderen Entwicklungen entgegenstellen, Stichwort Ende Gelände. Wenn die lokale Bevölkerung dann sagt, ja, die kämpfen auch für uns, dann wäre schon viel gewonnen. Deshalb lohnt es sich, auf allen Ebenen dafür zu kämpfen, möglichst viele Leute mitzunehmen. Auch wenn es keinen konkreten Plan gibt.
Ich finde es auch deswegen schwierig vorherzusagen, weil gesellschaftliche Veränderungen so schwer vorherzusagen sind. Corona ist ein gutes Beispiel dafür. Klar, es haben ein paar Expert/-innen davor gewarnt, dass es Pandemien geben wird, aber richtig vorbereitet war keiner.
Studien vom Bundesamt für Katastrophenschutz sagen, dass es bei uns zu massiven Stromausfällen kommen könnte, beispielsweise, wenn es zu Überschwemmungen kommt – wie jetzt im Westen. Sollte das entlang wichtiger Stromtrassen passieren, dann könnten wir tagelang in Deutschland keinen Strom haben. Dann funktioniert bei uns nichts mehr, dann gehen nicht mal mehr Türen auf.
Obwohl diese Studien existieren, können sich viele Menschen so etwas nicht vorstellen, bis es passiert.
Das ist das Erschreckende. Ich mache diese Arbeit seit 20 Jahren. Vor 20 Jahren hat man auch schon gesagt, dass wir etwas gegen den Klimawandel tun müssen, und dann ist viel zu wenig passiert. Die Hitzewellen und Überflutungen zeigen, dass wir jetzt mittendrin sind. Das wird unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren massiv beeinflussen.
Lassen Sie uns zum Abschluss kurz über den Wahlkampf sprechen. Jens Lehmann von der CDU ist Ihr Hauptkonkurrent. Er ist innerhalb der CDU klimapolitisch eher progressiv unterwegs, hat zum Beispiel als erster CDU-Abgeordneter das Klimaversprechen von GermanZero unterschrieben. Was setzen Sie ihm entgegen?
Lehmann habe ich bisher bei einer Podiumsdiskussion erlebt. Er hat dabei die schlechte Klimapolitik der Union versucht dadurch zu kaschieren, dass er seinen persönlichen klimafreundlichen Lebensstil betont hat. Ich weiß nicht, ob es eine Ausweichtaktik von Lehmann ist, oder ob er wirklich glaubt, dass wir vorankommen, wenn nur die Leute, die es sich leisten können, individuell etwas an ihrem Leben ändern.
Seit meinem zehnten Lebensjahr bin ich Vegetarierin und habe kein Auto. Natürlich bin ich dafür, dass Leute das, was sie individuell ändern können, auch ändern. Aber es gibt eben Leute, die auf dem Land leben und ohne Auto nicht auskommen.
Ich habe das Gefühl, Lehmann spielt das gegeneinander aus. Genau das kritisiere ich an konservativer Politik. Wir müssen die Menschen als Bürger/-innen begreifen, die kollektiv ihre Gesellschaft gestalten wollen, und nicht als Konsument/-innen.
Der Wahlkreis Leipzig-Nord ist sehr konservativ, weshalb es viel wahrscheinlicher ist, dass Herr Lehmann gewinnt. Was ich ihm aber entgegensetzen kann, ist ein sehr bewegungsnaher, aktivierender Wahlkampf. Unglaublich viele junge Menschen sind begeistert von meiner Kandidatur. Ob das reichen wird, im Norden zu gewinnen, werden wir im September sehen.
Den ersten Teil des Interviews können Sie hier nachlesen.
Auf dieser Seite sammeln wir alle Interviews mit den Kandidat/-innen.
In der kommenden Print-Ausgabe der Leipziger Zeitung (LZ) (erhältlich ab Freitag, dem 30. Juli) finden Sie einen Schwerpunkt zur Bundestagswahl.
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Es gibt 3 Kommentare
Der “Spiegel” ist schon seit Jahrzehnten kein “linkes” Blatt mehr. Machtstrukturen werden da nicht groß in Frage gestellt.
> Was ich ihm aber entgegensetzen kann, ist ein sehr bewegungsnaher, aktivierender Wahlkampf.
Was wäre bloß an Bewegung an Aktivierung bei den Wählern, wenn eine Partei konkret sagen würde: “Mit uns kein generelles Tempolimit 130, kein generelles Tempo 30 in den Ortschaften und die Zusage, dass mit uns kein Gendern per Sonderzeichen in Ministerien, Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen umgesetzt wird.”
Bewegungsnah und aktivierend. Ich bin dabei!
> Seit meinem zehnten Lebensjahr bin ich Vegetarierin und habe kein Auto
Die Armeen aus Gummibärchen
Die Panzer aus Marzipan
Kriege werden aufgegessen
Einfacher Plan
Kindlich genial
Es gibt kein Gut
Es gibt kein Böse
Es gibt kein Schwarz
Es gibt kein Weiß
Es gibt Zahnlücken
Statt zu unterdrücken
Gibt’s Erdbeereis auf Lebenszeit
Immer für’ne Überraschung gut
” Es gibt Statistiken, die sagen, dass die Linke einen viel größeren Anteil hätte, wenn alle Menschen, die in Deutschland leben, wahlberechtigt wären.” Diese Aussage ist wirklich revolutionär soweit hat noch keiner gedacht, bisher gab es immer die 16-Jahre-Grenze. wirklich lebensnahe Realpolitik nicht sowas was die Sahra W. macht. “Seit meinem zehnten Lebensjahr bin ich Vegetarierin und habe kein Auto.” – klare Ansage, ich hatte sogar mehrere, Matchbox. Und dann noch die Abschaffung des Kapitalismus mit friedlichen Mitteln.