Seit nunmehr zehn Jahren wütet in Syrien der Krieg – traumatische Szenen, Gewalt und ein willkürliches Regime bestimmen den Alltag. Über eine Million Schutzsuchende sind bisher allein nach Deutschland gekommen. Bereits 2009 entschloss sich die Stadt Leipzig dazu, einen Migrantenbeirat zu gründen. Dieser Fachbeirat soll im Stadtrat die Belange und Sichtweisen von Migrant/-innen vertreten und besteht aus 22 Mitgliedern – sechs Fraktionsvertreter/-innen und 16 Personen mit Migrationshintergrund.
Als Resultat der zunehmenden Fluchtbewegungen 2015 und 2016 beschäftigte sich der Migrantenbeirat in den vergangenen Jahren vor allem mit der Integration der neuen Leipziger/-innen. So wurden für städtische Bedienstete beispielsweise Weiterbildungen eingeführt, die interkulturelle Kompetenzen vermitteln.
Außerdem wurden eine migrationspolitische Stunde in den Ratsversammlungen eingeführt, mehr Wohnraum für Geflüchtete geschaffen und Übersetzer/-innen für psychiatrische Behandlungen angestellt. Das Fazit im Tätigkeitsbericht: Die Situation der Migrant/-innen und die Zusammenarbeit mit Stadtverwaltung und Fraktionen konnte deutlich verbessert werden; es gibt aber immer noch Verbesserungsbedarf. Ende März wurden nun die Mitglieder des neuen Beirates gewählt – im Sommer beginnt dieser seine Arbeit. Juliane Nagel (Linke) ist als Fraktionsvertreterin seit 2015 im Migrantenbeirat. Zu den bevorstehenden Jahren kommentiert sie: „Der Blick wird sich von Geflüchteten explizit auf die Belange aller Menschen mit Migrationsgeschichte weiten.“
Die gewählten Mitglieder mit Migrationshintergrund spiegeln mit ihren verschiedenen Geschichten die Vielfalt Leipzigs wider. Doch sie alle haben ein Ziel, das Yameli Gomez Jimenez, gebürtige Mexikanerin und neue Beirätin, zusammenfasst: „Wir wollen das falsche Konzept von Integration bekämpfen, welches Rassismus und Diskriminierung erzeugt. Danach sollen Migrant/-innen sich einer Gesellschaft komplett anpassen, anstatt ein Teil der Gesellschaft zu werden.“
Für die Anthropologin und Grafikdesignerin, die seit sieben Jahren in Deutschland lebt, kristallisiert sich vor allem in Leipzig und Ostdeutschland ein Problem heraus: „Die Bürger/-innen, die weniger haben, fühlen sich ausgeschlossen und vernachlässigt – was ganz normal ist. Dann kommt aber der externe Faktor der Migrant/-innen hinzu.
Die Regierung erwähnt, dass sie diese unterstützen und das erzeugt einen Klassenkampf zwischen den deutschen Personen mit geringem Einkommen und den Migrant/-innen, was Rassismus und Diskriminierung erzeugt.“ Dass rechte Bewegungen erstarken, sei besorgniserregend – auch wegen der Auswirkungen auf den Alltag der Menschen mit Migrationshintergrund.
Doch nicht nur Rechtsextremismus stellt ein Problem im Leben von Migrant/-innen dar, wie Chinonye Odor erklärt. Die gewählte Beirätin kommt aus Nigeria und macht derzeit ihren Master in Erneuerbaren Energien. In ihrer Stellung als Projektkoordinatorin beim Verein CASEED Leipzig, welcher Personen mit afrikanischem Migrationshintergrund unterstützt, sieht sie auch in der Alltagsbewältigung massive Hürden: „Eines der Hauptprobleme ist der mangelnde Zugang zu richtigen Informationen und die diskriminierende Tendenz in Institutionen, die von einigen Personen ausgeübt wird.“
Mohammad Okasha, geboren in Ägypten und Vorstandsmitglied im sächsischen Flüchtlingsrat, stimmt Odor zu: Der Fokus sollte darauf liegen, institutionellen und strukturellen Rassismus zu beheben. „Hinzu kommt die fehlende politische Teilhabe der Migrant/-innen. Sie sind in den Stadträten und der Stadtverwaltung leider zu wenig vertreten, obwohl sie einen großen Teil der Gesellschaft ausmachen“, so Okasha.
Und auch beim Thema Bildung gibt es viel Verbesserungsbedarf, wie er an einem Beispiel erläutert: „Es gibt eine Regel in der Uni Leipzig, dass ,Drittstaatler/-innen‘ keinen Doppelmaster machen dürfen, nur Deutsche und EU-Bürger/-innen. Für diesen und andere Fälle sollte ein Beschwerdemanagement bei der Ausländerbehörde eingeführt werden, damit die Menschen eine Tür haben, an die sie klopfen können.“
Die gebürtige Italienerin Francesca Russo lebt seit fünf Jahren in Leipzig. Als Fachärztin für Neurologie erfährt sie tagtäglich, neben den gravierenden Problemen in der politischen Teilhabe, in der Verwaltung und dem Bildungsbereich, die Mängel im Gesundheitswesen: „Menschen mit internationaler Geschichte bekommen trotz Mitgliedschaft in einer Krankenkasse oft keine medizinische Behandlung auf regulärem Wege. Insofern sind sie oft unterversorgt und müssen auf ihre Ersparnisse zurückgreifen, um eine ambulante Behandlung als Selbstzahler/-innen zu bekommen.“
Außerdem scheitere die Kontaktaufnahme mit dem Gesundheitssystem oft aufgrund eines eingeschränkten Wortschatzes, was medizinische Begriffe angeht, so Russo: „Im Gesundheitssystem ist das Angebot von Behandlungen in fremden Sprachen oder zumindest in Englisch verschwindend gering. Und gerade bei sensiblen und speziellen Themen wie bei der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung ist die Sprache besonders relevant.“
Dort will Russo durch den Migrantenbeirat etwas bewirken: „Vor allem die Zugänglichkeit zum Gesundheitssystem und die Präsenz von Menschen mit internationaler Geschichte im Leipziger Gesundheitswesen sind mir wichtige Anliegen.“ Yameli Gomez Jimenez möchte vor allem die kulturellen und politischen Integrationsangebote in den Blick nehmen: „Ich möchte mich für interkulturelle Aktivitäten in Kindergärten und Schulen sowie Kulturveranstaltungen in Leipzig und speziell in Flüchtlingsunterkünften stark machen. Außerdem sollten die Migrantenbeiratssitzungen verdolmetscht werden, um Migrant/-innen auch hier die Teilhabe zu ermöglichen.“
Der Bildungssektor stellt auch für Chinonye Odor einen essenziellen Aspekt dar: „Mein Ziel im Migrantenbeirat ist es, eine nachhaltige Integration zu ermöglichen. Daher kämpfe ich für sozioökonomisches Empowerment und einen besseren Zugang zu Bildung für Migrant/-innen.“
Juliane Nagel (Linke) greift in ihrer Antwort noch einmal den im Tätigkeitsbericht erwähnten Verbesserungsbedarf auf: „Es gab über die Jahre immer wieder Konflikte zwischen Migrantenbeirat und Stadtverwaltung. Ich hatte zum Teil den Eindruck, dass Teile der Stadtverwaltung keinen so starken Beirat wollen, der sich selbstbewusst in Debatten einbringt und auch Forderungen formuliert. Bei der Wahl wurde die Position des Beirates mehrfach missachtet.“
Seit einiger Zeit ist der Migrantenbeirat im Dezernat Soziales/Vielfalt verortet und nicht mehr im Verwaltungsdezernat angesiedelt – was für eine merkliche Entspannung gesorgt habe, so Nagel: „Ich denke, dass der neue Beirat auch mit einem neuen Selbstbewusstsein auftreten wird und eine Zusammenarbeit insbesondere mit der Verwaltung jetzt stärker auf Augenhöhe gut funktionieren kann.“
Die Stadträtin hat für die kommenden Jahre auch einige zielstrebige Pläne im Migrantenbeirat: „Für mich gibt es zwei weitere wichtige Themen: Abschiebung und demokratische Teilhabe. Die restriktive Abschiebepolitik Sachsens mit permanenten Grundrechtsverletzungen muss ein Ende haben.
Außerdem wünsche ich mir, dass auch Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft bei den öffentlichen Wahlen wählen dürfen und viel stärker in den Parlamenten vertreten sind.“ Bis dahin müsse es eine vordringliche Aufgabe des neuen Beirates sein, die sehr verschiedenen migrantischen Communities in Leipzig zu erreichen und zu aktivieren.
„Millionen eine Stimme geben“ erschien erstmals am 30. April 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG.
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